Es war das zweite Coaching-Gespräch mit einem Geschäftsführer aus der Handelsbranche. Er ist Mittvierziger, hat Familie und auch sonst alles Angenehme, mit dem man sich in solch gehobenen Positionen umgibt. Und seine Frage ist: „So what? Wo soll es noch hingehen mit mir?“ Es ist ihm ein Anliegen zu definieren, wo er in zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren sein möchte. Es geht ihm um dieses Ziel.
Er hatte sich vor 20 Jahren vorgenommen, Geschäftsführer zu werden, und hat dieses Ziel seit einiger Zeit erreicht. Nun möchte er sich etwas Neues vornehmen, etwas worauf man in gleicher Weise hin leben kann. Doch geht es irgendwie nicht. Denn es gibt ja nur eine begrenzte Menge an solchen Zielen. Und andere Arten von Zielen, wie gut alt zu werden, eine hoffentlich gute Lebensentwicklung der Kinder erleben zu dürfen, die kann man sich ja nicht in der gleichen Weise vornehmen… Mein Klient ist ein gescheiter und gebildeter Mensch und hat irgendwie begriffen, dass er mit der Bildung von Zielen wie bisher nicht wirklich weiter kommt, weiß aber nicht recht, wonach er suchen soll.
In Zeiten, in denen die Individualität jedes Einzelnen eine so große Rolle spielt, stoßen Menschen immer wieder auf existenzielle Fragen:
Viele Menschen sind immer öfter irgendwie mit ihrer Individuation beschäftigt, also mit den Lebensprozessen, über die sie die einzigartige Persönlichkeit verwirklichen können, die in ihnen steckt. Ursprünglich stammt der Begriff „Individuation“ aus der Psychologie von C. G. Jung. Soweit sich Individuation auf die Welt der Berufe und der Organisationen bezieht, sprechen wir von „professioneller Individuation“. – Ich verwende diese Begriffskombination dank einer Anregung meines Kollegen Joachim Hipp.
Aber gibt es auf die Frage, was aus jemandem werden soll, überhaupt Antworten? Welche könnten das sein? Man sollte sich das nicht so vorstellen, dass eine „Endversion“ von Anfang an bekannt sein könnte. Doch versuchen die Menschen zu begreifen, aus welchem „Holz“ sie sind – und was man daraus machen könnte. Dabei sind viele Versionen möglich, aber intuitiv weiß jeder, dass es auch viele Versionen gibt, die nicht stimmig sein würden. Meist kann man auch weniger konkrete Ziele bestimmen, also Punkte auf Entwicklungslinien in der Zukunft, sondern eher grobe Richtungen, die besser stimmen als andere.
Doch zurück zu meinem Klienten: Wir sehen das oft in dieser Phase der Lebensmitte, dass Menschen versuchen, nach dem alten Modus neue Wege zu beschreiten. Doch wäre für ihn wichtig zu verstehen, dass nicht neue Ziele im alten Modus, sondern ein neuer Modus der Lebensorientierung wirkliche Entwicklung bedeutet und Chancen bietet, dem Leben neuen Sinn zu verleihen.
Zunächst aktiviert er allerdings sein bislang erfolgreiches Steuerungsprogramm: Ziele definieren, Zielerreichung planen und Aktivitäten Richtung Zielerreichung starten, loslegen! Das ist wie Motorboot fahren. Egal was Wind und Wasserströmungen nahe legen, Motor anwerfen und mit viel PS losdüsen! Die Alternative wäre Segeln. Man weiß sich auf den Wind angewiesen, arrangiert sich mit den Strömungen. Muss gelegentlich gegen den Wind kreuzen, Umwege in Kauf nehmen, um letztlich doch in die richtige Richtung voranzukommen. Ausstattung und Können sind wichtig, doch garantieren sie kein Vorankommen. Drifts und Unwägbarkeiten geben Gelegenheit, sich in Demut zu üben – das Wort kommt von Dien-Mut und ist daher eine Form von Mut, keine beliebige Unterwürfigkeit gegenüber fremden Einflüssen.
Die Philosophie und spirituelle Systeme bieten Metaphern für menschliche Entwicklungen, die Grenzen von Kontrolle, ja von Urteilssicherheit, ob man sich auf dem richtigen Weg befindet, illustrieren. Eines davon ist das Labyrinth wie beispielsweise in der Kathedrale von Chartre. Der Weg zu sich selbst führt manchmal scheinbar weg vom Zentrum, in dem man sich findet, gerade wenn man ihm schon nahe gekommen ist. Um dennoch die Zuversicht nicht zu verlieren, braucht man weitere Perspektiven und andere Haltungen.
Nun kommt mein Klient drei Monate später wieder zu mir ins Coaching und sagt: „Heute möchte ich über meine Ängste sprechen“. Seine Situation ist, dass er mit Lieferanten wie auch mit Abnehmern verhandeln muss. Und er leidet darunter, dass auf Abnehmerseite Verhandlungspartner mit herabwürdigenden Strategien auftreten nach dem Motto: „Sie sind für mich ein austauschbarer Lieferant, warum rede ich überhaupt mit Ihnen?“ Insbesondere wenn das ältere Herren sind, die ihm gegenüber so auftreten, ängstigt ihn das sehr. Er manövriert sich da zwar immer wieder geschickt durch, aber es kratzt ihn doch sehr und bereitet ihm teilweise auch schlaflose Nächte, dass die andere Seite immer wieder versucht, ihn zu erpressen, ihn in eine unterwürfige Position zu drängen.
Welche Betrachtungsweisen würden sein Repertoire anreichern und ihm etwas Gelassenheit ermöglichen? Es könnte sein, dass sein Gegenüber sich und ihn in eine paranoide Beziehungsdynamik manövriert, ohne selbst zu verstehen, was geschieht. In einer paranoiden Beziehungsdynamik gesteht man sich Angst vor dem anderen nicht ein und prüft daher nicht wirklich, ob eine Bedrohung von diesem ausgeht. Stattdessen nimmt man selbst zu Stärkegebaren und unterschwellige Drohhaltungen Zuflucht, um dem anderen Angst zu machen und damit vor dem befürchteten Angriff abzuhalten. Reagiert der andere auch paranoid, dann kommt es leicht zur Eskalation oder zum Gleichgewicht des Schreckens – nicht aber zu vertrauensvollen Geschäftsbeziehungen.
Viele Kampfbeziehungen beruhen auf einer paranoiden Beziehungsdynamik. Zwei begegnen sich in einer dunklen Unterführung. Jeder hat eigentlich nur Angst. In der Mitte gibt es eine Mordsschlägerei, weil jeder dem anderen präventiv eine reinhauen will, nur um ihm zu zeigen, dass er sich vor ihm nicht fürchtet. Aus Angst baut jeder ein Bedrohungspotenzial auf, das beim anderen die Angst weiter steigert. Die Eskalation führt dann genau zu dem, was man vermeiden wollte. Wenn beide aber erkennen würden, dass sie nur Angst verwalten, könnten sie aneinander vorbeigehen, ohne sich zu prügeln. Dafür muss man merken, dass man Angst hat, und man muss prüfen, ob sie angemessen ist.
Mein Klient entdeckt Ähnlichkeiten mit den berichteten Situationen und nimmt sich vor, auf eigene Ängste zu achten und probeweise davon auszugehen, dass sein Gegenüber uneingestandene Befürchtungen hat. Und er möchte Wege finden, die ihn entspannen. Also Wege aus der Kontrolldynamik, aus der heraus jeder den anderen unterwerfen will, weil er sonst Unterwerfung seinerseits befürchtet. Ein Ansatz, vom Opfer zum Gestalter zu werden.
Darüber hinaus berichtet er erschrocken, dass er seinerseits begonnen habe, seinen eigenen Lieferanten gegenüber dominantes, unterwerfendes Verhalten zu zeigen. Irgendwie ist er anfällig für diese Art Stärkegebaren. Wir sprechen über Täter-Opfer-Beziehungen. Missbrauch schafft Missbrauch. Wer sich erniedrigt sieht, sucht Ausgleich gegenüber anderen Opfern. Durch Identifikation mit der Täterdynamik kommt man über die Schmach, Opfer zu sein, scheinbar hinweg. Das ist wie bei Dracula: Wer gebissen wird, wird zum Vampir. Oder anders: Opfer sind auch dadurch geschädigt, dass sie die Dynamik der Täter in sich aufnehmen und Neigungen entwickeln, sie auszuleben. Manchmal unverblümt, manchmal subtil mit Rechtfertigungen aus dem erlebten Unrecht. Doch: „Im Recht haben verharren, führt zu Unrecht!“, habe ich in meine Sammlung von Sprüchen aufgenommen. Daraus folgt, dass erst die Auseinandersetzung mit der eigenen Tätermentalität, mit dem eigenen „Vampirsein“ nachhaltig befreit.
Auf seine Bitte hin versuchen wir zu klären, ob es von seiner Seite sonst noch mögliche neurotische Anteile an seiner Ängstlichkeit diesem Geschäftspartner gegenüber gibt: Gibt es beispielsweise einen ungelösten Vaterkonflikt? Und wir finden heraus, dass sein Vater, sein Elternhaus recht liberal waren. Er scheint nicht traumatisch belastet. Allerdings hat er auch nie gelernt, dass es Leute gibt, die mit harten Bandagen vorgehen, ohne das wirklich feindlich zu meinen. Es gibt eben Leute, mit denen man sich zunächst prügeln muss, sozusagen als Freundschaftstest. Vielleicht erschreckt er sich zu sehr, weil er sich mit solchem Gassenjungenverhalten nicht auskennt. Wir leuchten das im Gespräch aus. Zumindest könnte er es einmal mit einer solchen Betrachtung versuchen.
Schamlose Ellenbogenmentalität hat ihn auch immer wieder fasziniert. Er findet, dass er zwar der charmante, gescheite, wendige Typ ist, dass ihm aber eine kraftvolle Macho-Seite in seiner Persönlichkeit fehlt. Er konnte diese Seite nicht ausbilden, weil sie ihm als Modell gefehlt hat. Er könnte lernen, kraftvoll, sich gegenseitig spürend mit anderen in Kontakt zu treten, ohne bis aufs Messer zu kämpfen oder die Flucht anzutreten. Dass ihn die ganze Sache nicht loslässt, kann also damit zu tun haben, dass er von der Dominanz fasziniert ist, weil er selbst Dominanz aus seiner Persönlichkeit oder seinem Selbstverständnis verbannt hat. Ganz ohne gelebte, aber vielleicht nicht eingestandene Dominanz kann es ja wohl kaum abgegangen sein auf seinem Weg zum Geschäftsführer. Doch hat er die Erfahrung nicht gemacht, dass man einen Vater lieben kann, auch wenn er manchmal rau und ungehobelt mit einem umgeht. Und er begreift, dass es nicht immer um Unterwerfung gehen muss, sondern um kraftvollen, männlichen Kontakt.
In der Psychologie von C. G. Jung nennt man das Schattendynamiken: Eine Seite der Persönlichkeit wird ausgeklammert. Da die fehlende Ergänzung unbewusst gesucht wird, begegnet sie einem im Leben oder in Träumen in ihren ängstigenden und unentwickelten Varianten. Von daher muss es kein Zufall sein, dass jemandem immer wieder dieselben, irritierenden Kräfte begegnen. Durch Anerkennen dieser Seite als einer eigenen werden konstruktive Begegnung und Entwicklung hochwertiger Varianten dieser Kräfte möglich. Durch Integration abgespaltener Schattenanteile löst sich das Problem.
Soweit einige psychologische Erklärungsmöglichkeiten, die mein Klient nachvollziehen kann. Doch vermutet er, dass dieser Verhandlungspartner das aggressive, herabwürdigende Verhalten nicht unbewusst produzieren würde. Sondern es sei volle Absicht, um seine wirtschaftlichen Ziele zu erreichen. So frage ich meinen Klienten nach seinem Back-up in der Hierarchie seines Unternehmens: Vorausgesetzt, es handelt sich um Berechnung, dann will sein Gegenüber doch etwas von ihm, sonst bräuchte er doch erst gar nicht mit ihm zu sprechen. Für meinen Klienten und sein Unternehmen könnte die Angelegenheit auch zu einer Berechnung werden. Damit stellt sich nun die Frage, was ist das Limit, bis zu dem man als Unternehmen bereit ist zu gehen, an dem man nicht weiterverhandeln kann oder will.
Back-up heißt bei meinem Klienten, so stellt er mir nun dar, mit den Anderen im Unternehmen alle möglichen Faktoren zu besprechen und Rückzugslinien zu bestimmen. Aber klar ist, insgesamt muss ein Paket heraus kommen, das befriedigend ist. Wenn nicht, wackelt sein Stuhl! Hier ist nicht mit gemeinsam getragenem Risiko zu rechnen, sondern mit fehlender Solidarität bis hin zu unterschwelliger Bedrohung aus dem eigenen Unternehmen.
Insoweit haben wir es möglicherweise nicht mit einem neurotischen Problem zu tun, zumindest nicht in der Beziehung zum Geschäftspartner. Eher mit einem mafiösen System: „Du gehst dahin und drehst das Ding! Du kannst einmal zurück kommen und es nicht geschafft haben, dann fehlt Dir halt anschließend ein Fingerglied... Aber beim zweiten Mal ist Finito.“
Das ist die Logik, die uns beispielsweise das Ausmaß der Finanzkrise gebracht hat: Andere Leute setzen die Ziele, und ich muss schauen, wie ich sie erreiche. Also versuche ich mit allen Mitteln, die Zahlen zu erreichen. Ich verkaufe Finanzprodukte, die niemand wirklich versteht und verantwortet. Man kann damit aber Marge machen. Reicht das nicht, werden Zahlen geschönt und so weiter, oft aus nackter, oft uneingestandener Angst heraus. Hier fehlt ein Werte-Back-up, die von der Autorität vertretene Linie, die vernünftiges von unvernünftigem Wirtschaften trennt.
„Na gut“, sagt mein Klient, „ich habe da schon einige Spielräume… Aber das System werde ich nicht ändern.“ Ich erwidere spontan: „Wenn alle Leute ihre Spielräume nutzen würden, dann hätten wir nicht dieses System, das wir haben.“ Wenn sogar er, der als Geschäftsführer in einer herausragenden und relativ mächtigen Position steht, schon mit diesem vorauseilenden Gehorsam zugange ist und ein System unterstützt, das zum Selbstbetrug, zur Korruptheit, zur Brutalität und zum Ausnutzen von Machtpositionen, zum Wegdrücken von Folgekosten und zum Inkaufnehmen von Lateralschäden geradezu auffordert, dann ist er, wenn vielleicht auch kein böser Haupttäter, so doch zumindest ein Mithandelnder, ein Mitläufer. Auch wenn neurotische Gesichtspunkte mit eine Rolle spielen, ist anzustreben, dass er Verantwortung übernimmt. Persönlichkeitsentwicklung und persönliches Lebensglück nach humanistischen Maßstäben ist letztlich nicht ohne ethische Auseinandersetzung zu haben.
Hannah Arendt, die Soziologin, hat das Funktionieren des NS-Regime mit der Figur des Mitläufers beschrieben. Sie fand in der breiten Masse eben keine Bestien. Aber sie fand jede Menge Menschen, die das System akzeptiert, davon profitiert haben, es zunehmend als Selbstverständlichkeit angesehen haben. Der Beamte, der irgendwann als Rechtsparagraf definiert hat, dass Juden keine Deutschen sind, muss nicht die Mentalität besessen haben, dass Juden vernichtet werden müssen…
Jeder Einzelne will nicht das ganze, böse System. Aber alle zusammen erzeugen es durch Unaufmerksamkeit, durch Inkompetenz, durch Duldung, durch Eitelkeit, durch Opportunismus und Vorteilsnahme und durch fehlenden Mut. Dabei geht es weniger um den Mut, sich existenziellen Entscheidungen zu stellen, sondern vielmehr um den Mut, den Anfängen zu wehren, die eigenen Spielräume positiv zu nutzen und dies anderen abzuverlangen. Genauso wie nach Arendt das Böse banal ist, ist es auch das Gute. Doch es will gewagt, und in professionellen Rahmen gelernt sein.
Die jüdische Publizistin und Gelehrte deutscher Herkunft (1906-75) nahm im Jahre 1961 als Reporterin des „The New Yorker“ am Prozess gegen Adolf Eichmann, den Leiter des für die Organisation der Vertreibung und Deportation der Juden zuständigen Referats des Reichssicherheitshauptamtes des Deutschen, sogenannten „Dritten“ Reichs, in Jerusalem teil. Daraus ging eines ihrer bekanntesten und damals bis heute sehr umstrittenen Bücher hervor: „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Es wurde 1963 zunächst in den USA und 1964 in Deutschland veröffentlicht.
Arendt kommentiert die „Banalität“ im Vorwort folgendermaßen: „Eichmann war nicht […] Macbeth […]. Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive.“ […] „Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte. Aber es war eine Lektion und weder eine Erklärung des Phänomens noch eine Theorie darüber.“
Jeder hat Verantwortung und muss sich dieser stellen, auch der heutigen Art des Wirtschaftens gegenüber. Es wäre falsch, sich als Saubermann dieser schnöden Welt ganz zu entsagen. Es ist ohne massive Ausblendung von Zusammenhängen, in die jeder schicksalhaft eingebunden ist, auch gar nicht möglich. In die Logik eines Michael Kohlhaas zu flüchten und sich fundamental zu verweigern, wäre bloß Flucht in die andere Richtung.
Wie kommt man in die Lage, ethisch verantwortlich handeln zu können? Darüber kann am oben dargestellten Coaching-Beispiel diskutiert werden. Wichtig scheint mir eine persönliche Auseinandersetzung mit eigenen neurotischen Tendenzen, mit in Schattenbereiche abgedrängten Persönlichkeitsstrebungen, mit Fragen von Verantwortung und Schuld, jenseits von Hilflosigkeit und Omnipotenz. Alle müssen ihren Weg dazwischen finden. Die eigenen Wege durch Labyrinthe dieser Art zu finden, ist nicht einfach. Es gibt kaum gerade Wege oder Wege, bei denen man nicht mit eigener Schuld und Verantwortung konfrontiert wird.
Ethische Kompetenz ist nicht nur eine Frage des gewünschten Anstands, sondern auch eine Frage professioneller Kompetenz. Wer etwas kann und im Unternehmen Gewicht hat, hat bessere Chancen, aber auch mehr Verantwortung, sich ethisch zu verhalten. In jeder Position hat man Spielräume, die man nutzen kann:
Wenn einen also die Angst befällt in einem solchen System, wie dies bei meinem Klienten der Fall war, ist das nicht unbedingt nur neurotische Reaktion, sondern eigentlich eine gesunde. Coaching darf nicht dazu führen, dass ein Klient eine solche gesunde Reaktion nicht mehr zeigt. Wer in einem mafiösen System keine Angst mehr zeigt, ist, was man psychotherapeutisch „charaktergestört“ nennt.
Die Novelle „Michael Kohlhaas“ hat Heinrich von Kleist 1810 veröffentlicht. Er benutzt eine Chronik aus dem 16. Jahrhundert als historische Vorlage. Diese gestaltete Kleist zu einer Novelle um, in der es pointiert um die Konfrontation zwischen Idealwelt und Wirklichkeit geht.
Ein rechtschaffener Pferdehändler, dem Unrecht widerfahren ist, ruft die Gerichte an. Als er begreift, dass sein Widersacher von korrupten und einflussreichen Leuten geschützt wird, versucht er, sein Recht gewaltsam zu erzwingen.
Der Philosoph Ernst Bloch nennt Michael Kohlhaas den „Don Quijote rigoroser bürgerlicher Moralität“.
Private Ethik ist wichtig, doch nicht ausreichend, um in der Berufswelt ethische Fragestellungen angemessen zu formulieren. Die persönliche Bereitschaft Einzelner, anständig handeln zu wollen, reicht für das Erfassen zentraler Fragen der Ethik in größeren Organisationen nicht aus. Die Komplexität des heutigen Wirtschaftens und der heutigen Großorganisationen ist längst über ein für das private Gemüt fassbares Maß hinausgewachsen. Ansichten, Entscheidungen, Handlungen oder deren Unterlassung wirken oft über Mechanismen, die der Einzelne heute kaum noch überschauen kann.
Positionsinhaber in Organisationen verlieren sich leicht in deren Logik und scheinbaren Sachzwängen. Sachzwang steht in der Regel für den Glauben, Dinge nicht verändern zu können, ihren Gesetzen folgen zu müssen. Wenn nicht gerade Einfallslosigkeit, Trägheit oder Korruptheit dahinterstecken, spiegelt dieser Begriff häufig eine Entmündigung, die wiederum den Boden für ethische Verantwortungslosigkeit bereitet.
Manager funktionieren also, und erledigen das Tagesgeschäft. So erleben viele, auch mächtige Positionsinhaber ihre Spielräume fürs Nachdenken und schöpferische Beeinflussen der unternehmerischen Strategien der Organisationskultur als gering. Daher glauben sie, auch Vorgänge ertragen oder mitgestalten zu müssen, die sie aus ihren privaten Werthaltungen heraus ablehnen würden. Und verlieren so ihre Skrupel.
Der Zusammenhang zwischen sich verselbstständigenden, wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und persönlichen Lebenshaltungen scheint in vielen Lebensbereichen zerrissen zu sein. Die Menschen reagieren darauf – psychologisch verständlich – mit einer Spaltung ihrer inneren Lebenswelt. Es entstehen Risse in der Persönlichkeit, die als Verlust an Integrität erlebt werden. Die Scham darüber wird abgewehrt. Sie wird nicht als wichtiges Signal, das an die eigenen menschlichen Möglichkeiten und ethischen Bedürfnisse erinnert, erkannt. Diese Scham wird mit dem schmerzlichen Gefühl früher erlebter, unangemessener Beschämungen verwechselt und daher nicht als ein möglicher Schlüssel zur Selbstfindung und Wiederinanspruchnahme von Würde erkannt. Die Skrupellosigkeit im Wirtschaften erwächst aus dem Verlust von Würde – es kommt nicht darauf an.
Die Würde des Managers ist antastbar! Daher ist es wichtig, Mechanismen in Organisationen zu untersuchen, die Menschen als Privatpersonen wie auch als Positionsinhaber entwürdigen. Insgesamt sind Manager sicher nicht besser oder schlechter als andere Menschen. Dadurch aber, dass sie in ihren beruflichen Rollen und gesellschaftlichen Positionen oft größere Hebel betätigen, haben ihre Nachlässigkeiten, ihre Inkompetenz und fehlende Skrupel größere Auswirkungen als die von Privatpersonen. Ihre Sünden werden daher in der Öffentlichkeit zu Recht angeprangert. Ethische Erwägungen werden aber erst anspruchsvoll, wo sie über das Identifizieren von Schurken hinausgehen und sich mit den systemischen Vernetzungen und der „Banalität des Bösen“ auseinandersetzen.