Virtuelles Coaching ersetzt oder ergänzt zunehmend die klassische persönliche Begegnung zwischen Coach und Klient. Laut der ICF Global Coaching Studie von 2016 nutzen zwei Drittel der über 15.000 befragten Coaches eine Audio/Video-Plattform und der Sherpa Report 2017 stellt fest, dass 21 Prozent aller Coaching-Leistungen virtuell erbracht werden. Ob Business-Coaching, Karriere- oder internes Coaching – durch den Einsatz von Video-Technologie sollen geographische Entfernungen überwunden, Kosten gespart und der Zugang zu Coaching-Leistungen vereinfacht werden. Was heißt das nun für die Coaching-Begegnung und -Beziehung? Ändert sich etwas, wenn die Beteiligten sich nicht gegenüber, sondern an unterschiedlichen Orten sitzen und sich über einen Bildschirm wahrnehmen? Wenn sie sich nicht in die Augen, sondern in eine Kamera schauen?
Die hier vorgestellte Studie untersucht die Wahrnehmung des Coachings über Skype aus Klientensicht durch die Analyse von elf Tiefeninterviews mit Klienten verschiedenen Alters und unterschiedlicher Nationalität, die alle über einen Zeitraum von mehreren Monaten Coaching über Skype in Anspruch genommen haben. Ziel war, die Wirkung dieses virtuellen Coaching-Formats besser zu verstehen und Handlungsempfehlungen für Coaches bei der Gestaltung von video-basierten Sessions zu erarbeiten.
Vier Themenbereiche erwiesen sich als relevant für die vorliegende Studie: Zunächst wurde Literatur zum Einsatz von Technologie im Coaching im Allgemeinen analysiert. Dann wurde die relevante Forschung zur Coach-Klienten-Beziehung und hier insbesondere zur Vergleichbarkeit von virtuellem und Face-to-Face-Coaching herangezogen. Zudem wurde die wissenschaftliche Literatur zu den Besonderheiten und Herausforderungen der Kommunikation mit Hilfe video-basierter Konferenztools ausgewertet.
Die Literaturrecherche zu technologieunterstützten Formen des Coachings erbrachte primär Ergebnisse, die sich eher auf Therapie als auf Coaching beziehen. Als Fokusthemen erwiesen sich hier die Wirksamkeit, das Funktionieren der Coach-Klienten-Beziehung sowie die Vergleichbarkeit von virtuellen und persönlichen Begegnungen. Zudem beziehen sich die bisher existierenden Studien primär auf den Einsatz des Telefons im Coaching, da die Web 2.0 Technologie erst seit 2003 verfügbar ist – dem Jahr, in dem auch Skype auf den Markt kam.
Allerdings liefern zwei Metastudien relevante Ergebnisse: Ghods und Boyce (2013) untersuchen die existierende Literatur zu virtuellem Coaching vor dem Hintergrund der Forschung zu Online-Therapie und E-Mentoring. Kanatouri und Geissler (2017) geben einen Überblick über speziell für den Coaching-Prozess entwickelte technische Lösungen und werten zusammenfassend die empirische Forschung zu technologie-unterstütztem Coaching aus. Sie kommen zu dem Schluss, dass in der existierenden Literatur die positive Bewertung von Telefon- und Online-Coaching überwiegt. Weitere Untersuchungen werden zeigen, ob die kontinuierliche Verbreitung von Video-Konferenz-Technologie im Coaching und damit ein gewisser Gewöhnungseffekt zu einer immer positiveren Bewertung dieser Beratungsform führen wird.
Die Qualität der Coach-Klienten-Beziehung wird generell als der bestimmende Faktor für die Wirksamkeit von Coaching angesehen. Bordins (1979) Definition der „working alliance“ in der Therapie als ein gemeinsames Verständnis von Aufgaben und Zielen und als eine Bindung zwischen Coach und Klient, die auf gegenseitigem Vertrauen und Akzeptanz beruht, hat sich auch in der Coaching-Literatur etabliert. Dies macht die oft zitierte Hypothese von McKenna und Davis (2009) deutlich, wonach 30 Prozent des Erfolgs von Therapie/Coaching der Coach-Klienten-Beziehung zuzuschreiben sind. Insofern ist die Frage zentral, wie eine solche Beziehung virtuell aufgebaut und erhalten werden kann.
Mit dem zunehmenden Einsatz von technologiegestütztem Coaching hat sich die Definition dessen, was eine „Face-to-Face“-Interaktion ausmacht, erweitert. So subsumiert Drake (2015) physische und videovermittelte Begegnungen unter „Face-to-Face-Coaching“. In ähnlicher Weise postulieren Simeonsdotter Svensson et al. (2014, S. 1018): „Skype ermöglicht die persönliche Kommunikation aus der Ferne.“ Eine kritische Debatte des Konzepts der „persönlichen Begegnung“ und der sie beschreibenden Begrifflichkeit könnte hier zu mehr Klarheit und Trennschärfe führen.
Im Rahmen der aktuellen Studie sind zwei Aspekte videovermittelter Kommunikation relevant: Die Rolle des Blickkontakts und die Wirkung des eigenen Bildes während der Interaktion. Mehrere Autoren (u.a. Bohannon, 2013) bekräftigen die Bedeutung des Blickkontakts für die zwischenmenschliche Kommunikation und untersuchen die damit verbundenen Herausforderungen bei Videokonferenzen, bei denen die Kamera normalerweise über dem eigenen Bildschirm montiert ist. Zusammenfassend konstatiert Bohannon (2013), dass die Kommunikationsform der Videokonferenz einen Einfluss auf die verbale und nonverbale Kommunikation und damit auch auf soziale Konstrukte wie Vertrauen hat.
Die Studie folgt einem qualitativen konstruktivistischen Ansatz und damit der Annahme, dass „Wahrheit und Bedeutung in einer äußeren Welt nicht existieren, sondern durch die Interaktion des Subjekts mit der Welt geschaffen werden“ (Grey, 2014, S. 20). Folglich wird eine phänomenologische Methodik angewendet, nämlich „Interpretative Phenomenological Analysis“ (IPA), wie sie Smith von den späten 1990er Jahren an entwickelt hat (u.a. Smith, 1995).
IPA basiert u.a. auf der ursprünglich von Husserl entwickelten Phänomenologie, insofern sie sich auf die individuelle persönliche Wahrnehmung eines Objekts oder einer Person fokussiert und nicht versucht, eine objektive Beschreibung des Objekts oder der Person an sich zu geben. Zudem erkennt IPA die zentrale Rolle der analysierenden Person im Prozess der Sinngebung an und prägt dafür den Begriff der „doppelten Hermeneutik“ (Pietkiewicz & Smith, 2014): Die Befragten erschaffen ihre subjektive Interpretation ihres persönlichen Erlebens, während gleichzeitig der Fragende seine Interpretation dieser persönlichen Darstellung entwickelt. Diese explizite Anerkennung und kontinuierliche Reflexion der aktiven Rolle des Wissenschaftlers im Entstehungsprozess des analysierten Materials wird in der Forschung kontrovers diskutiert (Brocki & Wearden, 2006), für die vorliegende Studie jedoch bewusst als eine wesentliche und bereichernde Position gewählt: Ein Coach, der vorwiegend über Skype arbeitet, analysiert wissenschaftlich Berichte von Klienten, die über Skype gecoacht wurden – eine Konstellation, die die kontinuierliche Selbstreflexion über die eigene Rolle, Wahrnehmung und Interpretation im Forschungsprozess, wie IPA sie fordert, unabdingbar macht.
Schließlich folgt IPA dem Prinzip der Ideographie, wonach einzelne Fälle in der Tiefe untersucht und individuelle Perspektiven der Studienteilnehmer in ihrem einzigartigen Kontext beleuchtet werden (Pietkiewicz & Smith, 2014). Auf diese Weise ermöglicht IPA, die gelebte Erfahrung von Coaching über Skype greifbar zu machen.
Von den elf Teilnehmern waren fünf weiblich und sechs männlich, die Altersspanne reichte von Anfang 20 bis Ende 50. Die Teilnehmer waren britischer, chinesischer, venezolanischer, südafrikanischer und bosnischer Nationalität und wohnten zum Zeitpunkt der Interviews in Großbritannien, Singapur, Vietnam, Belgien, Deutschland und China. Diese demographische und geographische Vielfalt ist ein Indiz für die Heterogenität der Klienten, die sich für Coaching über Skype entscheiden.
Von den Interviews, die zwischen 50 und 75 Minuten dauerten, wurden Tonaufnahmen gemacht, die transkribiert und analysiert wurden. Wichtige Themen wurden identifiziert und geclustert. In einem iterativen Prozess wurden einige dieser Themen umbenannt und Unter- und Oberthemen identifiziert. Alle Teilnehmer der Studie waren Erwachsene mit sehr guten Englischkenntnissen. Sie hatten Coaching im Zusammenhang mit ihrer Karriere-Entwicklung in Anspruch genommen und alle bzw. die überwiegende Anzahl ihrer Coaching-Sitzungen über Skype gehalten.
Die Analyse der Interviews zeigt, dass beim Coaching über Skype die Kamera als das bestimmende Element im Prozess empfunden wird. Die Wirkung der Kamera ist vielfältig und widersprüchlich: Sie erleichtert den Kontakt, wird als Mittel der Überwachung wahrgenommen oder ihre Präsenz kann eine Atmosphäre der künstlerischen Inszenierung – wie im Film oder auf der Bühne – erschaffen. Grundsätzlich beeinflusst die Kamera das Coaching in drei wesentlichen Bereichen:
„Die virtuelle Umgebung verändert mich und wie ich Menschen wahrnehme.“ Dieses Statement eines Studienteilnehmers fasst zusammen, was die meisten befragten Klienten aus verschiedenen Blickwinkeln beschreiben: Coaching, bei dem eine Webcam zum Einsatz kommt, löst sehr spezifische Überlegungen und Bedenken aus, von denen viele mit dem starken Wunsch zusammenhängen, Herr der Situation zu sein. Ein Beispiel dafür ist der Drang, das eigene Aussehen auf dem Bildschirm immer wieder zu überprüfen, ein Phänomen, das de Vasconcelos Filho et al. (2009) für Nutzer von Videokonferenzsystemen untersucht haben. Ihre Ergebnisse korrelieren mit dem, was die Teilnehmer der aktuellen Studie berichteten: Wie sie während der Coaching-Interaktion auf dem Bildschirm erscheinen, ist für sie von großer Bedeutung und lässt sie ihr Erscheinen in ihrem eigenen Videofeed, insbesondere zu Beginn der Sitzungen, aktiv gestalten und immer wieder kontrollieren. Die Teilnehmer schätzten auch die Möglichkeit, den Ort auszuwählen, an dem sie das Coaching absolvieren, und entscheiden zu können, welche Elemente ihrer Umgebung sie ihrem Coach präsentieren möchten. Die meisten von ihnen fühlten sich am wohlsten, wenn die Sitzungen zuhause, auf ihrem eigenen Territorium, stattfanden, was ihnen ein angenehmes Gefühl von Sicherheit vermittelte.
Kontrollieren wollten Teilnehmer nicht nur ihr Erscheinungsbild und ihr physisches Umfeld, sondern auch ihren Coach: Einige baten explizit darum, der Coach möge sich weiter von der Kamera entfernen, damit sie mehr von seiner physischen Erscheinung wahrnehmen und vor allem sehen konnten, was er während der Sitzung mit seinen Händen tat. Wahrzunehmen, dass die Hände des Coachs nicht mit einer anderen Aktivität beschäftigt sind, wird als Bestätigung der uneingeschränkten Aufmerksamkeit gewünscht und wertgeschätzt. Ein weiteres Element der Kontrolle besteht in der Möglichkeit, die Kamera auszuschalten und nur den Audio-Kanal zu nutzen. Ein Teilnehmer berichtete, dass er häufig zwischen Video und Audio wechselte, da er sich durch die Kamera „beobachtet“ und „beurteilt“ fühlte.
Mehrere Teilnehmer der Studie beschrieben ihren Coach als transportables Objekt:
„Ich hatte ihn immer auf meinem Bildschirm“, „Ich kann meinen Coach auf die Seite räumen“, „Ich kann mich besser konzentrieren, wenn ich sie in meinem Ohr habe“.
Der Coach wird auf seine Stimme und seinen Gesichtsausdruck reduziert erlebt. Er ist ein „Gesicht auf einem Bildschirm“ und diese reduzierte Präsenz minimiert möglicherweise auch die Autorität, die er in der physischen Welt ausstrahlen könnte (Suler, 2004).
Nach Belieben des Klienten an- und ausgeschaltet zu werden oder aufgefordert zu werden, seine Hände zu zeigen, um zu beweisen, dass sie nichts tun, was der Klient missbilligen könnte, sind sicherlich neue Erfahrungen für Coaches. Es wird deutlich, dass der Einsatz von Technologie im Coaching einen Paradigmenwechsel mit sich bringt, der die Position und das Selbstverständnis der Klienten verändert: Sie können ihren Coach jetzt in der Jackentasche mit sich herumtragen und auf ihn zugreifen, wenn sie seine Unterstützung brauchen (Jackson et al., 2017).
Die Tatsache, dass der Coach im Skype-Coaching, wenn auch nicht immer auf Westentaschenformat, so aber doch zumindest auf Bildschirmgröße schrumpft, wurde von allen Teilnehmern der Studie als ein signifikanter Unterschied zum Präsenz-Coaching empfunden. Licoppe und Morel (2012) prägen den Ausdruck „talking heads arrangement“ (Sprechende-Köpfe-Set-up), um den Standard-Modus einer Video-Kommunikation zu beschreiben, wo beide Teilnehmer auf dem Bildschirm in die Kamera schauen. Diese reduzierte Wahrnehmung hat Implikationen für die „Kommunikationsbandbreite“ (Bohannon et al., 2013, S. 137), die für die Coaching-Interaktion zur Verfügung steht: In einem nicht physischen Meeting sind die Sinneskanäle des Fühlens und Riechens per se ausgeschlossen. Der rigide Set-up der Video-Begegnung reduziert zudem auch die Variabilität von Blick, Gestik und Haltung, die integrale Bestandteile des sichtbaren Verhaltens sind (Whittaker & O’Conaill, 1997).
Viele Teilnehmer berichteten, dass Skype-Coaching ihre Auswahl an Coaches vergrößert habe, da die geographische Entfernung keine Rolle spielt: „Ich habe lieber einen Profi über Skype als jemanden mit geringeren Fähigkeiten persönlich. Erst kommt die Qualität, dann das Medium.“ Mehrere Studienteilnehmer arbeiteten mit Coaches in anderen Ländern oder sogar Kontinenten. In diesem Sinne macht Video-Coaching den Coaching-Raum sicher größer als je zuvor. Doch die räumliche Begrenzung des Computerbildschirms bringt für einige Befragten auch einen Aspekt der Enge mit sich. Andere wiederum erlebten ein besonderes Gefühl der Freiheit, weil sie nicht mit einer anderen Person im selben Raum waren. Die physische Trennung führte einerseits zu Irritation und Verwirrung: „Ich wusste nicht mehr, in wessen Raum ich jetzt eigentlich bin. “ Andererseits erwuchs für einen Klienten ein besonderes Gefühl der Intimität daraus, in den Raum des Coachs „eingeladen“ zu werden.
Offensichtlich hängt die jeweilige Kontextualisierung der Interaktion im virtuellen Raum sehr von den Erwartungen und Vorerfahrungen der Beteiligten ab, woraus sich für den Coach eine Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten ergibt.
Mit wachsender Breitbandabdeckung und der kontinuierlichen Weiterentwicklung von HD-Technologie wird der Einsatz von Video-Technologien im Coaching weiter zunehmen. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie können Coaches, die mit Hilfe einer Webcam arbeiten, helfen, die Gestaltung ihrer Klientenbeziehung besser auf die Spezifika des Mediums einzustellen. Dies gilt auch für Führungskräfte mit virtuellen Teams und für Personaler, die in ihren Organisationen video-gestützte Coaching- und Mentoring-Systeme aufbauen. Insbesondere drei Aspekte lassen sich aus den Studienergebnissen als relevant für die Gestaltung der virtuellen Coach-Klienten-Beziehung ableiten.
(1) Information über die Technik ist essentiell: Klienten wissen nichts oder wenig von den Spezifika eines video-basierten Coachings, z.B. welche Auswirkungen die Positionierung der Kamera hat, welchen Bildausschnitt das Gegenüber sieht, welche technischen Schwierigkeiten auftauchen können. Hier ist eine ausführliche Vorabinformation unabdingbar.
(2) Vertrauen braucht Sichtbarkeit: Coaches sollten sich der möglichen Auswirkungen ihrer begrenzten Sichtbarkeit für Klienten bewusst sein und diese ggf. ansprechen bzw. durch entsprechende Positionierung vor der Kamera und körpersprachliche Signale – wie Hände zeigen – gegenwirken.
(3) Präsenz ist nicht gleich Telepräsenz: Der Coach auf dem Bildschirm ist klein, bewegungseingeschränkt und man kann ihn jederzeit „ausschalten“. Daher muss er sehr bewusst individuelle und medienadäquate Wege suchen und finden, seine Präsenz für den Klienten spürbar und erfahrbar zu machen.
Dieser Text basiert auf Deniers, Claudia (2019). Experiences of receiving career coaching via Skype, International Journal of Evidence Based Coaching and Mentoring, 1, S. 72–81.