Wenn man sich fragt, wie alles angefangen hat, wie und mit welchen Ideen und Veröffentlichungen konstruktivistische Autoren zunächst Aufmerksamkeit erzeugt haben, dann entdeckt man eine Art Gründungsdokument – wenn man so will: ein Manifest, ein Programm, das viele Motive des konstruktivistischen Denkens bereits in kompakter Form enthält. Der Titel dieses Gründungsdokuments lautet: Biology of Cognition. Sein Autor ist der chilenische Neurobiologe Humberto Maturana. Maturana schlägt in diesem Aufsatz in einer eindringlichen Sprache vor, den Prozess des Erkennens aus einer biologischen Perspektive zu betrachten, also den Philosophen gewissermaßen die Erkenntnisfrage abzunehmen, sie auf dem Terrain der Neurobiologie wieder zu stellen, um sie dann auch dort zu beantworten.
Ziel ist es, den Erkennenden, den Beobachter, selbst ins Zentrum des Forschens hinein zu rücken, ihn als Quelle allen Wissens sichtbar zu machen. Wer sich, so Humberto Maturana, aus der Sicht eines Biologen mit der Wahrheit des Wahrgenommenen befasst, dem wird unvermeidlich klar, dass er selbst zu den Objekten gehört, die er beschreiben will. Er ist ein lebendes System, das lebende Systeme verstehen möchte. Das Subjekt studiert ein Objekt, das es selbst sein könnte. Die Situation rutscht ins Zirkuläre, geht es doch stets darum, als Wahrnehmender die Prozesse der Wahrnehmung zu verstehen. Man fühlt sich an die mythologische Figur des Ouroboros erinnert: Die Schlange beißt sich in den Schwanz. Ein Gehirn erklärt das Gehirn; ein Erkennender erkennt das Erkennen; das Subjekt ist sich sein eigenes Objekt.
Der Essay Humberto Maturanas mündet bereits nach wenigen Seiten in eine Schlussfolgerung und in einen zentralen Satz, der zur Leitformel und zum Schlüsselaphorismus des konstruktivistischen Diskurses geworden ist. Dieser Satz wirkt auf den ersten Blick wie eine Trivialität, enthält aber bei genauerer Betrachtung eine andere Weltsicht. Er lautet schlicht: „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“
Entscheidend ist, dass die Existenz einer Außenwelt hier nicht verneint wird; es ist nicht die Äußerung eines Solipsisten, der alles zur Schimäre und dem Produkt des eigenen Geistes erklärt, die hier vorliegt. Ebenso wenig steht sein Autor im Verdacht, ein naiver Realist zu sein.
Die Position Humberto Maturanas und des Konstruktivismus insgesamt steht für einen mittleren Weg, der sich zwischen den Spielformen des Realismus und den Übertreibungen des Solipsismus befindet: Die Existenz einer Außenwelt wird von ihm und den anderen Begründern dieser Denkschule nicht geleugnet, wohl aber verneinen sie stets die voraussetzungsfreie Erkennbarkeit dieser äußeren Welt. Jeder Akt des Erkennens beruht, so nimmt man an, notwendig auf den Konstruktionen eines Beobachters – und nicht auf der punktgenauen Übereinstimmung der eigenen Wahrnehmungen mit einer externen Wirklichkeit. „Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“
Es sind diese und andere zentrale Einsichten der Erkenntnistheorie des Konstruktivismus, die ich in diesem Essay mithilfe von drei Thesen genauer beschreiben möchte. Sie lauten:
Die Urfrage des Konstruktivismus lautet: Wer oder was bestimmt die Erkenntnis? Es lässt sich beispielsweise behaupten, dass sich die Sprache zwischen den Erkennenden und die Welt schiebt. Man kann annehmen, dass die (modernen) Medien zunehmend den Blick verdecken; vorstellbar erscheint, dass es die Organisation des Nervensystems ist, die die eigene Sicht determiniert. Und so lassen sich die Disziplinen und Denkschulen durchstreifen, und man wird immer neue Instanzen entdecken, immer neue Lösungen der Frage ausfindig machen, wen oder was wir als Prägekraft der Wahrnehmung verstehen sollen.
Daraus folgt: Es gibt sehr unterschiedliche Richtungen des konstruktivistischen Denkens. Sie antworten auf ein und dieselbe Urfrage, aber sie antworten eben auf die ihre Weise, ebenso geprägt durch wissenschaftliche und kulturelle Herkunft. Die wichtigsten Varianten im Überblick:
Bis zu diesem Moment habe ich vor allem versucht, die relevanten Unterschiede einzelner konstruktivistischer Denkrichtungen darzustellen – nun komme ich zu einer Reihe von Gemeinsamkeiten, zu einer Reihe von gemeinsamen Denkfiguren und Annahmen. Hier wird sich zeigen: Konstruktivisten kommen aus sehr verschiedenen Disziplinen, aber sie argumentieren – bei allen Unterschieden – stets ähnlich.
Allerdings könnte nun der Eindruck entstanden sein, der Konstruktivismus sei ein einheitliches Paradigma, eine Weltanschauung oder vielleicht sogar ein Glaubensbekenntnis, auf das sich modebewusste Akademiker vereidigen lassen können. Diesen Eindruck möchte ich gerne im Schlussakkord wieder etwas relativieren und will zu diesem Zweck eine weitere Variante des Konstruktivismus vorstellen, die ich als subversiven Konstruktivismus bezeichne.
Diese wenig unterwürfige Haltung gegenüber einer scheinbar unwandelbaren und universal gültigen Wirklichkeit, um die es mir hier geht, wird am Beispiel einer Bemerkung offenbar, die der Künstler Joseph Beuys im Sommer des Jahres 1964 gemacht hat. Er befindet sich zu dieser Zeit – damals noch Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie – am Beginn einer Auseinandersetzung mit dem nordrheinwestfälischen Innenministerium und seinen Kollegen an der Akademie, die schließlich mit diversen Gerichtsprozessen, der Besetzung der Akademie, Polizeieinsätzen, einer fristlosen Kündigung und einem gewaltigen Berühmtheitsschub für den Rausgeworfenen endet.
Eine der Auffassungen, die das Innenministerium offensichtlich für groben Unfug hält und zu einer Anfrage veranlasst, steht in dem Programmheft des Aachener „Festival der neuen Kunst“ vom 20. Juli 1964 zu lesen.
Hier schreibt Joseph Beuys in einer Darstellung seines Lebens und Werks folgenden Satz: „1964 – Beuys empfiehlt Erhöhung der Berliner Mauer um 5 cm (bessere Proportion!).“ Auf die Anfrage, die die Indiziensammler des Innenministeriums ihm dann zukommen lassen, antwortet er: „Die Betrachtung der Berliner Mauer aus einem Gesichtswinkel, der allein die Proportion dieses Bauwerks berücksichtigt, dürfte doch wohl erlaubt sein. Entschärft sofort die Mauer. Durch inneres Lachen. Vernichtet die Mauer. Man bleibt nicht mehr an der physischen Mauer hängen. (…) Quintessenz: Die Mauer als solche ist völlig unwichtig. Reden Sie nicht so viel von der Mauer! Begründen Sie durch Selbsterziehung eine bessere Moral im Menschengeschlecht, und alle Mauern verschwinden. Es gibt ja so viele Mauern zwischen mir und Dir. Eine Mauer in sich ist sehr schön, wenn die Proportion stimmt.“
Was Joseph Beuys hier vorschlägt, ist eine Neu- und Umorientierung der öffentlichen Wahrnehmung, die sich den gängigen Mustern der Auseinandersetzung entzieht. Er verurteilt die Mauer – das Monument der Gewalt, den steingewordenen Zwang zum sozialistischen Dauerglück – nicht ausdrücklich, sondern empfiehlt, sie anders zu sehen und aus Gründen der Proportion etwas zu erhöhen. Er bejaht ihre Existenz, sieht allerdings die Notwendigkeit der geringfügigen Korrektur.
Wie ein geschulter Therapeut erkennt er die Realität des Symptoms und Problems (das ist die Mauer) an, verstärkt sie in gewisser Weise sogar und verschiebt dabei gleichsam unmerklich die Aufmerksamkeit in die Richtung der anvisierten Behandlung: Das ideologische Bewusstsein, das die Mauer erst möglich gemacht hat, soll aufgelöst, drastischer: der Beton im Kopf soll weich geklopft werden.
Es ist die Raffinesse dieser Strategie, die offenbart: Ein subversiver Konstruktivist lässt sich seine Themen und seine Herangehensweise nicht extern diktieren und arbeitet nie direkt mit den Argumenten und Ansichten der gegnerischen Position, sondern er spielt mit ihnen, denkt sie weiter und zu Ende, versucht, ihre Konsequenzen auszuleuchten. Der subversive Konstruktivist macht nicht den Fehler, sich in die jeweils abgelehnte Wirklichkeit zu verbeißen – und dadurch zu einem dogmatischen Anti-Dogmatiker zu werden, der dem Gegner an Starrheit und Hartherzigkeit in nichts nachsteht. Er verkündet kein neues Dogma, sondern versteht seine Denkanstöße und Kopfnüsse als eine Medizin gegen den Dogmatismus selbst. Er will keine neue und vermeintlich bessere oder menschlichere Mauer bauen, sondern – viel grundsätzlicher – das Fundament, auf dem diese ruht, selbst abtragen. Man möchte zeigen, was auch sein könnte, welche Möglichkeiten in einer scheinbar eindeutigen Wirklichkeit stecken, angelegt sind oder sich aus ihr entwickeln und mit Skepsis und Humor aus ihr herauslesen lassen.
Es geht um den Schutz der Differenz, um die Erhaltung der Nuance, die Abwehr des Gleichförmigen – und darum, Wirklichkeit als etwas durch uns Gestaltbares erfahrbar zu machen. Wenn die Verflüssigung einer statischen Realität erreicht ist, dann haben auch die Strategien des subversiven Konstruktivismus ihre Aufgabe erfüllt. Im Moment der relativen Uneindeutigkeit und damit in der Situation einer gewissen Freiheit kann man beginnen, sich wieder auf die Suche zu machen. Es ist ein kreativer und ein schöner Moment. Ein Anfang.