Mich haben Fragen danach, was den Menschen zur Person werden lässt, schon immer interessiert. Schon in der Jugend habe ich mein Umfeld mit der Frage genervt, warum sie die sind, die sie sind, und warum nicht andere? Weniger aus Trotz, eher aus Interesse an den Antworten, vor allem von denen, die zur Kriegsgeneration gehörten und die mich mit ihren Erzählungen aus jener Zeit beeindruckten.
Einer von ihnen war einer meiner Großväter, der als Kupferschmied im Ruhrgebiet ein kleines Unternehmen führte. Irgendwann im Frühling 1923 wollte er vom Ersparten ein größeres Haus für die Familie kaufen, doch am Tag des Notartermins war über Nacht die Inflation explodiert und, so meine Mutter‚ das Geld für das Haus nur noch einen Brotlaib wert.
Auch diese Geschichte motivierte mich, ein Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften aufzunehmen. Ich wollte die Zusammenhänge begreifen, vor allem ihre Wirkungen auf den Menschen. So saß ich viele Stunden auch bei den Psychologen und fokussierte mich nach und nach immer mehr auf das, was mich am meisten reizte, auf das People Management.
Dass sich diese Neigung schnell in Richtung Bildungsmanagement und Kulturentwicklung konkretisierte, ergab sich durch die Verantwortung, die mir nach meinem Studium in den ersten beiden Unternehmen übertragen wurde. Als Leiter des Gesamtschulungsbereiches eines Pharmagroßhandelsunternehmens in Stuttgart war ich für Qualifizierungsprogramme für Apothekenpersonal zuständig. Dazu gehörte auch der Einkauf von Trainings- und Beratungsleistungen.
Nach einigen Jahren wechselte ich dann in den Mutterkonzern Haniel und kam damit unerwartet zurück in meine Heimatstadt Duisburg. Haniel investierte damals in ein eigenes Bildungszentrum für alle Führungskräfte und legte als eines der größten Familienunternehmen Deutschlands sehr viel Wert auf Bildung, Unternehmenskultur und fortschrittsfähiges Management – und das schon zu einer Zeit, wo diese Themen noch gar nicht so umsorgt wurden. Als Bereichsleiter für das Trainingsmanagement mit entsprechender Personalverantwortung für die internen Trainer war es jetzt auch an der Zeit, eine eigene Ausbildung zu absolvieren – nicht, um als Trainer zu arbeiten, sondern um mein Wissen um Methodik und Didaktik für eigene Bildungskonzeptionen zu bereichern.
Und dann besuchte mich Kommissar Zufall. Auf einem Haniel Führungskräftekongress traf ich einen Mitarbeiter von Jürgen Rüttgers und bekam so Kontakt zur Politik …
Richtig. Dieses Ministerium schob die Themen Technologiefortschritt und Zukunftsgestaltung offensiv ins Zentrum. Eine der damit verbundenen Initiativen war die Idee einer Europa Akademie für Führungskräfte, die ich dann in Form einer „Academy of Change“ als Gründungsgeschäftsführer mit meiner Staff und einer internationalen Fakultät in die Tat umsetzte. Es war eine Plattform für junge Führungskräfte aus Europa, die sich mit dem Thema Veränderungsmanagement beschäftigten, was Mitte der 90er absolut „heiß“ war. Bücher über Changemanagement füllten quasi über Nacht die Regale. Man kann sagen, es war die richtige Zeit und der richtige Ort für eine Institution mit derartiger Ausrichtung.
Nachdem nach vier Jahren die Akademie aufgebaut war und in eine Folgeorganisation übergehen konnte, zog es mich zurück in die Pharmabranche und ich übernahm in Köln die Leitung der Führungskräfte- und Kulturentwicklung des französischen Branchenprimus Rhône-Poulenc Rorer.
Stimmt. Kurz nachdem ich erste Projekte aufgegleist hatte, rief mich mein schottischer Matrix-Vorgesetzter an und meinte: „Ralph, wir wollen in Europa das Thema Vertriebs-Coaching aufbauen. Ihr seid das größte Pharmaland, also mach was draus.“ Dass das Coaching nicht in Frankreich zuerst implementiert wurde, lag damals an der recht strengen Führungskultur, in der neben dem Vorgesetzten und dessen „Patron“ ein Einfluss nehmender Coach nicht akzeptiert worden wäre.
Aber neugierig war man schon, ob sich durch Coaching die Vertriebsperformance verbessern würde. Schließlich war man vor Ort die Nummer 1, während wir in Deutschland nicht unter den Top 10 rangierten. Da war der Leidensdruck entsprechend.
Das kann man schon sagen. Zuerst einmal war ich relativ jung in der Organisation und dann eine derart umfangreiche Aufgabe, das war schon sportlich. Und das auch noch mit dem Hinweis, wenn wir als Pilotorganisation gute Ergebnisse liefern, dann sind wir Vorbild für andere Länder und uns würde als nächstes Italien folgen.
Dann war Coaching für alle in meinem Umfeld neu, selbst die Geschäftsleitung hatte keinerlei Berührung damit. Aber nun kam die Order aus Paris und auf einmal wurde überall davon gesprochen, wenn auch in einer Art professioneller Inkompetenz: Man spricht über etwas, weiß aber eigentlich nicht so richtig, worüber.
Aber immerhin, das Interesse war da und man vermutete nun bei mir, der zuvor erst einmal in anderem Zusammenhang mit einem Coach gearbeitet hatte und genauso unwissend vor einem leeren Blatt saß, ein geheimes Knowhow.
Was ich aber definitiv wusste, war, dass die drängendste Frage zu beantworten war: Wo finden wir für 450 Außendienstmitarbeiter qualifizierte Coaches mit Branchenverstand und nachweisbaren Vertriebserfolgen? Die gab es damals nicht auf dem freien Markt. Also haben wir die besten Mitarbeiter aus dem Vertrieb durch ein Auswahlverfahren identifiziert, indem wir ein Rollenbild eines Vertriebs-Coachs definierten, es vorstellten und die Kollegen, die wir letztlich für einen Rollenwechsel gewinnen konnten, anschließend vom Horst Rückle Team qualifizieren ließen. So kam ich über diesen Prozess in den Genuss, mit zehn Topvertrieblern das Coaching bei uns zu implementieren.
Natürlich wollte ich nun aber auch selbst wissen, wie ein Coach arbeitet. Deswegen habe ich Horst Rückle gebeten, mit mir Ausbildungsinhalte zusammenzustellen, durch die ich neben allem Methodenwissen auch für die Themen „Etablierung von Coaching in einer Konzernorganisation“ und „Coaching als Element der Kulturentwicklung“ Antworten erhielt. Und da für meine Belange eine Gruppenausbildung unpassend war, entwarf ich das Format einer Individualqualifizierung, die heute noch meine eigenen Ausbildungsangebote prägt.
Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass bei diesem Vorhaben nicht nur Coaching implementiert, sondern auch eine völlig neue Vertriebs- und Führungsstrategie etabliert wurde. Man muss sich das so vorstellen: Die Außendienstler hatten zuvor ihren Regionalleiter als Vorgesetzten. Der war für alles verantwortlich, er entschied über alles, konnte Zielsetzungen definieren und über Karrieren bestimmen – er war der König in seiner Region.
Das änderte sich nun. Die zuvor als Einzelkämpfer arbeitenden Mitarbeiter formten untereinander nach bestimmten Kriterien Vertriebsteams und die Vorgesetzten waren nun für die Zahlen-Performance ihrer jeweils vier Teams in der Verantwortung. Übergeordnet bildete ich mit den beiden Direktoren für Marketing und Vertrieb eine neue Führungsebene. Meine Kollegen waren für Marktstrategie, Pricing und alle diese Fragen verantwortlich. Ich für den Bereich der Qualifizierung von Vertriebsmitarbeitern und in diesem Kontext für die Qualität des Coachings durch die neuen Coaches. Das führte letztlich dazu, dass jeder Außendienstler zwei Vorgesetzte hatte: Den regionalen Business-Manager, der seine Teams disziplinarisch führte und einen meiner Mitarbeiter, der die qualitative Entwicklung der Vertriebler weisungsbefugt begleitete.
Dieses Konstrukt war unglaublich befruchtend, weil wir den Wissenstransfer auf ein völlig neues Niveau hoben. Aber es erzeugte auch Reibung, denn die Mitarbeiter mussten sich an diese Arbeitsteilung erst gewöhnen und daran, dass ehemalige Kollegen jetzt als Führungskräfte ihre Coaching-Kompetenz einbrachten. Ich selbst hatte zwischen diesen Stühlen immer wieder zu vermitteln.
Ihre Situation veranschaulicht eine kleine Anekdote sehr gut: Während einer Vertriebstagung kam unser Geschäftsführer auf die Bühne und stellte die neue Struktur und das Konzept des Coachings vor. Als ein Außendienstkollege fragte, was eigentlich passieren würde, wenn die Coaches nicht erfolgreich wären, meinte er in seinem Berliner Slang: „Dann schalten wir datt Janze nach einem Jahr wieder ab.“
Ein leichtes Zucken ging durch die Reihe meiner Mitarbeiter. Denn ihnen war mit der Annahme der neuen Rolle vollkommen klar: Ihr Status war nicht mehr der eines Top-Salesprofis, sie waren nun Coaches – die Verantwortung war enorm und mit ihr auch die Verunsicherung. Zugleich wurde ihnen das Risiko bewusst, dass ihre Kollegen etwas von ihnen erwarten, das auch für sie noch nicht berechenbar war, nämlich Wirkung.
Die Folge war, dass wir uns direkt nach dieser Tagung zusammengesetzt und ein Coaching-Controllingsystem konzipiert haben. Mit diesem Tool konnten die Kosten des Coachings im Vergleich zu quantitativen oder qualitativen Vertriebszielen individuell gegengerechnet werden. So konnten wir sehen, wie sich der Umsatz entwickelte, den ein Mitarbeiter verantwortete, wie viele Neukunden akquiriert oder wie schnell Produkteinführungen realisiert wurden.
Nach drei Jahren evaluierten wir und sahen, dass die circa drei Mio. DM an Gesamtkosten durch berechenbare und preisbereinigte Erträge um gut 300 Prozent überkompensiert wurden.
Nein, zumal Trainings wie immer bedarfsorientiert zusätzlich angeboten wurden. Es war Coaching, wie man es auch heute versteht: Persönliche Begleitung in den Fragen rund um die eigene Rolle im Vertrieb, Verbesserung der kommunikativen Effizienz, Arbeitsmethodik und Konfliktminderung, sei es im Team als auch in den Verhandlungen mit Kunden. Die allgemeinen Produkt- oder Verkaufstrainings wurden beibehalten, rückten aber in ihrer Bedeutung zunehmend in den Hintergrund.
Ganz genau! Das Coaching dehnte sich zudem über die Zeit auf ein größeres Thema aus, nämlich den Umgang mit Umbruchsituationen. Gerade dies wurde 1999 von immenser Bedeutung, als sich unsere Fusion mit der Hoechst AG abzeichnete und die Firma Aventis entstand.
Äußerst erfreulich für mein Coach-Team und mich war, dass kein Vertriebsmitarbeiter am Ende fusionsbedingt seinen Job verlor. Man kann sagen, das eingeführte Vertriebs-Coaching hat hier Arbeitsplätze gesichert, denn das Auftreten und die Professionalität der Mitarbeiter wurden über die Jahre ihrer Entwicklung einfach top.
Mich hat das sehr beruhigt, bevor ich mich zum 1. Januar 2000 selbständig machte. Privat hatten meine Frau und ich die Zelte in Augsburg aufgeschlagen und nachdem mich die „Faszination Coaching“ nicht mehr losgelassen hatte, gründete ich mein Unternehmen mit den Schwerpunktthemen Change, Rollenklärung und Kommunikation, anfangs mit meinem Hauptkunden Aventis.
Das Jahr 2003 war ein Krisenjahr. Die Konjunktur sank ab, die Arbeitslosenquote war hoch, der Osten war immer noch keine blühende Landschaft. Viele meiner Klienten äußerten Zweifel und stellten sich Fragen wie „Ist das, was ich tue, noch sinnvoll?“, „Wie sieht meine Zukunft aus?“, „Wer bin ich eigentlich und wenn ja, wie viele?“, „Wie vermeide ich, weiterhin das Leben anderer zu leben?“.
Klienten, die mit solchen Themen zu mir kamen, wollten nicht in erster Linie an Zielen, konkreten Maßnahmen oder irgendwelchen Tagesproblemen arbeiten, sondern substanzielle Fragen klären: Wie entwickle ich ein Konzept für mein weiteres Berufsleben? Was kann ich tun, damit ich ein gelingenderes Leben führe? Wie verwirkliche ich besser, was mir von Bedeutung ist?
Hierzu passte auch das Anliegen des HR-Chefs eines schnell wachsenden Telekomunternehmens, der zügig Personal einstellen sollte. Er hatte ein hohes Qualitätsverständnis, weshalb er sich viel Zeit für die Gespräche mit Bewerbern nahm und auch die Methoden sorgsam auswählte, um aus seiner Sicht zu guten Entscheidungsempfehlungen zu kommen. Er wollte die Bewerber eben richtig kennenlernen und die bestmögliche Wahl treffen.
Nur war dieses Vorgehen der Geschäftsführung ein Dorn im Auge, und er wurde kritisiert, er sei deutlich zu langsam. Während einer Seminarveranstaltung konfrontierte die Geschäftsleitung ihn mit einer damals beliebten Übung, dem Elevator Pitch: „Erkläre mir in 30 Sekunden, wer du bist“. Hierbei scheiterte er vollkommen und erhielt das Feedback, dieses Unvermögen, nicht „zackig auf den Punkt zu kommen“, sei ja Spiegelbild seiner Langsamkeit im Tagesgeschäft.
Da saß der Klient also vor mir und wollte sich „aber nicht einfach auf eine halbe Minute Selbstbeschreibung reduziert wissen“. Er wollte eine Qualität des Miteinanders erhalten, und da passten Klischees und Plattitüden für ihn nicht ins Bild – und doch kam er in Selbstzweifel: „Bin ich vielleicht wirklich nicht geeignet für diesen Job?“
Im Gespräch über seine Biografie und die Werte, die sein Verhalten und seine Handlungen auszeichneten, stellte er fest, dass er die wichtigsten Entscheidungen stets gründlich und unter Berücksichtigung vieler Einzelaspekte getroffen hatte. Als er nun die Erwartungen der Geschäftsführung an ihn reflektierte, knüpfte er die aktuelle Rollenproblematik und seine biografischen Erinnerungen zusammen und stellte sich die Frage, ob sein bisheriges Vorgehen wohl richtig und vor allem sinnvoll war, ob die Gründlichkeit sein Leben vielleicht nicht seit jeher erschwert hatte?
Es gelang zwar gut, mit ihm einen kommunikativen Ausweg aus dem Gap zwischen den Erwartungen Dritter und seinem Selbstverständnis zu finden, doch merkte ich selbst, dass mir für tiefgängigeres Arbeiten an Anliegen aus dem Bereich der Sinn- und Werteproblematik ein stärker fundierter methodischer Rahmen fehlte. Wertentwicklung, Umgang mit Wertekonflikten und Sinnkrisen, Lebensbedeutungen – diese Stichworte führten mich nach eingehender Recherche zur Sinntheorie und sinnzentrierten Psychotherapie von Viktor Frankl.
In der Tat fokussiere ich in diesem Coaching-Format auf die Frage, welche Werte der Klient hat, welche davon als rollenrelevant angesehen werden und wie die Person durch Verwirklichung ihrer Werte ihre ausgeübte Tätigkeit als sinnvoll und erfreuend empfindet. Werden nun Werte durch andere Personen nicht „geschätzt“, so ist zu klären, wie der Klient mit diesem Konflikt umgehen kann, welche Konsequenzen er verantworten will, wenn er auf der Basis seiner Werte seine Rolle ausübt, sich authentisch verhält und dies in Kritik gezogen wird.
Dies war ja der Fall: Der Klient bekam Kritik aufgrund des an ihm wahrgenommenen Verhaltens: Andere interpretierten als Langsamkeit, was für ihn Gründlichkeit und Respekt vor der anderen Person war. Als dem Klienten bewusst wurde, welche Bedeutung diese Werte in seinem Leben hatten, merkte er, dass die Kritik im Grunde nicht die zu geringe Geschwindigkeit, sondern gerade das unterschiedliche Verständnis von Respekt betraf. Einerseits fühlte er sich in seinem Rollenverständnis diskreditiert, dann sah er die Geschäftsleitungsforderungen im Widerspruch zur gerechtfertigten Erwartung von Bewerbern, mit ihnen und ihren Zukunftsvorstellungen achtsam umzugehen. Und letztlich empfand er auch die Form der geäußerten Kritik als tendenziell respektlos. Konnte er in dieser Firma seine Rolle zukünftig wohl sinnvoll gestalten? Die konsequente Antwort: Nein. Er verließ das Unternehmen – wie er mir später mitteilte, eine sich gut anfühlende Entscheidung.
Ja, die Logotherapie, wie Frankl die von ihm begründete Dritte Wiener Schule der Psychotherapie nennt, stößt wie alle anderen Therapien auch irgendwann an eine Grenze. Ich erlebe sie dann, wenn ein Klient berichtet, immer wieder in Lebensfallen zu tappen, deren Ursprung er in Situationen aus seiner Kindheit sieht. Wenn ich dann den Eindruck habe, dass hier Klärungsarbeit hilfreich ist, berate ich den Klienten entsprechend und adaptiere Interventionen aus der Schematherapie, einer Weiterentwicklung der Verhaltenstherapie, ins Coaching.
Dies bleibt jedoch, so es irgend geht, die Ausnahme, denn absolut vorrangig folge ich Frankls Konzept, der sich stets gegen ein Gründeln in der Vergangenheit im Sinne einer Hyperreflexion des Gewesenen aussprach. Menschen, die diese Perspektive einnehmen, laufen Gefahr, sich mit permanentem Fragen nach „Was ist in meinem Leben falsch gelaufen?“, „Wer ist schuld?“ usw. zu blockieren und nicht ihr Recht auf ein gelingendes Leben einzulösen.
Ja, diesen Trend hat Frankl eigentlich zeitlebens kritisiert. Um dem folgen zu können, muss man ein bisschen von seinem Menschenbild verstehen und von dem, was die Logotherapie so speziell macht. Allgemein lässt sich dazu sagen, dass die Logotherapie stets eine parallele Bewegung zu den Entwicklungen der Psychotherapie war und gleichzeitig den Gegenstrom zum jeweiligen Zeitgeist markierte.
Was heißt das? Wenn man die Schriften Frankls chronologisch studiert, dann fällt auf, dass er sich nicht nur mit den Lehren der Psychodynamik seiner Lehrer Freud und Adler kritisch auseinandersetzte. Vielmehr kommentierte er durchaus scharf die Strömungen des Biologismus der 1940-1950er Jahre, des sich anschließenden Behaviorismus, des ab den 1970er Jahren Einfluss nehmenden Transpersonalismus und letztlich bis zu seinem Tod, 1997, des Psychologismus. Was er da kommentierte war der Reduktionismus, den auf ihre Weise alle „Schulen“ praktizierten und dessen entschiedener Gegner Frankl war.
Reduzierte die Psychoanalyse den Menschen auf seine individuelle Vergangenheit und sein Triebsystem, so wurde er im Biologismus auf seine kollektive Vergangenheit und die Zugehörigkeit zu einer Rasse begrenzt. Es folgten Menschenbilder, die ihn von seiner Umwelt als determiniert ansahen, von seinen Gefühlen oder auf sein „Selbst“ aus Emotion und Kognition reduziert.
Würde Frankl noch leben, so wäre vermutlich die Reduktion auf die neuronalen Prozesse der nächste Zeitgeist, dem er sich entgegenstellen würde. Dabei ist das Reduzieren an sich nicht das Problem, sondern wird erst zu einem, wenn die jeweilige therapeutische „Schule“ glaubt, aus dem Reduzierten auf das Ganze schließen zu können.
Neben dem Reduktionismus gibt es noch etwas anderes, das in Frankls Konzept anders ist: Während im Blick der anderen Schulen der „Mensch als Mensch“ steht, erweitert die Sinntheorie dieses Bild dahingehend, dass der „Mensch als Mensch und zusätzlich als Mensch in der Welt“ verstanden wird. Was vielleicht trivial klingt, ist nun für ein sinnorientiertes Coaching von Belang, denn ich setze in dieser Arbeit auf die Annahme, dass der Sinn, nach dem ein Klient sucht, in der Welt ist – er ihn sich ergo selbst nicht machen kann. Ist Sinn in der Welt und will der Klient ihn finden, dann braucht es dazu ein Stück Selbstdistanzierung. Gelingt diese der Person nicht, dann kreist sie quasi um sich selbst auf der Suche nach etwas, was sie nur außerhalb von sich finden kann.
Dem Klienten dabei zu helfen, den erforderlichen Perspektivenwechsel zu schaffen, wird dann mein Auftrag, wenn es ihm um existenzielle Fragestellungen nach Sinn und Werten geht oder wenn er sich in einer Krise befindet, deren Ausweg er nicht sieht.
Dieses Thema habe ich in meiner Promotion bearbeitet: Ich habe dabei die Krisentheorie, die seit den 1960er Jahren nahezu unverändert geblieben ist, mit Frankls Sinntheorie verknüpft. Ein zentraler Aspekt davon ist: Eine Krise wird erst dadurch zur Krise, wenn die Person in einen für sie unüberwindbaren Selbstzweifel gerät.
Am Selbst zu zweifeln, bedeutet im einfachsten Fall, an den Möglichkeiten einer weiteren Verwirklichung der eigenen Werte zu zweifeln. Im schwersten Fall bedeutet es, am Selbst deshalb zu zweifeln, weil man in der Krise feststellt, die eigenen Werte gar nicht zu kennen. Die Folge eines solchen Zweifels ist die Verzweiflung. Die Konsequenz ist für mich seither klar – Krisen-Coaching stellt Werteklärung in den Mittelpunkt des Bewältigungsprozesses. Andere Aspekte wie die Wiederbelebung des sozialen Netzes oder der Krisenkommunikation treten demgegenüber erst einmal ein Stück in den Hintergrund.
Das war provokativ ausgedrückt und ist für mich dennoch richtig, denn ich als Coach kann keinen Sinn machen oder stiften, so wie auch nach meiner Überzeugung Führungskräfte keinen Sinn stiften können. Eher geht es darum, dass Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dass Menschen ihn selbst finden können. Dies aber bedingt, dass sich Menschen ihrer Werte bewusst werden.
An den eigenen Werten kommt kein Mensch vorbei. Sie fordern ihn heraus, zeigen an, wohin er sich bewegen kann und soll. Frankl meint dazu: „Unser Dasein erfüllen wir mit Sinn dadurch, dass wir Werte verwirklichen.“
Zwischen Wertverwirklichung und einem sinnerfüllten Leben gibt es daher einen klaren Zusammenhang. Ein Wert ist für einen Menschen dann nicht nur wichtig, sondern wesentlich, wenn er ihm so sehr am Herzen liegt, dass er durch Verwirklichung dieses Wertes mit seinem Verhalten bzw. seinen Handlungen zu einem sinnvollen Leben beiträgt. Ist ein Wert „nur“ wichtig, dann dient er vorrangig dazu, eine Sache einer anderen vorzuziehen: Im Alltag helfen wichtige Werte, zweckdienliche Entscheidungen zu treffen. Mit wesentlichen Werten werden existenzielle Entscheidungen getroffen. Um diesen Unterschied herauszuarbeiten, ist eine Werteanalyse notwendig.
Ja, allerdings frage ich in der sinnzentrierten Arbeit nach dem „Wofür“ – das öffnet den Möglichkeitsraum, während ein „warum“ eher dazu einlädt, die Vergangenheit zu befragen. Wofür ist es gut, eine solche Rolle einzunehmen? Wofür seine Lebens- und Arbeitsleistungen gerade in dieses Unternehmen einbringen?
Eine ungewöhnliche und sehr hilfreiche, wenn auch vielleicht nicht einfach zu beantwortende „Frankl-Frage“ lautet: „Auf welche Frage Ihres Lebens sind Sie jetzt die Antwort?“ Hier eine Antwort zu finden, ist harte Arbeit, zumal es hierfür weniger der Reflexion als der Reflexivität bedarf.
Ein Klient in der Selbstreflexion denkt über seine Bedingungen nach, die ihm z.B. sein Leben geboten hat, die ihm sein Elternhaus oder soziales Milieu mitgegeben haben. Reflexivität dagegen fragt danach, wie der Mensch sein Denken und Handeln zum Gegenstand des Nachdenkens macht, wie er über sein Denken denkt, welche Einstellungen er zu seiner eigenen Person und zu seiner Stellung in der Welt hat. Das führt zu einem Perspektivenwechsel, denn abseits der Frage nach Ressourcen und Zielen liefert die Frage nach dem „wie denke ich über das Ganze nach“ ganz neue Antworten.
Das nimmt zu und freut mich sehr, weil der Grad an Reflexivität mir persönlich nach wie vor zu gering ist. Es kommt zwar kein Klient mit dem Anliegen ins Coaching „Ich will wissen, wie ich über mein Problem denke“. Dieser Zugang entwickelt sich dann aber im Laufe des Prozesses und die damit verbundenen Interventionen erstaunen die Klienten, weil sie anfangs dachten: „Ich habe ein Problem und brauche hierfür irgendwelche Hilfsmittel mit einer Erklärung und Unterstützung, was ich tun muss, um meine problematischen Bedingungen zu verändern.“
Geht es dann aber in Richtung Reflexivität, ändert sich die Perspektive und man erkennt, dass die Art, wie man z.B. über die Bedingungen nachdenkt, etwas mit den eigenen Werten zu tun hat – womit wir dann wieder beim Thema Werte und Sinn wären.
Seit meiner Zeit bei der Luftwaffe bin ich der Bundeswehr sehr verbunden. Ich habe dort eine Solidarität und Kameradschaft erleben dürfen, die für mein Leben sehr förderlich war. Es gab aber auch unangenehme, prägende Situationen. Wie z.B. eine NATO-Übung, bei der auf Malta Flugzeuge kollidierten und einige unserer Kameraden starben, mit denen man noch Tage zuvor zusammensaß. Das war hart.
Die Erkenntnis, dass diese berufliche Rolle so eng mit dem Tod in Verbindung steht wie kaum eine andere, erfüllt mich schon mit großem Respekt vor den Leistungen dieser Frauen und Männer. Es wundert mich auch nicht, dass wir im Coaching mit Soldaten zuweilen so schnell zu existenziellen Themen kommen wie ich es sonst eher bei der Arbeit mit Führungskräften aus den kirchlichen Diensten erlebe.
Heute ist zwar die psychologische Betreuung in der Bundeswehr deutlich besser als noch zu meiner Zeit, dennoch gibt es immer wieder begründete Anlässe, warum das Gespräch mit jemandem gesucht wird, der nicht Teil des Systems ist, aber doch an den Vorgängen im System Anteil nimmt. Und so kommt es immer wieder einmal dazu, dass ich mit belasteten Soldaten daran arbeite, ein Stück verloren gegangener Lebensfreude wiederzugewinnen. Im Grunde will ich so auch etwas für die positiven und wichtigen Erfahrungen von damals zurückgeben.
Nach 20 Jahren im Coaching und nun auch zehn Jahren in der Arbeit im therapeutischen Feld sind es oft auch die brisanten Ereignisse, die das Gespräch eröffnen. Und wenn ich an die Soldaten denke, wird das Problemspektrum dort auch offensichtlich: Man befolgt und erteilt Befehle, muss in Gefahrensituationen Führungsstärke beweisen oder eben mit der Verwundung oder dem Tod von Kameraden umgehen. Und zudem wird man mit Situationen konfrontiert, die nur bedingt zum Rollenbild eines Soldaten gehören, wie z.B. Verwaltungstätigkeiten oder Schutzmaßnahmen für Kindergärten in Krisengebieten.
Die üblichen und wesentlich häufigeren Anfragen im Rahmen eines Coachings, die auch von Soldaten, aber insbesondere von Führungskräften mitgebracht werden, kommen zu Themen wie: „Wie kann ich sinnorientierter Mitarbeiter führen?“, „Wie erhalte ich die Leistungsfreude in Turbulenzen?“, „Wie sieht bessere Führung und Kommunikation im Kontext von Komplexitätszuwachs und begrenztem Machtspektrum aus?“, „Wie definiere ich meine Rolle?“, „Wie baue ich meine Menschenkunde aus, damit Arbeitskooperationen besser gelingen?“ oder „Wie stabilisiere ich mich in Phasen von Lebens‐ und Berufskrisen?“
Die Rolle des Soldaten wie auch die Rolle von Führungskräften zeichnet sich heute durch ein Maß an Komplexität aus, dem im Coaching Rechnung getragen werden muss. Diesem Anspruch stelle ich mich gerne und es fühlt sich für mich gut an, zu wissen, wofür es gut ist, einen Beitrag dafür zu leisten, dass Menschen sich nicht verfehlen.