Die Geländeanalyse, ein Coaching-Tool, welches das System des Klienten über eine Themenlandkarte visualisiert, stammt aus der militärischen Operationsplanung, bei der eine geopolitische Analyse der Situation elementarer Bestandteil ist. Die hier vorgestellte Weiterentwicklung ergänzt die originäre Idee um das Motiv der Reise zu sich selbst und verbindet es mit der Wirkung von Metaphern, inneren Bildern und einer Visualisierung. Im Kern steckt die Idee, das System des Klienten zu analysieren und Handlungsoptionen auszuloten.
Die Geländeanalyse kann in Einzel-, aber auch in Team-Coachings angewandt werden. Das Tool ist vor allem in der Anfangsphase zum vertieften Kennenlernen und zur Rapportbildung von großem Nutzen. Insbesondere bei Klienten mit Schwierigkeiten, ihre Empfindungen und Bewertungen in Worte zu fassen, bietet die Metapher des Landes eine Brücke zur Verbalisierung. Für die folgenden Anlässe eignet sich die Geländeanalyse besonders:
Die Geländeanalyse schafft ein Abstraktionsniveau, das es dem Klienten ermöglicht, gleichzeitig mit sich emotional verbunden zu sein und aus der Meta-Ebene auf sich und sein Thema zu blicken. Dies schafft einen Perspektivwechsel, der in einem sicheren Rahmen auch ungewöhnliche Erkenntnisse auf mehreren Ebenen (Verhalten, Haltung, Werte) zulässt. Klient und Coach lernen das System des Klienten kennen, in der Tiefe verstehen und entdecken relevante Faktoren. Die Geländeanalyse ermöglicht eine Zielformulierung oder hilft – je nach Anliegen – bei der Entscheidungsfindung. Dem Coach bietet die Geländeanalyse eine Rahmenstruktur, die zeitgleich flexibel genug ist, um auf eine Problemaktualisierung eingehen zu können.
Herleitung: Die Geländeanalyse dient im militärischen Kontext dem geographischen und geopolitischen „Assessment“ eines Gebietes. Dies geschieht aus unterschiedlichen Perspektiven. Zunächst erfolgt eine (1) Beschreibung des Gebietes anhand bestimmter Kriterien wie z.B. Oberflächencharakteristik, Ausdehnung, Infrastruktur. Daraus leitet sich eine (2) Bewertung der eigenen Möglichkeiten ab. Abschließender Schritt ist (3) die Einschätzung, wie andere das Gebiet bewerten würden.
Klassischerweise erfolgt die Analyse im Hinblick auf drei mögliche Operationsarten:
(1) Angriff: Hier sucht man im Land des Gegners nach Räumen, die ein schnelles Vorstoßen ermöglichen und ihn mit Wucht und Geschwindigkeit überraschen. Der Gegner soll seine Raumtiefe für eine flexible und am Gelände ausgerichtete Verteidigung nicht nutzen können. Der Fokus der Bündelung der Energie ist also nach außen auf den Gegenspieler gerichtet.
(2) Verteidigung: Ziel ist es, Möglichkeiten, die das Land bietet, zu nutzen, um den Gegner zu verlangsamen und zu stoppen. Der Fokus der Energie liegt darin, innerhalb des eigenen Terrains Schutz aufzubauen.
(3) Stabilisierung: Bezieht sich vor allem auf interne Konflikte und strebt an, ein sicheres Umfeld für den nachfolgenden Aufbau zu schaffen.
Transferiert man die Logik des operativen Planungsverfahrens westlicher Militärs auf individuelle Entwicklungsprozesse im Coaching, wird der Klient auf unterschiedlichen Ebenen angesprochen, getriggert und aus der Komfortzone in einen „Raum“ bisher unbekannter Möglichkeiten gelockt. Durch vier Anknüpfungspunkte ist für den Klienten der Anreiz gegeben, sich auf das Tool einzulassen. Dem Coach bieten sie die Möglichkeit, je nach Lerntyp des Klienten eine unterschiedliche Sprache zu wählen und Schwerpunkte zu setzen:
(1) Das Motiv der Reise spricht jeden an, der mal gereist ist bzw. die Sehnsucht danach verspürt, und ist zudem jahrhundertealt. Das Thema Reise, hier zu sich selbst, weckt Neugier und Abenteuerlust und ist zumeist positiv besetzt. Eine Erweiterung des eigenen Horizonts durch Reisen wirkt attraktiv, sodass die Geländeanalyse insbesondere für Coaching-Neulinge ein niedrigschwelliges Angebot ist, das Selbstexploration in einem sicheren Rahmen ermöglicht.
(2) Die Metapher „Meine Person als Land“ ermöglicht es dem Klienten, Dinge zu erkennen und zu verbalisieren, die vorher nicht klar benannt werden konnten. Dies liegt zum einen an dem erwähnten Abstraktionsniveau und der damit verbundenen positiven Distanz, aus der der Klient sich selbst betrachten kann. Aber auch daran, dass an der Verarbeitung von Metaphern beide Gehirnhälften beteiligt sind, wie Moskaliuk (2014) beschreibt: „Der Einsatz von Bildern und Metaphern im Coaching kann also Verstehen erleichtern und die emotionale Beteiligung erhöhen. Mit einer bildhaften Sprache können Gehirnregionen mit einbezogen werden, die bei einer wörtlich zu verstehenden Sprache nicht aktiviert sind.“
(3) Innere Bilder, die die Arbeit mit der Geländeanalyse hervorruft, knüpfen häufig an erlebte Reisen, Sehenswürdigkeiten, Landschaften oder Bekanntschaften an. Diese Verknüpfung mit vorhandenen Erinnerungen – kombiniert mit der ressourcenorientierten Haltung und dem Abstraktionsgrad der Metapher – ermöglicht eine Form von „angestrengter Leichtigkeit“ und das Erkennen neuer Möglichkeiten. Die neuen inneren Bilder sind in der Lage, die Entscheidungen und das Handeln des Klienten zu beeinflussen, in dem sie Komplexität reduzieren und als Bilder besonders lebendig, klar, konkret und leicht verfügbar sind.
(4) Der vierte zentrale Aspekt ist die Visualisierung des eigenen Landes als Landkarte. „Visualisierung ermöglicht Distanzierung, weil man mit Abstand und gelegentlichem Augenzwinkern auf Dinge schauen kann.“ (Fischer-Epe, 2012, S. 57) Das entstehende Bild des Klienten setzt einen visuellen Anker, der einen hohen Erinnerungswert hat. Zeitgleich stellt die Visualisierung ein dialogisches Angebot dar, bei dem der Coach nachfragen kann. Der Klient muss tätig werden, indem er die Visualisierung vornimmt, und es entsteht ein Produkt, welches der Klient mitnehmen kann.
Der Coach führt zunächst eine klassische Auftragsklärung durch und entwickelt ein Gefühl, ob die Geländeanalyse eine hilfreiche Methode für den Klienten ist. Der Einstieg in die Methode kann unter Rückgriff auf animierende und humorvolle Fragestellungen erfolgen (z.B.: Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, welche Nationalhymne Sie hätten, wenn Sie ein Land wären?).
In der eigentlichen Methodenarbeit führt der Coach den Klienten anhand der folgenden Dimensionen:
(1) Räumliche Dimension (Ferne – Nähe): Die Betrachtung des Landes startet mit der „Satellitensicht“, danach wird es mit einem Heißluftballon überflogen und zuletzt mit einem Auto bzw. zu Fuß durchquert.
(2) Perspektiven und Möglichkeiten: Was sehe ich? Was sehen andere, wenn sie von außen in das Land schauen? Was ist da, kann aber nicht gesehen werden (unter der Oberfläche)? Welche Handlungsoptionen ergeben oder verbieten sich aufgrund dessen, was man sieht?
(3) Zeitliche Dimension: Welche Historie hat das Land, welche Kämpfe gab es? Wie erklärt sich der Zustand des Landes? Wie sieht die Zukunft des Landes aus?
Wichtig ist, die Anwendung der Methode in Bezug zum Anliegen des Klienten zu setzen: Reden Coach und Klient über „Angriff“, „Verteidigung“ oder „Stabilisierung“? Im Coaching-Kontext haben die drei Operationsarten die folgenden Konnotationen:
Je nach Art des Anliegens und Kontextes spielen mögliche Nachbarländer (Mitarbeiter, Vorgesetzte, Kollegen, Freunde etc.) eine mehr oder weniger ausgeprägte Rolle. Relevante Stakeholder müssen in die Visualisierung einbezogen werden.
Der Klient muss eine berufliche Entscheidung treffen. Es geht darum, ob er sich auf eine neue, auf ihn zugeschnittene Stelle im gleichen Unternehmen bewerben soll, oder noch auf der jetzigen Position verbleiben sollte.
Eine weitere Klärung des Anliegens führt zur Feststellung, dass der Klient keinen richtigen Zugriff auf die Gesamtsituation bekommt. Die Zielsetzung für die Sitzung wird formuliert: „Wenn sich das Coaching für mich gelohnt hat, weiß ich, ob ich mich auf die Stelle bewerben möchte.“
Der Coach entscheidet sich für die Methode der Geländeanalyse, da die Visualisierung geeignet scheint, das Bedürfnis des Klienten nach Klarheit zu befriedigen, und die Möglichkeit bietet, relevante Personen fließend zu integrieren. In der Terminologie der Methode beschäftigt sich der Klient mit der Frage nach möglichem Wachstum: Stabilisierung oder Angriff? Der Coach leitet das Tool ein, indem er dem Klienten erklärt, dass beide gemeinsam auf den Klienten schauen und sich dabei der Metapher des Landes bedienen – zur Abstraktion und zum Perspektivwechsel.
Der Klient visualisiert auf einem Flipchart die Form seines Landes. Der Coach führt ihn durch Fragen: Wenn Sie Ihr Land aus der Ferne – beispielsweise von einem Satelliten aus – betrachten würden:
Der Klient beginnt zu zeichnen, gewinnt so Abstand zu sich und nutzt die Möglichkeit, sich selbst (vorübergehend) zu abstrahieren und nicht sagen zu müssen: „Ich mache das ... Ich bin so ...“ Zu der rundlichen Form des Landes fügt der Klient einen Fluss hinzu, der sich durch das Land schlängelt, es in zwei Teile splittet und aus Satellitensicht zu erkennen ist: Der Klient zeichnet nach einer kleinen Pause Freunde und Bekannte als süd-westliche Nachbarn ein, im Westen ein Nachbarland ohne Namen und im nord-westlichen Bereich Arbeitskollegen und Vorgesetzte.
Der Coach erhöht die Auflösung des Bildes durch tiefergehende Reflexionsfragen: Wenn Sie Ihr Land aus der Ferne, beispielsweise aus einem Heißluftballon, betrachten würden:
Nördlich des Flusses entsteht eine Stadt, in der das „Leben brodelt und viele Sprachen gesprochen werden“, eine Brücke überquert ostwärts den großen Fluss, um zwischen den Landesteilen hin und her wandern zu können. Südlich des Flusses erscheint ein Dorf und neben der Brücke wächst ein großer Wald. Der Coach bittet den Klienten, mit dem Ballon die Grenzen des Landes abzufliegen und sie zu beschreiben:
Bei der Frage nach den Grenzen grübelt der Klient und sagt: „Es gibt keine sichtbaren Grenzen, manchmal merken die Menschen gar nicht, dass sie eine Grenze überschreiten.“ Der Klient überlegt und kommt zur Schlussfolgerung, dass Abgrenzung oft nicht einfach für ihn ist.
Der Coach erhöht die Auflösung des Bildes abermals, um auf das Abgrenzungsthema tiefer einzugehen, und fragt nach Stimmungen und dem Profil des Landes: Wenn Sie mit dem Auto durch ihr Land fahren würden:
Der Klient hat mittlerweile ein sehr komplettes, buntes und lebendiges Bild seines Landes entwickelt. Im Kern charakterisiert er es als einen Ort, den Menschen sehr gern besuchen. Der „USP“ des Landes ist die Fähigkeit, Menschen zu verbinden. Dieser USP erklärt für den Klienten auch sein Problem, sich gelegentlich deutlicher abzugrenzen: „Wer Menschen verbindet, zieht keine unüberwindlichen Grenzen!“ Zusammen mit der Lebenslust der Bewohner bietet sich ein stabiles Fundament für weiteres Wachstum. Gleichzeitig stellt der Stamm der Beamten im südlichen Dorf sicher, dass immer genügend Struktur aufrechterhalten wird und die vorhandene Freiheit in einem für den Klienten sicheren Rahmen ausgelebt wird.
Der Coach stellt den Bezug zum Anliegen her und fragt den Klienten, wie das Land mit dem harmoniert, was die neue Position verlangt. Die zentrale Erkenntnis: Der USP des Klienten passt exakt zu den Anforderungen der neuen Position: Die Fähigkeit, Menschen zu verbinden, wird von herausragender Bedeutung sein. Der Coach bittet den Klienten, eine kurze „Regierungserklärung“ für sein Land zu verfassen, in welcher die Fragen beantwortet werden:
Der Klient stellt fest, dass die unterschiedlichen Facetten, die die neue Stelle mit sich bringt, durchdacht und aus verschiedenen Winkeln beleuchtet sind. Dies gibt ihm auch in schwierigen Zeiten die Gewissheit, sich bewusst entschieden zu haben. Durch die Regierungserklärung ist nun auch der konkrete Weg klar.
Es ist sinnvoll, dieses Tool im Selbst-Coaching zu erproben, um ein Gefühl für die unterschiedlichen Tiefen der Fragen zu bekommen. Eine gewisse Affinität zum Reisen und auch zu den militärischen Begriffen sollte vorhanden sein, damit der Coach authentisch wirkt.
Das Tool ist besonders geeignet für Klienten, die gern reisen und mit imaginativen Verfahren gut arbeiten können. Bei Konflikten oder zur Klärung der Beziehung zu einer Person, empfiehlt es sich, den beschriebenen Ablauf auch mit dem „anderen Land“ durchzugehen.
Die Durchführung der Geländeanalyse erfordert ein Flipchart und bunte Stifte. Der Prozess und die Ergebnisse sollten schriftlich dokumentiert werden. Der Zeitbedarf beträgt ca. 120 Minuten.