CHESS setzt keine Fähigkeiten von Coach und Klient im Schachspiel voraus, sondern arbeitet letztlich mit dem gegebenen Raum (dem Schachbrett) und dem Material (den Figuren), wobei das Material weitgehend in freier Assoziation des Klienten eingesetzt wird. Dabei kann der Klient auf Regelkenntnisse oder Erfahrungen zurückgreifen, muss dies aber nicht. CHESS kann die Arbeit mit dem Systembrett (siehe dazu Abschnitt „Die Erfahrung“) ergänzen oder ersetzen.
Das Tool kann im Bereich der systemischen Arbeit, der Aufstellungs- und Konstellationsarbeit eingesetzt werden. Es kann die Arbeit mit projektiven Verfahren und erprobendem Handeln unterstützen und visualisieren.
Angesichts komplexer – z.B. beruflicher – Situationen kann das Tool verwendet werden, um Personenkonstellationen sichtbar zu machen. Dies geschieht beispielsweise, um Beziehungen zu klären, angestrebte Veränderungen in einer Personenkonstellation und deren Folgen darzustellen. Klienten können so u.a. Strategien entwickeln und mögliche Reaktionen von Stakeholdern auf in Betracht gezogene Handlungen besser und vorausschauend abschätzen.
CHESS bietet die Möglichkeit, Personenkonstellationen sichtbar zu machen. In deutlicher Abgrenzung von Systemaufstellungen, die auf den Einsatz menschlicher Stellvertreter setzen (siehe hierzu Kanning, 2017), wird in einer Einzel-Coaching-Situation gearbeitet – unter Rückgriff auf Schachbrett und -figuren. Das begrenzte und in der Regel bekannte Figurenrepertoir bietet durch die zwei vorhandenen Farben die Möglichkeit, Gegensätze und Zusammenhänge darzustellen. Der gegebene Raum ist ebenfalls begrenzt, bietet mit seinen 64 Feldern jedoch hinreichend Raum zur Aufstellung von Konstellationen. CHESS bzw. die Arbeit mit dem Tool ist erfahrungsgemäß sehr gut und eindeutig kommunizierbar, so dass es sich auch telefonisch oder über andere Distanzsysteme arbeiten lässt.
Das Systembrett, ursprünglich „Familienbrett“, gehört seit den späten 1970er Jahren zum Repertoire systemischer Therapeuten. Als Entwickler gilt der Psychotherapeut Kurt Ludewig (Schuler, 2019). Inzwischen ist das Systembrett ein gängiges Tool im Coaching.
Als der Autor dieses Beitrages vor über zehn Jahren im Ausland überraschend einen dringenden Coaching-Auftrag erhielt und kein Systembrett verfügbar hatte, wich er auf ein Schachspiel aus, das sich schnell als Alternative bewährt hat. Der Auftrag ging in der Folge als Fern-Coaching weiter und nun erwies sich die Variante des Schachbretts als ungemein hilfreich: Coach und Klient hatten sich auf eine gemeinsame Sprache mittels Material (die Schachfiguren) und Raum (das Schachbrett) verständigt. Auch ohne visuellen Kontakt war es mühelos möglich, bestimmte Konstellationen zu stellen und zu verändern – hier erwies sich die Schachterminologie nebst den eindeutigen Feldbezeichnungen als sehr hilfreich.
Auf der Grundlage dieser Erfahrungen ging der Autor dazu über, das Schachmaterial immer mehr einzusetzen. Dabei konnte festgestellt werden, dass es nicht wichtig ist, welche Schacherfahrungen bei Coach oder Klient vorliegen – wie bei jedem Coaching ist vielmehr die Fragehaltung des Coachs entscheidend: Der Klient entscheidet, welche Bedeutung eine Figur für ihn/sie hat. Dabei können kulturell unterschiedliche Bezeichnungen eine Rolle spielen und selbst eine völlige Unkenntnis des Schachspiels behindert die Arbeit nicht, sofern man sich auf eine gemeinsame Sprache verständigt.
Bei der Literaturrecherche kann die Mehrzahl der gefundenen Titel getrost ignoriert werden. „Schach und Coaching“, so zeigt sich, wird in erster Linie verstanden als „Coaching“, um ein möglichst gutes Schachspiel zu erlernen. In zweiter Linie finden sich dann Beiträge, die Strategien des Schachspiels als Blaupausen für das strategische Handeln von Führungskräften verwenden (z.B. Gupta, 2016). Im systemischen Coaching geht es aber nicht darum, erfolgreiche Strategien nachzuahmen, sondern die Klienten dabei zu begleiten, geeignete Strategien im Umgang mit den eigenen Fragen zu entwickeln. Coaching, so verstanden, ist letztlich die Begleitung einer Lern- bzw. Entwicklungssituation.
Die komplexe Persönlichkeitstheorie von Julius Kuhl (2001) verdeutlicht, dass Lernen ein dialektischer Prozess ist: Lernen generiert sich nach Kuhl aus dem Wechselspiel zwischen Handlung und Wahrnehmung sowie Reflexion und Integration, genauer aus dem Wechsel zwischen positivem bzw. negativem Affekt und der jeweiligen Affekthemmung. Die Affekthemmung des positiven Affekts erfordert dabei eine Frustrationstoleranz, bei der die Selbststeuerung wirksam wird: „Erfolgreiche Handlungsroutinen können nur in das Denken integriert werden, wenn es aktiviert wird […].“ (ebd., S. 128) Damit genügt es nicht, eine Erfahrung zu machen oder eine Handlung auszuführen (oder nachzuahmen), sondern sie muss reflektiert werden, um lernhaltig sein zu können, was Kuhl seinerseits mit Rückgriffen auf Freud und Piaget sowie auf die Neurobiologie belegt (vgl. ebd.): Im Prozess dieser Reflexion wird durch die Erfahrung das vorhandene Wissen überprüft und entweder erweitert (Assimilation) oder verworfen bzw. umgruppiert (Akkommodation). Diese Reflexion wird durch ein Tool wie CHESS unterstützt und durch den Coach begleitet.
Die Übertragbarkeit des handlungsorientiert Gelernten führt zu einer Betonung der Methodenkompetenz (im Sinne des regulativen Wissens und Könnens) gegenüber deskriptiven und normativen Aneignungsgegenständen. D.h., das Gelernte lässt sich vom Klienten leichter anwenden und übertragen (Koerber, 2019). Durch dieses Vorgehen werden letztlich die Handlungsspielräume der Klienten erweitert, ein Ziel professionellen Coachings.
Als theoretische Rahmung kann auch auf Thomas Webers (2020) verwiesen werden, der die psychologischen Grundlagen des systemischen Coachings darstellt und zum Schachspiel anmerkt: „Die Elemente eines Schachspiels sind – im Gegensatz zur Kybernetik erster Ordnung – nicht die Spielfiguren. Es sind die hoch selektiven Spielzüge! Auf diese Weise bleiben wir immer ‚Teil der Welt′ […]. Wir sind bloß Mitspieler. Über den Gegner können wir nicht verfügen, seine Spielstrategie bleibt, auch wenn wir die vergangenen Züge analysieren und Zukunftsszenarien entwerfen, nur begrenzt zugänglich und ändert sich womöglich dynamisch (das macht das Spiel ja so spannend).“ (ebd., S. 41)
Was Webers hier für das Schachspiel beschreibt, gilt gleichermaßen für den Einsatz des Materials im Coaching: Wie in allen projektiven Verfahren, die im Coaching eingesetzt werden, handelt es sich um eine Kybernetik zweiter Ordnung. Erst die Zuschreibung macht aus einer Zusammenstellung von Material (seien es nun Bilder, Bausteine, Naturmaterialien oder eben Spielfiguren) ein System. Im Austausch zwischen Coach und Klient entsteht Bedeutung. Dabei bleibt das Material der dynamischen Veränderung zugänglich und friert doch immer wieder einen bestimmten Zustand ein, so dass dieser der gemeinsamen Analyse zur Verfügung steht.
Hervorzuheben ist die eindeutige Kommunikation über Positionen auf dem Schachbrett: Es gibt klar definierte Felder und Feldbeziehungen – der Raum ist mithin deutlich strukturiert. Die Figuren weisen Differenzen auf, die ganz unterschiedliche Interpretationen ermöglichen. Mittels Mühle-Steinen lassen sich einzelne Figuren erhöhen, so dass auch eine Veränderung der Figuren selbst, nicht nur ihrer Positionen möglich ist.
Die Möglichkeit der eindeutigen Kommunikation von Systembeziehungen gewinnt in der Pandemiesituation an Bedeutung: Im Telefon-Coaching kann leicht mit zwei Spielbrettern die jeweilige Aufstellung mitvollzogen werden – jede Figur und Position kann exakt wiedergegeben werden, wozu man sich auch der üblichen Schachterminologie bedienen kann, aber nicht muss.
Natürlich sind Schachspiele auch in virtueller Form verfügbar – allerdings nahezu ausschließlich als Spielaufstellung und mit den vorgegebenen Spielzügen, was diese digitalen Varianten für die Nutzung im Coaching unbrauchbar macht. Daher wurde eine Online-Variante entwickelt, auf die ohne Beschränkungen zugegriffen werden kann. Diese erlaubt es, jede Figur beliebig oft an eine beliebige Position zu stellen. Es kann also z.B. auch drei Damefiguren oder fünf Könige geben. Die Online-Variante, die auch ein digitales Setting unterstützt, ist frei verfügbar unter: www.ibe-dresden.de/methodenpool/schach
Wie sieht nun das übliche Setting beim Einsatz dieser Methode aus? Dieses besteht aus dem Coach, dem Klienten, einem Schachbrett und möglichst mehreren Figurensets (zwei sind im Normalfall ausreichend). Mühle- oder Backgammonsteine können ergänzend eingesetzt werden, um wie beschrieben einzelne Figuren exponiert herauszustellen. Der Coaching-Ablauf setzt sich aus folgenden Schritten zusammen:
Im digitalen Setting bietet sich die Nutzung eines beliebigen Video-Tools an, das es erlaubt, den Bildschirm zu teilen. Der Klient ruft die Seite auf und beginnt unter Verwendung des oben genannten Online-Tools mit der Auswahl und Positionierung der Figuren. Der Coach unterstützt ihn hierbei anhand von Fragen. Ansonsten läuft die Sitzung ab, wie dies auch in Präsenz der Fall wäre. Das Online-Tool erlaubt es, zu beliebigen Zeiten Screenshots anzufertigen, so dass unterschiedliche Aufstellungen festgehalten werden können und es möglich ist, im Laufe des Coaching-Prozesses auf diese zurückzukommen. Die Arbeit mit Screenshots ermöglicht auch asynchrones Coaching, indem die Screenshots zwischen Klient und Coach geteilt werden, etwa über E-Mail oder eine gemeinsam genutzte Plattform.
Die Praxis sei hier am Beispiel einer Führungskraft geschildert, die nach langer Vakanz der Stelle in ein Führungstrio eintritt. Die Situation ist komplex: Das Team besteht aus drei Leitenden und zehn Mitarbeitenden in einer öffentlichen Einrichtung mit hoher Autonomie. Die Klientin ist die jüngste im Führungstrio und fühlt sich durch ihre Kollegen stark unter Druck gesetzt. Die beiden Kollegen haben während der Vakanz der dritten Position einerseits deren Aufgaben mitgetragen und andererseits auch deren Ressourcen untereinander aufgeteilt.
1. Klärung: Als Zielsetzung äußert die Klientin, dass sie mehr Spielraum brauche und eine andere Haltung gegenüber den Kollegen entwickeln wolle. Sie möchte ihre Prioritäten klären, diese umsetzen und herausfinden, wie sie mit den Kollegen künftig umgehen kann. CHESS dient zunächst dazu, die Konstellation und Situation zu erkennen.
2. Figurenauswahl: Die Klientin wählt drei schwarze Figuren. Für sich selbst einen Springer: „Ich bin dynamisch, ich springe dahin, wo man mich braucht.“ (Position auf dem Schachbrett: E5) Für den Kollegen A wählt sie einen König: „Er strahlt Autorität aus, tritt dominant auf, hat viel Einfluss, ist lange da, arbeitet gegenüber den Mitarbeitenden mit Furcht und Respekt.“ (E3) Für den Kollegen B greift sie einen Turm heraus: „Er ist plump, unsensibel, unfreundlich, neigt zu Mikromanagement und Kontrolle.“ (G8)
3. Aufstellung IST: Die erste Konstellation ist in Punkt 2 in Klammern angegeben und kann auf einem Schachbrett nachvollzogen werden: Es zeigt sich eine große Distanz der Führungsfiguren mit einer gewissen Nähe der Klientin zum Kollegen A. Außerdem fällt der Klientin auf, dass noch eine Randfigur fehlt: Es gibt eine weitere Führungsfigur, Kollegin C, die allerdings auf dem Absprung ist – sie wird als weißer Bauer dargestellt: „Sie ist konturlos, hält sich aus allem raus, hat innerlich bereits gekündigt.“ (A8) Diese Position wird nicht wiederbesetzt.
4. Positionswechsel: Die Klientin ist davon überzeugt, dass die Kollegen sich alle mehr oder weniger selbst auch so platzieren würden. Allerdings vertauscht sie ihre eigene Figur mit der Figur von A, so dass nun A im Mittelpunkt steht.
5. Überlegungen für veränderte Positionen: Die Klientin würde sich selbst gern mehr im Mittelpunkt sehen und zugleich auch näher an den Kollegen B heranrücken.
6. Neuaufstellung SOLL: Die Klientin verändert die eigene Position von E3 auf F6. Ihre Figur befindet sich nun zwischen den Figuren von A und B.
7. Check: Die Klientin hält eine Bewegung des Kollegen B, zu dem sie die Distanz verringern möchte, für unwahrscheinlich. Hier entsteht eine längere Diskussion zwischen der Klientin und dem Coach. Gemeinsam erörtern sie, ob und ggf. wie die Kollegen zu einer Positions- bzw. Verhaltensänderung motiviert werden könnten.
8. Reflexion der Handlungsoptionen: Hier werden insbesondere Schritte der Annäherung an A diskutiert – einschließlich der Frage, ob sich die Situation der Klientin durch eine Annäherung verschlechtern könnte und inwiefern die angestrebte Konstellation zur Erreichung der Ziele beitragen kann.
9. Mit etwas Abstand wird die Handlungsplanung vorgenommen. CHESS dient nun als Ankerbild, damit die Klientin sich in Erinnerung rufen kann, welches Ziel sie hat. Insbesondere plant die Klientin Einzelgespräche mit den Kollegen.
10. Umsetzung: Die geplanten Schritte werden umgesetzt.
11. Überprüfung: Die Klientin bemerkt an dieser Stelle, dass sich ihre Haltung zu den Kollegen bereits verändert habe. Die Einzelgespräche haben dazu geführt, dass sie die Kollegen in ihrer Haltung besser verstehe. Zudem haben sie dazu beigetragen, auch deren Ängste vor Bedeutungsverlust abzubauen. Andererseits hat die Klientin das Gefühl, insbesondere von Kollege A mehr Handlungsspielraum zu erhalten.
12. Reflexion: Zwar ist die Klientin mit der neuen Situation nicht vollkommen zufrieden, aber sie schätzt sie als bedeutend besser ein als zuvor. Sie denkt, dass ihr der Positionswechsel gelungen ist.
Die geschilderten zwölf Schritte wurden in drei Sitzungen über einen Zeitraum von etwa drei Monaten gegangen. Für die letzten Schritte wurden auch weitere Techniken eingesetzt, allerdings spielte der Rückgriff auf CHESS – insbesondere auf die als Ankerbild visualisierte Zielsetzung – durchgängig eine Rolle.
Coaches sollten Erfahrungen im Bereich der systemischen Arbeit vorweisen können. Wissen über projektive Verfahren ist ebenfalls von Vorteil.
Benötigt werden ein Schachbrett sowie mindestens zwei Figurensets. Mühle- oder Backgammonfiguren können integriert werden. Ein Online-Tool, das insbesondere im digitalen Setting eingesetzt werden kann, ist frei verfügbar (siehe Abschnitt „Kommunikation mittels CHESS“).
Die Arbeit mit den Schachmaterialien ermöglicht die Visualisierung des Zielbildes, das festgehalten und fortan als Ankerbild fungieren kann. Erfahrungsgemäß unterstützt das Ankerbild dabei, sich während der Handlungsplanung und Umsetzung auf die eigenen Ziele und Wünsche zu besinnen und nicht vom angestrebten Weg abzukommen, wenn dieser durch besondere Hürden erschwert wird.