Portrait

Interview mit Tom Küchler

Hirnstuss! Wie hinderliche Denkmuster unsere Potenzialentfaltung stören

Wenn Menschen ihr Potenzial nicht ausschöpfen, liegt das oftmals an Glaubenssätzen, die sie daran hindern. „Hirnstuss“ nennt Tom Küchler sie. Wie diese dysfunktionalen Denkmuster wirken, wie sie Stress begünstigen und wie es gelingen kann, sie abzubauen und dadurch neue Möglichkeiten zu schaffen, erklärt der Coach, Supervisor und Organisationsberater im Interview. Küchler selbst taten sich viele Möglichkeiten erst nach dem Zusammenbruch der DDR auf. So führte sein Weg ihn vom vor der Wende erlernten Handwerksberuf über eine Tätigkeit als Streetworker in die Coaching-Branche.

20 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2024 am 12.11.2024

Ein Gespräch mit David Ebermann

Das Foto zeigt Coach Tom Küchler. Er trägt ein schwarzes Hemd und eine dunkle Kappe.

Als Coach unterstützen Sie Menschen bei deren Potenzialentfaltung. Was bedeutet Potenzialentfaltung für Sie?

Ich verstehe darunter, unsere Möglichkeiten und Optionen zu nutzen. Dabei ist es wichtig, den Zugriff auf unsere Fähigkeiten und Kompetenzen zu haben, sodass sich Wahlmöglichkeiten eröffnen. Wenn wir dies im Coaching positiv „beeinflussen“ wollen, sind wir im Bereich von Mindset und Glaubenssätzen. Die Frage, wie wir mit Emotionen und Gedanken umgehen, spielt hierbei eine bedeutende Rolle. Ebenso kann es um die eigene Sinn- und Zweckbestimmung gehen – also um die Frage, nach welchen Werten wir leben wollen. Dies sind Elemente, die ich mit meinen kundigen Menschen – so nenne ich meine Kunden, da sie kundige Experten für ihre eigene Lebenswelt sind – in Sprache bringen kann, damit sie in die Selbstwirksamkeit kommen.

Geht es eher um punktuelle Entfaltung im Rahmen einer bestimmten Rolle oder um einen ganzheitlichen Blick?

Je nach dem, was der Auftrag des Kundensystems beinhaltet, wird in den Bereich geschaut, in dem die Veränderung auftreten soll. Ich arbeite allerdings gerne vom Großen ins Kleine und gehe der Frage nach, wo eine Entwicklung hingehen soll. Dabei nutze ich größere Zielbilder bzw. – wie Maja Storch sie nennt – Mottoziele, um ein Stück weit in die Zukunftsvision zu blicken.

Sie betonen, dass Sie für „würdeorientierte“ Potenzialentfaltung stehen. Was meinen Sie damit?

Von vielen Menschen hört man, sie möchten irgendwann in Würde sterben. Ich denke mir: „Vielleicht wäre es ja gut, auch in Würde zu leben.“ Als ich mich fragte, was Würde überhaupt ist, und mich auf die Suche machte, stieß ich auf das Buch „Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft“ von Gerald Hüther. Es thematisiert die Sinn-, Zweck- und Identitätsbestimmung des eigenen Lebens. Kurz gesagt kommt es darauf an, sich zu fragen: „Welcher Mensch möchte ich sein?“ Wenn wir hierauf für uns passende Antworten haben, können wir weniger fremdgeleitet und letztlich würdevoller leben. Es geht um Selbstbestimmung und darum, die eigene „Fernbedienung“ in der Hand zu halten. 

Man sagt gerne, Coaches sollten neutral sein und sich immer nach den Zielen und Aufträgen der Kunden richten. Ich habe darüber hinaus aber auch Metaziele im Blick. Dies betrifft z.B. das Thema Gesundheit sowie den Ansatz, Selbstwirksamkeit herzustellen und die Menschen zu befähigen, ein gewolltes und kein gesolltes Leben zu führen. Daher bringe ich das Thema Würde gerne in Reflexion. Wenn ich mit Organisationen arbeite, kann dies auch Themen wie Nachhaltigkeit, die Umwelt und Nutzung begrenzter Ressourcen sowie den würdevollen Umgang miteinander – z.B. mit Mitbewerbern und Stakeholdern – umfassen.

Würden Sie Ihre Haltung, derartige Perspektiven in Coachings einfließen zu lassen, als Anspruch an die Coaching-Branche formulieren?

Mit dogmatischen Ansprüchen tue ich mich schwer. Jeder darf dies natürlich – auch aufgrund seiner Schule – selbst entscheiden. Mir ist es aber wichtig, eine Haltung zu haben, um die Menschen vielleicht dazu zu inspirieren, nicht nur auf sich selbst zu schauen, und um Türen für neue Blickwinkel auf das Große und Ganze zu öffnen. Wenn ich auf Klientinnen und Klienten treffe, die das spannend finden, beziehen wir entsprechende Perspektiven ein. Es ist ein Angebot.

Tom Küchler sitzt in der Hocke auf dem Boden und leitet ein Team-Coaching. Vor ihm liegt ein rotes Blatt Papier, im Hintergrund sieht man einen Stuhlkreis.

Wer sind Ihre Klientinnen und Klienten?

Mein Kundenkreis ist recht breit gefächert, was auch an meiner Vita liegt. Ich komme aus dem psychosozialen Bereich und fing an, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, dann mit Familien und war über viele Jahre eher im therapeutischen Bereich tätig. Das ist zwar auch heute noch der Fall, jedoch zu einem viel geringeren Anteil, da ich diesbezüglich nicht mehr in der Ausschreibung bin. Das ist für mich viel mehr zur Liebhaberei geworden. Heute arbeite ich vor allem mit Organisationen und Menschen in organisationalen Kontexten, darunter zu etwa 50 Prozent Behörden, Verwaltungen, Vereine, freie Träger. Die andere Hälfte sind Wirtschaftsunternehmen – kleine und mittelständische Unternehmen, Familienunternehmen, aber auch Konzerne.

Vermutlich kommen Ihre Kunden nicht mit dem expliziten Wunsch, ihr Potenzial zu entfalten …

Richtig. Seit meiner Buchveröffentlichung zum Thema kommt es zwar gelegentlich vor, das Menschen zu mir kommen und sagen: „Hilf mir, meine Glaubenssätze zu hinterfragen und mein Potenzial auszuschöpfen.“ Das ist aber sehr selten. In der Regel kommen sie mit einem anlassbezogenen Thema und mitunter stellen wir dann fest, dass es in diese Richtung gehen könnte.

Ihr 2023 veröffentlichtes Buch „HIRNgeküsst“ thematisiert die Arbeit an hinderlichen Denkmustern …

Richtig. Als ich 2016 an meinem vorherigen Buch zum Thema Veränderung schrieb, wurde mir bereits klar, wie wirkmächtig unsere Denkmuster sind. Sie können uns fördern, wenn es sich um positive innere Bilder handelt. Dann nenne ich sie „Hirnküsse“. Wenn sie uns hingegen eingrenzen, spreche ich von „Hirnstuss“. Da ich diesem Thema mehr Raum bieten wollte, habe ich „Hirngeküsst“ geschrieben. In meinem nächsten Buch wird es um das Herz gehen – um Emotionen. Ich denke, emotionale Kompetenz ist eine Kernfähigkeit der Zukunft, wenn es z.B. um Führungsarbeit geht.

Sind hinderliche Denkmuster bzw. Glaubenssätze besonders häufige Gründe, wenn Menschen ihr Potenzial nicht ausschöpfen können?

Grob umrissen würde ich zwei Aspekte nennen: Zum einen ist es ein ungünstiger Umgang mit eigenen Gedanken, was hinderliche Glaubenssätze beinhaltet. Zum anderen spielt oft ein ungünstiger Umgang mit eigenen Körperempfindungen und Emotionen eine Rolle. Sie regen Menschen nicht selten dazu an, im Autopiloten unterwegs zu sein und Muster zu bedienen, die sich nicht als funktional erweisen. Dies kann dazu führen, dass sie sich in der Nutzung ihrer Fähigkeiten und Potenziale begrenzen – natürlich ungewollt und unbewusst. Systemisch würde man von problematischen Kognitions-Emotions-Verhaltensmustern – kurz KEV-Mustern – sprechen, die sich stabilisiert haben. Ich arbeite in diesen Fällen gerne mit einer personzentrierten Systemtheorie, z.B. nach Jürgen Kriz, um zu schauen, wie der Mensch die Musterbildungsprozesse reflektieren und verändern kann, sodass sich neue Handlungsoptionen öffnen.

Welche Rolle spielt Systemtheorie generell in Ihrer Arbeit?

Sie prägt mein prozesshaftes Denken schon sehr. Wenn ich eine einzelne Person begleite, deren Thema sich in einem überschaubaren Kontext bewegt, dann halte ich „rein lösungsfokussiertes Arbeiten“ für effektiv und „minimalinvasiv“ und sehe zunächst keine Notwendigkeit, „klassisch systemisch“ anzusetzen. Habe ich es aber mit einem komplexeren System zu tun – z.B. einer Familie, einem Team, einer Gruppe oder gar einer Organisation –, das als solches ein Problem hat, brauche ich eine auf Systemtheorie basierende Herangehensweise, um wirksam zu sein. Ich würde dann eher über Spielregeln reden und die Menschen einladen, das, was zwischen ihnen ist, in Kommunikation zu bringen. Beispielsweise orientiere ich mich gerne an den generischen Prinzipien der Synergetik, welche die Frage betreffen, wie Selbstorganisation in größeren Systemen funktioniert und gefördert werden kann.

Wie wirken hinderliche Denkmuster? Hätten Sie ein Beispiel?

Ich hatte einen Kunden, der von der Annahme getrieben war, anderen Menschen immer helfen zu müssen. Zudem dachte er, er müsse stets alles wissen. Dieses Denken führte zu starkem Stress. Natürlich kam er nicht zu mir und sagte: „Ich habe diese Antreiber, deshalb geht es mir schlecht.“ Stattdessen suchte er das Coaching wegen der hohen Stressbelastung auf. In der gemeinsamen Arbeit haben wir dann entdeckt, worin die grundlegenden Muster bestehen, die den Stress überhaupt erst auslösen. Die Muster äußerten sich in bestimmten Verhaltensweisen, die wir reflektierten. Wenn ein Kollege oder eine Kollegin ihn anrief und ein Problem schilderte, gab er beispielsweise sehr schnell ungefragt Ratschläge oder zerbrach sich den Kopf darüber, wie das Problem gelöst werden könnte. Er setzte sich also erheblichem Druck aus, weil er immer retten und helfen wollte. Die Fähigkeit, einfach zu sagen, dass er gerade keine Zeit habe, oder zu fragen, ob er überhaupt helfen soll, ging ihm ab. Er wurde permanent von anderen bespielt. Die Außenwelt hatte seine Fernbedienung in der Hand.

Wie sieht es in der Praxis aus, wenn Sie mit Ihren Klientinnen und Klienten an hinderlichen Denkmustern arbeiten?

Im eben skizzierten Beispiel haben wir zunächst geschaut, welche Richtung der Klient einschlagen wollte – wie sein „gewolltes Leben“ aussieht. Dabei greife ich gerne auf eine Grabredeübung zurück. Wir sind alle endliche Wesen und wenn das Leben vorbei ist, wird – hoffentlich – jemand eine Rede über uns halten, in der es darum geht, was für ein Mensch der Verstorbene war und wofür er sein Leben genutzt hat. Mein Klient hatte zunächst noch keine echte Idee von seinem „Wofür“ als Mensch. Als er im Laufe des Coachings immer mehr Klarheit darüber gewann, was er im Leben will, war eine Basis geschaffen, um auch an seinen hinderlichen Denkmustern zu arbeiten. Hierbei kann man z.B. auf Techniken aus der Akzeptanz- und Commitment-Therapie zurückgreifen, um in der „Funktionskette“ von Gedanken und Verhalten die Lücke zu finden. Viktor Frankl wies darauf hin, dass zwischen Reiz und Reaktion die Freiheit liegt. Im Coaching übten wir, wie der Klient in Situationen, die den Reiz auslösen, in die Defusion gehen kann. D.h., wir arbeiteten daran, dass er, wenn beispielsweise wieder ein Kollege ein Problem schildert, bewusst den Autopiloten abschaltet, sich vor Augen hält, was er in diesem Moment will sowie kann, und eine daran angepasste Reaktion zeigt. So ließ sich das alte Muster unterbrechen.

Tom Küchler ist in einem Seminarraum und blättert in Unterlagen.

Erörtern Sie mit den Menschen, wo die Antreiber biografisch herrühren oder bleiben Sie lösungsfokussiert?

Ich komme aus der Lösungsorientierung. Besonders gut gefällt mir der Grundsatz, nur so kurz wie nötig zu stören, mich als Coach schnell überflüssig zu machen und die Kunden nicht fürsorglich zu belagern. Hierzu gehört für mich auch, das eigene Handeln transparent zu machen und bestimmte Interventionen zu erklären, damit die Kunden sie fortan auf neue Situationen übertragen können. Wenn sie z.B. die Defusionstechnik verstanden haben, benötigen sie beim nächsten ähnlichen Problem vielleicht kein Coaching. Um die Strategie hinter einer solchen Technik zu durchdringen, ist es aber nicht unerheblich, auch zu verstehen, wo hinderliche Denkmuster herkommen. Deshalb fließt diese Perspektive auch ins Coaching ein. Ich frage dann z.B.: „Ist der Gedanke, helfen zu wollen, männlich oder weiblich? Vater oder Mutter?“ Denn viele Denkmuster entstehen in den Herkunftsfamilien. Damit ist der Kontext schnell klar, ohne ein Genogramm anfertigen und Herkunftsfamilienarbeit durchführen zu müssen. Das wäre nicht meine favorisierte Vorgehensweise. Mir ist es aber wichtig, dass die Menschen die Bezüge verstehen.

Der geschilderte Praxisfall kann im Bereich der Stress- und Burnout-Prävention verortet werden. Welche Personengruppen betrifft das Thema besonders?

Stark betroffen sind Menschen, die im psychosozialen Bereich tätig sind – Erzieher, Pädagogen etc. Im unternehmerischen Kontext betrifft es schon eher die Führungskräfte und Funktionsträger, die mit großen Rollenkonflikten zu kämpfen haben. Hier ist wieder die systemische Herangehensweise wichtig, um Lösungen nicht nur beim Spieler, sondern zudem bei den Spielregeln zu suchen. Die Antreiber und Denkmuster der Person sind – wie im Beispiel gezeigt – natürlich zu betrachten, aber ebenfalls die Zusammenhänge, in denen sie tätig ist.

Als wie gewichtig bewerten Sie den Zusammenhang zwischen Stressprävention und dem Überwinden dysfunktionaler Denkmuster?

Aus meiner Sicht ist starker Stress meistens auch mit hinderlichen Denkmustern verbunden. Die kognitive Verhaltenstherapie geht von der Grundlogik aus, dass eine „Störung“ – in diesem Fall ein intensives Stressempfinden – nur entsteht, wenn eine dysfunktionale Bewertung der reizauslösenden Situation vorgenommen wird, was dann zur Stressreaktion führt. Dies entspricht in etwa dem klassischen ABC-Modell: Activating Event, Beliefs, Consequences. Ich denke, an dieser Perspektive ist schon was dran. Wenn man eine systemischer geprägte Sichtweise wählt und die PSI-Theorie – die Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen – heranzieht, kann man das Entstehen ungünstiger Muster aber auch folgendermaßen betrachten: Bei manchen Menschen ist der Fehler-Zoom an, sodass sie permanent nur sehen, was momentan nicht gut läuft. Hier fehlt es an einem stabilen emotionalen Erfahrungsgedächtnis, was z.B. zu Passivität oder Aktionismus führen kann.

Hier gilt es dann, die Wahrnehmung von Selbstwirksamkeit zu stärken?

Genau. Um Muster zu unterbrechen, reicht es nicht, ein bisschen „am System zu schütteln“. Stattessen ist es hilfreich, eine Art „Magnetismus“ aufzubauen, eine Idee von der eigenen Entwicklung. Ein neues inneres Bild ist wertvoll, auch wenn es noch in der Ferne liegt. Wenn sich das System, nachdem es im Chaos war, wieder neu ordnet, ist es nämlich gut, einen Gegenpol gebaut zu haben, damit der Mensch nicht wieder in das Muster verfällt, das er schon kennt.

Im Kontext der Potenzialentfaltung arbeiten Sie auch mit dem von Ihnen entwickelten „Solution-Loop“. Wie sieht diese Methode aus?

Die Methode basiert auf einem Modell, das auf Haesun Moon zurückgeht und das ich durch Peter Szabó kennenlernte: die dialogischen Quadranten. Man könnte es als Kommunikationsanalyse-Tool beschreiben. Wenn Menschen miteinander kommunizieren, kann man das Gesprochene auf einer Zeitlinie einordnen. Sie reden entweder über Vergangenes, über die Gegenwart oder die Zukunft. Dies ist die waagerechte Achse des Modells. Die senkrechte stellt dar, ob über Positives oder Negatives gesprochen wird. Daraus ergeben sich vier Quadranten: die beste Vergangenheit (Vergangenheit plus), die belastende Vergangenheit (Vergangenheit minus). Manchmal unterhalten Menschen sich auch über die kühnsten Hoffnungen (Zukunft plus) oder ihre größten Befürchtungen (Zukunft minus). Ein Großteil der Kommunikation fällt in den Bereich der belastenden Vergangenheit. Ich lasse Teams gerne den Satz „Wenn ich an meine Arbeit denke, dann denke ich an …“ vervollständigen. Nach einigem Getuschel stelle ich ihnen die vier Quadranten vor und sage oftmals: „Ich wette, ihr wart in Vergangenheit minus unterwegs.“ In der weiteren Reflexion wird meist ziemlich schnell klar, dass es sinnvoll wäre, auch die Plus-Quadranten zu bedienen.

 Darüber hinaus nutze ich das Modell als Coach-Ausbilder. Wenn mir von Teilnehmenden berichtet wird, das ein Klient „nur jammere“, rege ich gerne an, das nächste Treffen aufzuzeichnen und es gemeinsam zu analysieren. Dabei fällt oft auf, dass die Coaches bzw. angehenden Coaches selbst dazu beitragen, indem sie ihr Gegenüber immer wieder gedanklich in negative Quadranten schicken. Als Coach kann man das Instrument also auch für die Analyse der eigenen Arbeit nutzen. Im Solution-Loop habe ich das Modell als Methode im Raum erweitert. Ich baue mit Seilen eine „Straßenkreuzung“, die von den vier Bereichen – man kann bildlich von „Stadtteilen“ sprechen – umgeben ist. Diese Stadtteile werden mit den Klientinnen und Klienten nach einer bestimmten Abfolge bzw. einem festgelegten Prozessdesign, das auf Erkenntnissen aus der Motivationsforschung basiert, betreten und betrachtet. Damit schließen wir auch den blinden Fleck der lösungsorientierten Beratung, die den Quadranten Vergangenheit minus vermutlich nicht in den Blick nehmen würde. Ich denke, dass dieser Quadrant ein guter Motor sein kann, um Zukunft plus zu erreichen.

Sie bieten auch Supervision an. Welche Rolle spielt hier die Überwindung hinderlicher Denkmuster?

Das ist ein Klassiker in der Supervision. Wenn berichtet wird, dass in einem Begleitungsprozess etwas klemmt, sind oftmals unklare Auftragsklärungen oder der Umstand ausschlaggebend, dass unbewusst eigene Erwartungen eingebracht werden, wobei wiederum Denkmuster und Glaubenssätze eine Rolle spielen. Der Begriff Supervision wird heute manchmal breiter definiert und nicht mehr ausschließlich auf die Beratung von Helfersystemen angewandt. Ich kriege mittlerweile auch Supervisionsanfragen von Unternehmen und kläre dann erst einmal, was darunter verstanden wird. Coaching und Supervision sind für mich beides arbeitsweltliche Beratungsformen, wobei Coaching etwas abgestecktes ist. Ein Coaching ist zeitlich begrenzt und dient dazu, dass jemand ein Ziel erreicht, Fähigkeiten erweitert oder eine Weiterentwicklung vollzieht. Supervision ist für mich ein professionelles Verfahren der Beobachtung und Reflexion beruflicher Praxis – eine prozessorientierte „Draufschau“ auf das Große und Ganze, ohne dabei immer ein definiertes Ziel zu verfolgen.

Im Wirtschaftskontext – wenn wir mit Gruppen oder Teams arbeiten – kann es neben individuellen auch kollektive Denkmuster geben. In einem Vertriebsteam herrschte z.B. die feste Annahme, Kaltakquise bringe nichts. Alle Mitglieder glaubten daran. Das war ein kollektives Denkmuster, das irgendwann entstanden sein muss und der Potenzialentfaltung entgegenwirkte. Hier stoßen wir in den Bereich der Kultur: gemeinsame Werte, Glaubenssätze etc. Mein Job ist es dann, die Annahme ganz nüchtern zu hinterfragen: Ist sie wahr, sinnvoll, logisch? Ist sie empirisch belegbar? Man kann hier von einem Sokratischen Dialog sprechen. Vielleicht ist die Annahme richtig. Oftmals lockern sich derartige Überzeugungen aber, wenn sie auf den Prüfstand gestellt werden. Neben Denkmustern können auch Gefühle kollektiver Natur sein. Insbesondere Ängste oder das Gefühl von Überforderung schwappen schnell von Einzelnen auf ein Team über. Sinnbildlich spreche ich in diesem Zusammenhang – wie Michael Bohne – daher auch von „Kogno- bzw. Emokokken“.

Im Erstberuf sind Sie Elektronikfacharbeiter, sind dann aber Diplom-Sozialpädagoge geworden. Wie kam es dazu?

Dazu hat die Geschichte mir verholfen. Ich musste leider in der ehemaligen DDR aufwachsen und war dann ganz glücklich, als diese Gesellschaftsform ihr Ende fand, da sich mir als jungem Menschen erstmals Wahlmöglichkeiten eröffneten. In der DDR durfte ich kein Abitur machen, da ich politisch nicht angepasst war. Ich musste mir also einen Beruf suchen und bin Elektronikfacharbeiter geworden. Den Beruf musste ich aber nicht sehr lange ausführen, da das System glücklicherweise zusammengebrochen ist. Da die Betriebe nach der Wende geschlossen wurden und es „Kurzarbeit Null“ bzw. die Arbeitslosigkeit gab, hatte ich viel Freizeit. So kam es zu der Überlegung, mit Freundinnen und Freunden eine Band zu gründen. 

Da wir dann auch einen Raum brauchten, um Musik machen zu können, haben wir gleich – mitten im Erzgebirge – ein ganzes Haus besetzt. Die Bilder der Berliner Hausbesetzungen hatten uns dazu angeregt und wir dachten: „Das macht bestimmt Spaß, bestimmt kommen viele Gäste vorbei.“ Tatsächlich hatten wir auch viel Freude, aber irgendwann klopfte natürlich das „Erwachsenensystem“ an und fragte, was los ist. Ich fungierte damals als der inoffizielle Sprecher der Gruppe und übernahm die Kommunikation mit Bundesgrenzschutz, Polizei, Landratsamt und Bürgermeister, als interveniert werden sollte. Irgendwann kam der Landrat zu mir und sagte: „Tom, mach das doch beruflich!“ Ich fragte: „Was? Hausbesetzer?“ Daraufhin entgegnete er: „Nein, Streetworker wäre doch gut. Das könnte zu dir passen.“ So rutschte ich in die Soziale Arbeit hinein und studierte Sozialpädagogik. Es begann also alles mit dem Zusammenbruch der DDR.

Wie kam es dann dazu, dass Sie in der Wirtschaft tätig wurden?

2003 fragte mich erstmals ein Unternehmen, ob ich mit dessen Führungskräften zum Thema Gesundheit arbeiten könnte. Ich hatte richtig Angst, als Sozialpädagoge in die Wirtschaft zu gehen, und sagte mir: „Ach du liebe Zeit, ich habe doch gar keine Ahnung von Wirtschaft. Die haben doch richtige Probleme!“ Trotzdem gestaltete ich einen Nachmittag mit den Führungskräften zu den Themen Salutogenese und Resilienz. Zu meiner Überraschung waren die unheimlich beeindruckt von den Modellen, die ich aufzeigte. Ich dachte: „Wirklich? Euch beeindruckt, was wir in den ersten Semestern lernen? Das ist ja spannend!“

Da habe ich realisiert, dass die Wirtschaftswelt auch nur mit Wasser kocht und dass das alles ganz normale Menschen wie du und ich sind. Eigentlich sind die Themen sogar mehr oder weniger dieselben wie bei meinen ehemaligen Klientinnen und Klienten auf der Straße. Sie haben zwar andere Worte dafür, aber die Dynamiken hinter den Problemen sind vergleichbar. Und so ging ich nach und nach stärker in den Wirtschaftskontext.

Haben Sie aus der Tätigkeit als Streetworker etwas mitgenommen, das Ihre heutige Arbeit prägt?

Ich glaube, grundlegend habe ich in dieser Zeit alles Wesentliche gelernt, was ich heute brauche, nur habe ich im Nachgang die dazu passenden Worte sowie Theorien kennengelernt und meine Tool-Box erweitert. Als Streetworker war ich – grob umrissen – in zwei Kontexten aktiv: Zum einen arbeitete ich mit jungen Menschen aus dem ländlichen Raum, die aus der links-alternativen Szene kamen. Hier ging es vor allem um individuelle Schwierigkeiten, Stress- oder Sucht-Thematiken, mit denen sie konfrontiert waren – mit sich selbst und im Miteinander der Gruppe. Ich war zudem das Bindeglied zwischen ihnen und der Stadt, wenn es z.B. um geeignete Plätze zum Skaten ging. Das war Gemeinwesenarbeit. Zum anderen arbeitete ich mit jungen rechtsorientierten Menschen – „Glatzen“, wie sie sich nannten. Das war für jemanden wie mich, der aus dem ganz anderen Lager stammte und damals noch rotgefärbte Haare hatte, eine spannende und lehrreiche Zeit.

Meine Vorstellung lautete damals natürlich: „Ich mache diese Menschen zu Demokraten.“ Ich dachte mir, dass das ja eigentlich ganz einfach sei und ich denen nur überzeugend sagen müsse, was richtig ist. In der Arbeit merkte ich aber ziemlich schnell, dass das keine kluge Idee und eine rein faktenbasierte Kommunikation nicht der richtige Ansatz ist. In den ersten Wochen spielten wir lediglich Argumente-Ping-Pong. Zwar wurde ich in meiner Argumentation immer besser, die aber auch. Schließlich hatten sie jetzt einen Trainingspartner. Ich stellte dann fest, dass es viel sinnvoller ist, ihnen zuzuhören und offene, hypothetische und zirkuläre Fragen zu stellen: Wie hängt dieses mit jenem zusammen? Wohin führt dieser oder jener Sachverhalt, wenn man ihn weiterdenkt? Das hat zu Dekonstruktionen geführt, denn sie merkten mitunter, dass ihre Ansichten lückenhaft und nicht schlüssig durchdacht waren. Die fragende Haltung hat also viel stärker zum Nachdenken, Hinterfragen der eigenen Denkweise und Erkennen blinder Flecken geführt, als es die wissende Haltung vermochte. Sie hat Musterunterbrechungen angeregt oder bewirkt.

Ohne es zu wissen, habe ich damals die eine systemische Idee kennengelernt, dass Gedanken Konstruktionen sind. Ich lernte zudem, wie wichtig die Beziehungsebene in der Begleitung von Menschen ist. Auch wenn ich völlig andere Ansichten vertrat als meine Gesprächspartner und deren Denkmuster ablehnte, war mir immer Respekt vor der Person wichtig. Gleichzeitig war ich respektlos gegenüber ihren Ideen und Konstrukten. Ich konnte ihnen auch sagen, dass ich ihre Meinungen furchtbar finde. Es ist aber ein Unterschied, ob ich sage „Ich finde deine Ansichten zum Kotzen“ oder ob ich sage „Ich finde dich zum Kotzen“. Somit verinnerlichte ich auch die Haltung, Personen nicht mit ihren Denk- und Verhaltensmustern gleichzusetzen.

Wie helfen Ihnen die Erkenntnisse aus der Streetworker-Zeit heute als Coach weiter?

Auch jetzt arbeite ich mitunter mit Menschen, die völlig anders denken als ich und andere Meinungen haben. Aus der Supervision mit anderen Coaches weiß ich, dass manche Kolleginnen und Kollegen in bestimmten Situationen den Druck verspüren, ihre Meinungen sagen zu müssen, oder das Gefühl haben, mit ihrem Gegenüber aufgrund dessen Andersartigkeit nicht gut umgehen zu können. Daher bin ich dankbar, dass ich schon früh eine Haltung entwickeln konnte, die mich davor schützt. Wenn ich frühere Kunden nach einiger Zeit wiedersehe und frage, was ihnen an unserem Coaching gefallen hat, sagt niemand so etwas wie: „Der Solution-Loop war klasse!“ Stattdessen höre ich, dass sie das Gefühl hatten, einen Raum zu bekommen, in dem sie sich mitteilen konnten, ohne bewertet zu werden, und nach den Sitzungen bestärkt waren. 

Das zeigt mir, dass es vor allem wichtig ist, mit Menschen in Beziehung zu gehen, nicht an ihnen zu zerren, ressourcenorientiert über das zu sprechen, was möglich ist, und Hoffnung auszustrahlen. Wenn ich stattdessen anfange, zu ziehen und zu schubsen, führt das eher zu Widerstand. Man merkt ja schon im Umgang mit den eigenen Kindern oder in der Partnerschaft, dass das kein kluges Konzept ist. Dann kann es auch nicht bei unseren Kunden funktionieren.

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