Coaching wird im Unternehmenskontext als individuelle Personalentwicklungsmaßnahme eingesetzt (Turck et al., 2007), da es Vorteile wie Flexibilität, Individualität und Intensität für den Klienten bietet. Dass Coaching auch zur Entwicklung von Organisationen beitragen kann, wird selten impliziert. Diese Konnotation von Coaching als Nutzen für nur ein Individuum entspricht einem linear gedachten Zusammenhang zwischen Person und Organisation. Tatsächlich genügt diese monokausale Argumentation nicht mehr, um komplexe und rekursive Prozesse zu erklären.
Systemisch betrachtet sind Klienten Elemente eines Systems, die weitere Systemelemente beeinflussen können. Daher ist es logisch, Coaching nicht nur aus der Perspektive der Personalentwicklung zu sehen, sondern diese zu weiten und den Einfluss auf die gesamte Organisation zu beachten. Dieser Beitrag soll die These dieses doppelten Potenzials von Coaching anhand von Ergebnissen einer qualitativ angelegten Studie betrachten. Zunächst werden jedoch nötige Grundgedanken aus systemischer Sicht erläutert sowie die Überschneidung der Systeme Person und Organisation thematisiert. Anschließend werden mögliche direkte und indirekte Effekte von Coaching beschrieben. Der Ausblick fokussiert eine laufende Studie zur mikroanalytischen Untersuchung des gegenseitigen Austauschs von Coach und Klient.
Systemtheoretische Überlegungen stammen aus Fachbereichen der Physik (unter anderem Haken, 2004), der Biologie (unter anderem Maturana & Varela, 1987), der Soziologie (unter anderem Luhmann, 2002), der Psychotherapie (unter anderem Haken & Schiepek, 2010) und der Psychologie (unter anderem Bateson, 1994). In Anbetracht dieser Interdisziplinarität verwundert es kaum, dass bisher keine Einigkeit über die Definition eines Systems oder einer Systemtheorie erreicht wurde. Dennoch gibt es gemeinsame Eckpunkte, die auch der hier dargestellten Untersuchung zugrunde liegen.
So bestehen Systeme aus verschiedenen Elementen, die zueinander in Wechselwirkung stehen. Dabei können neue Eigenschaften hervortreten, die mehr als die Summe ihrer Teile sind (Emergenz) (Haken & Schiepek, 2010). Systeme entstehen erst durch deren Abgrenzung zur Umwelt. Wie groß die Systemgrenze gezogen oder was genau als Systemelement definiert wird, ist je nach theoretischer Ausgangslage unterschiedlich. Es werden psychische und soziale Systeme differenziert, als lose gekoppelt und über verschiedene Modi operierend betrachtet (Schneider, 2002). Das psychische System konstituiert sich über Kognitions-Emotions-Verhaltensmuster (KEV-Muster) (Haken & Schiepek, 2010), das soziale über Kommunikation (Luhmann, 2002). Über sog. Randbedingungen können Informationen der Umwelt in das System aufgenommen und dort durch die systemimmanente Logik verarbeitet werden. Die Bedeutungszuschreibung findet also systemintern statt. Das Verhalten einer anderen Person kann eine solche Randbedingung darstellen (Haken & Schiepek, 2010). Personen als psychische und Organisationen als soziale Systeme beeinflussen sich daher im Sinne gegenseitiger Randbedingungen.
Übernimmt eine Person eine Rolle in einer Organisation, überschneiden sich Person und Organisation durch die Rollenübernahme (z.B. Projektleiter). Unterschiedliche Systemlogiken treffen dabei aufeinander. Das psychische System Person bringt individuelle Bedürfnisse, Fähigkeiten, Werte, Motivation usw. mit. Das soziale System Organisation hingegen eine bestimmte Struktur, Kultur, Strategie und Erwartungen, die an die Rolle geknüpft sind. Im Idealfall ergänzen sich die Erwartungen der Rollensender und -empfänger (Lippmann, 2008), sodass in dieser Überschneidung arbeitsbezogene Bedürfnisse der Person im organisationalen Kontext befriedigt werden können und Arbeitszufriedenheit entsteht (Berchtold-Ledergerber, 2010).
Coaching setzt also bei der Realisierung der Überschneidung von Person und Organisation an und bezieht damit stets beide ein. Eine zu große Überlappung birgt jedoch auch Risiken, da Coaching auch dazu beitragen könnte, organisational bedingte Probleme zu subjektivieren (Kühl, 2008). Schwierigkeiten der Organisation werden dann auf eine andere Systemebene verschoben, auf der sie von der Person nicht gelöst werden können.
Auch wenn sich im Coaching berufliche und private Themen überschneiden können, besteht der Mehrwert darin, Ergebnisse des Coachings immer wieder in den organisationalen Zusammenhang zurückzuführen.
Schwertl (2013) betont daher, dass fundiertes Business-Coaching ohne Denken in Systemen kaum möglich sei und stellt die These auf, dass Business-Coaching „ein spezielles Format der Organisationsentwicklung“ ist (Schwertl, 2013; 23). Diese These kann anhand der nachfolgend beschriebenen Untersuchung gestützt werden.
Die Untersuchung fand in einem Großunternehmen statt, das seinen Mitarbeitenden die Möglichkeit bietet, sich bei Bedarf niedrigschwellig an einen Coach zu wenden. Die Forschungsfragen zielten einerseits auf allgemeine Wirkprinzipien im Coaching (dabei konnte gezeigt werden, dass die sog. Generischen Prinzipien (Haken & Schiepek, 2010) nicht nur als allgemeine Wirkprinzipien für den Psychotherapieprozess fungieren, sondern auch im Coaching-Prozess Anwendung finden (Hein, 2012)), andererseits auf die Wirksamkeit von Coaching unter Berücksichtigung des organisationalen Kontexts. Dazu wurden nicht nur Effekte erhoben, die den Klienten selbst betreffen, sondern auch solche, die auf Personen aus dem nahen organisationalen Umfeld des Klienten wirken.
Diese Fragestellungen wurden an zwei Fällen explorativ untersucht. Die Anliegen beider Fälle bezogen sich auf deren persönliche Karriereentwicklung im Sinne einer Beförderung. In Anlehnung an ein 360°-Feedbackdesign wurden insgesamt 14 Teilnehmende in die Studie einbezogen. Dabei wurden Coach und Klient sowie Vorgesetzte, Kollegen und Teammitglieder der Klienten einbezogen. Methodisch basierte die Studie auf problemzentrierten Interviews, die inhaltsanalytisch in Anlehnung an Mayring (2007) ausgewertet wurden.
Als direkte Effekte des Coachings werden Wirkungen bezeichnet, die den Klienten unmittelbar betreffen. Hier wird also die generelle Effektivität von Coaching in den beiden Fällen beschrieben (in Anlehnung an Hein, 2012). Theoretisch wurde eine Differenzierung in die Ebenen Kognition, Emotion und Verhalten (KEV) vorgenommen, um die Effekte detailliert analysieren zu können. Faktisch ist diese Trennung aber künstlich, da sich Effekte des Coachings auf allen diesen Ebenen in veränderten KEV-Mustern, also im Zusammenspiel dieser Ebenen, ausdrücken.
Zu den kognitiv eingeordneten Veränderungen gehören die Kategorien „Eröffnung neuer Perspektiven“, „Erkennung von Mustern“ und „erhöhte Selbstreflexionsfähigkeit“. In beiden Fällen wurden Gedankengänge angestoßen, die zu einer intensiven Selbsterkenntnis und einem größeren Bewusstsein für eigene Persönlichkeitsmuster führten. Bewusstsein wird nach Haken und Schiepek (2010) in Pulsen von Kognitions-Emotions-Einheiten generiert und verändert Nervenbahnen aufgrund der neuronalen Plastizität des Gehirns. Diese Prozesse werden daher als „Begleitmusik kritischer Ordnungsübergänge“ bezeichnet und sind für Veränderungen essentiell (ebd.; 259). Die Klienten hinterfragten ihr Verhalten gegenüber anderen Personen und passten es dementsprechend an, reflektierten sich aber auch in ihrem Wesen und ihren Persönlichkeitseigenschaften.
Der Klient des ersten Falls beachtete die Auswirkungen seines Handelns auf seine neuen Mitarbeiter. Auch den Klienten des zweiten Falls unterstützte das Coaching bei der Reflexion seiner Rolle als Führungskraft, wobei er diese in Relation zu seinen Grundeigenschaften setzte.
Auf emotionaler Ebene beschrieben beide Klienten eine Steigerung des Wohlbefindens. Sie wurden insgesamt mit ihrer Art der Rollenausfüllung zufriedener. Der Coach des ersten Falls bemerkte dies bei seinem Klienten durch ein lebhafteres und fröhlicheres Auftreten. Der Klient betonte dabei v.a. sein gestärktes Selbstbewusstsein, das ihm half, sich mutig der neuen Aufgabe der Führungskraft zu stellen. Der Klient des zweiten Falls konnte mit Frustration besser umgehen und wurde geduldiger mit sich selbst, da er durch das Coaching sich selbst besser verstehen konnte. Vor allem in Stresssituationen unterstützte ihn das Coaching dabei, inne zu halten und gemeinsam mit seinem Coach zu reflektieren.
Schließlich drückten sich die veränderten Kognitions-Emotions-Muster der Klienten auch in deren Verhalten aus. Durch das erhöhte Selbstbewusstsein wirkte der Klient des ersten Falls beispielsweise im Auftreten gegenüber seinen Kollegen und Kunden direkter. Durch die Bewusstmachung persönlicher Muster und Bedürfnisse wurde es ihm möglich, Entscheidungen zügiger und ggf. auch auf Basis mangelnder Informationen zu treffen, was ihm zuvor schwerfiel. Dem zweiten Klienten ist es durch die verstärkte Selbstreflexion gelungen, seine Anspannung bei der Arbeit etwas aufzulösen, ruhiger zu werden und fokussierter bei der Arbeit zu sein. So delegierte er vermehrt Aufgaben komplett an sein Team und beließ diese dort. Außerdem kommunizierte er Prioritäten bestimmter.
Die dargestellten Verhaltenseffekte betreffen jedoch nicht ausschließlich die gecoachten Führungskräfte, sondern auch weitere Systemelemente.
Die Beeinflussung weiterer Systemelemente durch die direkten Effekte wird hier als indirekter Effekt des Coachings bezeichnet. Durch das Coaching wird demnach ein Systemelement angestoßen, das durch die bestehende Wechselwirkung im System Einfluss auf weitere Systemelemente hat. Die direkten Effekte wirken sich also indirekt weiter auf Personen aus, die kein Coaching in Anspruch nehmen.
In der Datenanalyse wurde deutlich, dass sich die Qualität der Zusammenarbeit und das Wohlbefinden der Teammitglieder erhöhten. Die jeweilige Zusammensetzung der interviewten Studienteilnehmenden muss dabei relativierend in die Ergebnisinterpretation einbezogen werden. Durch die ergänzenden Einschätzungen der Klienten selbst sowie deren Coaches, können aber dennoch vielfältige Auswirkungen auf das 360°-Umfeld beschrieben werden. Beeindruckend ist zunächst, dass fast alle interviewten Personen aus dem Umfeld der Klienten Veränderungen bemerkt haben. Dabei war ihnen nicht bewusst, dass die entsprechende Person ein Coaching erhielt. Im Interview wurden sie nur nach generellen Veränderungen des Verhaltens des Klienten in einem bestimmten Zeitraum sowie nach Auswirkungen auf sie selbst gefragt. Als Verhaltenseffekte flossen die Beobachtungen der Umfeldpersonen nur in die Daten ein, insofern sich diese mit dem Thema des Coachings und den Einschätzungen des Coachs oder Klienten deckten. So kann retrospektiv ein Zusammenhang zum Coaching angenommen werden.
Folgende Verhaltensänderungen der Klienten wurden aus dem Umfeld beschrieben (in Anlehnung an Hein, 2012): Im ersten Fall wurde der Klient durch seine erhöhte Durchsetzungsfähigkeit von seinem Umfeld als wesentlich souveräner und als Führungskraft wahrgenommen, die selbstbewusst Grenzen aufzeigt. Durch diese Stringenz wurde die Zusammenarbeit im Team erleichtert. Im zweiten Fall berichteten Mitarbeitende von einem erhöhten Wohlbefinden im Team aufgrund der stärkeren Prioritätensetzung und Delegation von Aufgaben durch den Klienten. Damit einher ging eine sinkende Arbeitsbelastung. Der Klient lernte besser einschätzen zu können, wie viel er seinen Mitarbeitenden zumuten kann. Die verbesserte Selbstkenntnis des Klienten wurde ebenfalls bemerkt und regte einen Mitarbeiter zu einer vermehrten Selbstreflexion an. Außerdem lernten beide Klienten aus dem Vorgehen im Coaching die Berücksichtigung verschiedener Perspektiven, was sie in deren Arbeitsalltag übertragen konnten und bspw. bei Entscheidungsfindungen oder Besprechungen Anwendung fand. In beiden Coaching-Fällen können demnach indirekte Effekte festgestellt werden, die durch das veränderte Verhalten der Klienten ausgelöst wurden.
Daher kann angenommen werden, dass Coaching als Personalentwicklungsmaßnahme nicht nur eine Person bei ihrer Entwicklung unterstützt, sondern darüber hinaus Auswirkungen auf weitere Organisationsmitglieder angestoßen werden. Da diese Auswirkungen nicht gezielt gesteuert werden können, würde es zu weit gehen, hier tatsächlich von einer intendierten Organisationsentwicklung zu sprechen. Fasst man den Begriff jedoch als Veränderung auf, die keiner Intention bedarf, entwickelt sich auch die Organisation durch Coaching auf Führungskräfteebene (Hein 2012; Friesenhahn 2013). Diese Veränderungslogik entspricht zudem dem Grundgedanken von Theorien der Selbstorganisation wie z.B. der Synergetik, nach der Musteränderungen eines Systems ständig vorkommen und nicht von außen veranlasst werden müssen (Haken & Schiepek, 2010).
Abschließend muss betont werden, dass die hier gefundenen Ergebnisse an größeren Fallzahlen repliziert werden müssen, um den Grad der Generalisierbarkeit zu erhöhen und eine genauere Einschätzung treffen zu können, welche Tragweite indirekte Effekte in der Organisation tatsächlich haben können. So muss Coaching im Sinne komplexer Systeme nicht nur als effektive Maßnahme der Personal-, sondern auch der Organisationsentwicklung gesehen und beforscht werden.
Da dennoch deutlich wurde, dass sich Systemelemente in der Organisation wechselseitig beeinflussen, stellt sich nun die Frage nach der konkreten Funktionsweise dieser Beeinflussung. Verschiedene systemtheoretische Ansätze betonen hier die Bedeutung von Kommunikation. Schwertl (2013) postuliert bereits die Entwicklung vom „homo oeconomicus“ zum „homo communicans“. Demnach hängt die Entwicklung der Person von den realisierten kommunikativen Fähigkeiten ab. Auch das gesamte Unternehmen wird verstärkt als Kommunikationssystem gesehen.
Ob Kommunikation gelingt oder nicht, ist jedoch keine triviale Frage. Bereits Luhmann (2002) weist durch die Problematik der doppelten Kontingenz (beiderseitige Wahlmöglichkeiten der Systeme wie und ob Informationen aufgenommen werden) darauf hin und auch aus Watzlawicks Axiomen (Watzlawick et al., 1969) lassen sich vielfältige Kommunikationsstörungen ableiten. Obwohl ein soziales System durch Kommunikation entsteht, sollte letztlich die Rolle des psychischen Systems dabei nicht vernachlässigt werden.
Die kommunikative Basis als Kopplung zweier psychischer Systeme scheint in Bezug auf gegenseitigen Austausch elementar und kann auch als Synchronisation bezeichnet werden (Haken & Schiepek, 2010). Im Zustand der Synchronisation kann aus zwei Teilsystemen ein neues, gemeinsames System erwachsen, das seinerseits emergente Phänomene hervorbringt und somit das volle Potential eines Coachings birgt. Synchronisation ist demnach nicht nur zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden relevant, sondern auch zwischen Coach und Klient. Daher wird Synchronisation als grundlegendes Wirkprinzip im Coaching postuliert (Friesenhahn 2013). Die detaillierte, mikroanalytische Untersuchung wird in einer weiterführenden Studie verfolgt. Diese untersucht unter Rückgriff auf ein komplexes Forschungsdesign (u.a. mit Einbeziehung von Videoanalysen) die Rolle der verbalen und nonverbalen Kommunikation sowie die Rolle emotionaler Kompetenz und Intuition bei der Realisierung von Synchronisation zwischen Coach und Klient.