Was macht eine gute Führungskraft aus? Im Bereich der Personalentwicklung und im Coaching ist dieses Thema hochrelevant, zielt doch Führungskräfte-Coaching darauf ab, Führungsverhalten zu verbessern. Wenn man nur ein wenig tiefer in dieses Thema eintaucht, stößt man neben unterschiedlichen Erwartungshaltungen an gute Führungskräfte auch sehr rasch auf die Diskussion, ob es nun eher um bestimmte (stabilere) Persönlichkeitseigenschaften geht, die eine gute Führungskraft ausmachen, oder ob der Fokus eher auf bestimmten (erlernbaren) Verhaltensweisen liegt. Bereits in den Jahren des Taylorismus waren die sogenannten „Great Man Theorien“ ein Erklärungsansatz, um bestimmte Persönlichkeitsmerkmale von erfolgreichen Führungskräften zu definieren. Man nahm an, dass diese Eigenschaften überwiegend angeboren seien und daher Führungskompetenz quasi in die Wiege gelegt werde – oder eben auch nicht. Jüngere Führungsansätze wie beispielweise Situatives Führen fokussieren hingegen ausschließlich bestimmte Verhaltensweisen, die in unterschiedlichen Situationen zum Erfolg führen.
Allerdings zeigen sowohl die Lebenserfahrung als auch unzählige psychologische Studien, dass Persönlichkeit und Verhaltensweisen zwei Aspekte sind, die untrennbar miteinander verbunden sind. Auch im Bereich der Führungsforschung wird der Einfluss der Persönlichkeit auf das Führungsverhalten mehrfach bestätigt (Judge et al., 2002). Die Ergebnisse dieser Studien belegen, dass die Persönlichkeitseigenschaften von Führungskräften wesentlich mit Führungsverhalten zusammenhängen. Im Rahmen des hier vorgestellten Projekts wurde daher der Frage nachgegangen, inwieweit die Persönlichkeit der Führungskraft mit Positive-Leadership-Führungsverhalten zusammenhängt.
Für die Erhebung wurden den Teilnehmern der NEO-FFI (Costa & McCrae, 1992) sowie eine Kurzversion der PERMA-LEAD-Potenzialanalyse (Ebner, 2016) als Online-Version vorgegeben. Der NEO-FFI ist ein häufig verwendetes psychologisches Testinstrument, um die Ausprägung in fünf Persönlichkeitsmerkmalen (BIG Five oder auch 5-Faktoren-Modell) zu messen. Dabei handelt es sich um Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit (Goldberg, 1990). Im Rahmen der psychologischen Forschung wird dieses Verfahren in unzähligen Studien verwendet – das BIG-Five-Modell stellt den Goldstandard der psychologischen Persönlichkeitsforschung dar. Wie die fünf Persönlichkeitsfaktoren nach Goldberg (1990) definiert werden, ist Tabelle 1 zu entnehmen.
Die PERMA-LEAD-Potenzialanalyse (Ebner, 2016) beschreibt einen wissenschaftlich fundierten Zugang zu Positive Leadership, der konkretes Führungsverhalten misst. Das Testverfahren liegt als 360°-Feedback (Selbst- und Fremdeinschätzung) und als Potenzialanalyse (Selbsteinschätzung) vor. PERMA-LEAD stellt einen aktuellen Ansatz von Positive Leadership dar, der aktuelle Entwicklungen in der Positiven Psychologie miteinbezieht. Die Basis des PERMA-LEAD stellt Martin Seligmans PERMA-Modell (2011) dar. Er definiert für das Aufblühen einer Person fünf Komponenten: P (Positive Emotions), E (Engagement), R (Relationships), M (Meaning) und A (Accomplishment). Sie beschreiben das Erleben positiver Emotionen im Leben (P), das Einbringen und Weiterentwickeln von Stärken (E), das Pflegen von positiven Beziehungen (R), das Wahrnehmen eines Sinns im Tun (M) und das Erleben, dass Ziele erreicht werden (A). PERMA-LEAD repräsentiert somit eine Verknüpfung dieses aktuellen Modells der Positiven Psychologie mit Führungsverhalten und schafft auf diese Weise ein Erhebungsinstrument für konkrete Positive-Leadership-Verhaltensweisen, wie Abbildung 1 zeigt.
Das Testverfahren misst, inwieweit eine Führungskraft durch ihr Verhalten die fünf PERMA-Faktoren bei den Mitarbeitern fördert. Die günstige Wirkung dieses Führungsverhaltens auf Aspekte wie Leistung, Fluktuation, Arbeitszufriedenheit und zahlreiche weitere Faktoren ist durch unterschiedliche Studien belegt (Ebner, 2017; Ebner, 2018). Tabelle 2 zeigt die einzelnen Dimensionen mit jeweils einem ausgewählten Beispielitem.
Die Fragestellung, inwiefern die Persönlichkeitseigenschaften den Führungsstil von Führungskräften (in diesem Fall Positive Leadership) beeinflussen, lässt sich aus früheren Studien ableiten. Judge et al. haben dazu 2002 eine Metaanalyse zum Zusammenhang verschiedener Aspekte von Leadership und den BIG-Five-Persönlichkeitseigenschaften durchgeführt. Sie untersuchten, inwieweit diese Eigenschaften mit zwei Aspekten zusammenhängen, nämlich dem Ausüben einer Führungsrolle (durch den Vergleich von Personen mit und ohne Führungsrolle) und der Effektivität von Führung (z.B. der Einfluss auf die Produktivität des Bereichs, den sie leiten). Die Autoren stellten einen positiven Zusammenhang zwischen den drei BIG-Five-Eigenschaften Extraversion, Offenheit für Erfahrungen und Gewissenhaftigkeit und dem Ausüben einer Führungsrolle und ihrer Effektivität fest, wobei sich Extraversion als der stärkste Faktor erwies. Neurotizismus hingegen wirkt sich ihren Erkenntnissen nach ungünstig auf diese beiden genannten Führungsaspekte aus. Somit belegt diese Studie, dass die angeführten Persönlichkeitseigenschaften in Zusammenhang mit der Ausübung einer Führungsrolle stehen und auch deren Effektivität beeinflussen.
Eine andere aktuelle Studie mit über 700 Probanden zeigt signifikante Zusammenhänge zwischen den BIG-Five-Persönlichkeitsfaktoren und dem Erleben der einzelnen PERMA-Elemente im Alltag von Menschen auf (Sun et al., 2018). Diese Ergebnisse lassen erwarten, dass es auch bei Führungskräften einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Positive Leadership (im Sinne von PERMA-LEAD) gibt. Die Ergebnisse der vorangegangenen Studien führen daher zu den Hypothesen, dass sich Extraversion, Offenheit für Erfahrungen und Gewissenhaftigkeit als Eigenschaften einer Führungskraft günstig auf ihr Positive-Leadership-Verhalten auswirken, während sich Neurotizismus eher ungünstig auswirken dürfte.
Die Führungskräfte für die Studie wurden aus verschiedenen Branchen rekrutiert. Durch Kooperation mit einem Unternehmen des öffentlichen Dienstes in Österreich und der Verbreitung der Studie über verschiedene Netzwerke konnten 105 Führungskräfte zur Teilnahme an der Erhebung gewonnen werden. Aufgrund der zuvor genannten Zusammenarbeit gibt es in der Stichprobe einen überproportionalen Anteil an Führungskräften im öffentlichen Dienst, die restlichen verteilten sich auf neun weitere Branchen (siehe Tabelle 3)
Insgesamt bestand die Stichprobe aus 34 weiblichen und 71 männlichen Führungskräften, wobei diese im Durchschnitt 48 Jahre alt waren und acht Jahre Führungserfahrung aufwiesen. Die Verteilung der Stichprobe zeigt, dass unterschiedliche Hierarchieebenen vertreten waren: Vorstand (15 Prozent), Bereichsleiter (16 Prozent), Abteilungsleiter (27 Prozent) und Gruppenleiter (42 Prozent).
Die Auswertung der Daten erfolgte mittels einer Korrelationsanalyse. Die Ergebnisse verdeutlichen signifikante Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitseigenschaften einer Führungskraft und ihrem Positive-Leadership-Verhalten. Das Signifikanzniveau der einzelnen Korrelationen ist der Abbildung 2 zu entnehmen. Aufgrund der vorangegangenen Literaturrecherche war dieses Ergebnis zu erwarten und entspricht den angeführten Hypothesen.
In Abbildung 2 wird der Einfluss der Persönlichkeit auf Positive Leadership deutlich. Es fällt auf, dass Neurotizismus durchwegs mit allen Dimensionen des PERMA-LEAD negativ zusammenhängt und die vier anderen Skalen der BIG Five (Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen) ausschließlich einen positiven Zusammenhang aufweisen. Besonders deutlich zeigt sich, dass Extraversion mit Positive Leadership über alle Dimensionen hinweg stark zusammenhängt. Das entspricht den Ergebnissen der Vorgängerstudien.
Auch wenn Korrelationen per se keine kausalen Interpretationen bestätigen, kann davon ausgegangen werden, dass die Persönlichkeit eines Menschen stärker dessen Verhalten beeinflusst als vice versa. Die Richtung dieses Zusammenhangs ist anhand der Self-Consistency-Theorie auch im Arbeitskontext empirisch belegt (Tesser, 1988; Judge & Hurst, 2008). Folgt man dieser Logik, wird deutlich sichtbar, dass sich verschiedene Persönlichkeitseigenschaften unterschiedlich auf die einzelnen PERMA-LEAD-Faktoren auswirken. So zeigt sich beispielsweise, dass Offenheit für Erfahrungen einen starken Einfluss auf die Gestaltung von Beziehungen (Faktor Relationships) hat, während die gleiche Persönlichkeitseigenschaft bedeutend weniger Einfluss darauf hat, ob erreichte Ziele auch aufgezeigt werden (Faktor Accomplishment). Gleichzeitig wird sichtbar, dass sich neurotische Führungskräfte offensichtlich eher schwer damit tun, ihren Mitarbeitern Sinn in der Arbeit zu vermitteln (Faktor Meaning) und individuelle Stärken zu erkennen und zu fördern (Faktor Engagement). Zusammenfassend zeigen sich zwei eindeutige Trends:
Mit dieser empirischen Studie konnten eindeutige Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsfaktoren und Positive Leadership belegt werden. Gerade für Coachings ergibt sich daraus die Bestätigung, dass Menschen ihre Entwicklung zu einer guten Führungskraft im Sinne von Positive Leadership von unterschiedlichen Startplätzen ausgehend beginnen. Man kann aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse damit rechnen, dass es für neurotische Persönlichkeiten in der Regel schwieriger ist, sich diesen Führungsstil anzueignen – und für Personen, die extrovertiert und stabil sind, einfacher. Die langjährige Coaching-Praxis zeigt, dass Führungskräfte zumeist aus zwei Gründen bestimmte Führungsansätze nicht leben: (a) Sie würden es gerne tun, aber wissen nicht, wie es geht. In diesem Fall wird man im Coaching wahrscheinlich an den Kompetenzen und Tools arbeiten, da die Motivation dafür bereits vorhanden ist. Dieser Ansatz wäre allerdings falsch, wenn der Grund für das Nichtleben eines Führungsstils darin besteht, dass (b) Führungskräfte daran zweifeln, dass es funktioniert, oder glauben, dass sie es nicht können. In dieser Situation würde es wenig bringen, an Techniken zu feilen. Hier gilt es vielmehr, entweder Überzeugungsarbeit zu leisten (die Argumente dazu liefert die aktuelle Führungsforschung zu Positive Leadership) oder Erkenntnisgewinn zu ermöglichen, indem die Führungskraft in einem ersten Schritt für sich selbst erlebt, wie sich das Erhöhen des eigenen PERMAs auf die eigene Arbeitszufriedenheit und Leistung auswirkt. Konstruktivisten beschreiben gerne die Wirkung der Persönlichkeit auf den Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungskreislauf, der dann in einer „Selbsterfüllenden Prophezeiung“ münden kann (Watzlawick, 1984). Gerade im Coaching gilt es oft, diesen Kreislauf positiv zu beeinflussen. Die Ergebnisse dieser Studie machen deutlich, wie relevant es ist, vor einer Intervention zu klären, welcher Zugang den größten Hebel zur Entwicklung bietet. Aus den Ergebnissen abzuleiten, dass nur Menschen mit bestimmten Eigenschaftsausprägungen die Fähigkeit für Positive Leadership haben, wäre der falsche Schluss. Es würde nämlich völlig ignorieren, dass wir in der Lage sind, uns weiterzuentwickeln, aus Erkenntnissen zu lernen oder auch Schwächen durch andere Stärken zu kompensieren. So machen beispielsweise die beiden renommierten Professoren für Positive Psychologie, Angela Duckworth und Martin Seligman (2017), als Resümee zahlreicher Studien deutlich, dass das Durchhaltevermögen ein hochrelevanter Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung ist – möglicherweise wichtiger, als die Eigenschaftsausprägungen, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens hat. Die Ergebnisse der Studie sollen daher Coaches ermutigen, unterschiedliche Ansätze für unterschiedliche Menschen einzusetzen. Auch wenn es in der Coaching-Szene ein sehr alter Hut ist, gilt noch immer: Man muss Menschen dort abholen, wo sie stehen!