Konzepte

Was Coaches von den Neuro-Wissenschaften lernen können

Über die Konstruktion unseres Selbst aus Erlebtem und Erlerntem

11 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 06 | 2021

Emotionen sind zwar regulierbar, aber nicht unmittelbar steuerbar

Das limbische System (v.a. Amygdala, Hypothalamus und Hippocampus), das Zentrum der Emotionen im menschlichen Gehirn, arbeitet autonom und entzieht sich der unmittelbaren kognitiven Kontrolle (Gerrig, 2018). Ob und welche emotionalen Reaktionen wir haben, können wir nicht unmittelbar steuern und beeinflussen.

Emotionen werden nicht nach dem Zufallsprinzip ausgelöst, sondern folgen ihrer eigenen Logik. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Amygdala als „der Ort der emotionalen Konditionierung“ (Esch, 2017, S. 98). Sie beurteilt Situationen blitzschnell danach, inwieweit sie bedrohlich oder nicht bedrohlich sind, und stellt den Kern des emotionalen Gedächtnisses dar.

Diese Prozesse laufen vollständig autonom ab. Es bringt also nichts, eine andere Person oder sich selbst spontane emotionale Reaktionen vorzuwerfen oder damit zu hadern. Interessanter ist es, danach zu fragen, was genau die emotionale Reaktion ausgelöst hat. Mehr Bewusstheit über den Auslöser hilft, die emotionale Dynamik besser zu verstehen, und schafft gleichzeitig eine kognitive Distanz zur Emotion. Dabei werden kognitive Areale des Gehirns aktiv (insbesondere der Frontallappen) und es besteht die Möglichkeit, auf die emotionale Dynamik bewusst Einfluss zu nehmen.

Diesen Vorgang nennt man Emotionsregulation. Mit entsprechenden Kompetenzen sind wir emotionalen Zuständen – und damit den automatischen Vorgängen im limbischen System – nicht mehr passiv ausgeliefert, sondern können sie aktiv mitgestalten und an persönliche Bedürfnisse und situative Erfordernisse anpassen.

Emotionsregulation kann an fünf verschiedenen Aspekten ansetzen:

  1. Die Auswahl einer Situation, z.B. das Anschauen eines emotionsgeladenen Films oder das Vermeiden einer angstauslösenden Situation.
  2. Die Veränderung einer vorgefundenen Situation, z.B. durch gute Vorbereitung auf eine Prüfungssituation.
  3. Die Kontrolle der Aufmerksamkeit, z.B. durch Blickkontakt mit freundlich und interessiert schauenden Teilnehmern während eines Vortrags.
  4. Die kognitive Umbewertung eines emotionalen Ereignisses, z.B. durch Neubewertungen (z.B. Chance statt Krise), günstige Attributionen (z.B. sich selbst Mut zusprechen), Verdrängung, Rationalisierung.
  5. Die Kontrolle über die emotionale Reaktion durch Dämpfung oder Verstärkung, z.B. durch bewusstes Atmen, Veränderung von Mimik und Gestik, innere Ansprache, innere Bilder.

Die ersten vier Strategien zielen darauf ab, die Entstehung einer Emotion zu beeinflussen, während die letzte Strategie auf emotionale Reaktionen Einfluss nimmt, die bereits ausgelöst wurden. Die Effektivität dieser Regulationsstrategien wurde in zahlreichen Studien untersucht. Als besonders wirksam hat sich die kognitive Umbewertung von emotionsauslösenden Situationen herausgestellt. (Eder & Brosch, 2017)

Unser Gehirn bildet Realitäten nicht ab wie ein Spiegel, sondern konstruiert sie

Wie wir eine bestimmte Situation wahrnehmen und erleben, ist das Resultat von Hirnaktivitäten, bei denen über die Sinnesorgane aufgenommene Reize mit abgespeicherten Informationen aus verschiedenen Bereichen des Gehirns zu einem sinnhaften Ganzen zusammengeführt werden. Wirklichkeit wird also nicht wie durch ein Objektiv erfasst und abgebildet, sondern vom Gehirn des Menschen (re-)konstruiert. Diese Konstruktion ist subjektiv und bezieht Informationen, die im impliziten und expliziten Gedächtnis des einzelnen Menschen gespeichert sind, mit ein.

Gerrig (2018, S. 185) kommt daher zu folgendem Schluss: „Keine zwei Menschen interpretieren deshalb eine Situation auf genau die gleiche Weise. Unsere persönliche Konstruktion der Realität ist unsere ureigene Interpretation einer gegebenen Situation und basiert auf unserem allgemeinen Wissen, unseren Erfahrungen, Erinnerungen an vergangene Erlebnisse, auf augenblicklichen Bedürfnissen, Werten, Einstellungen und künftigen Zielen.“

Dieser Prozess ist uns in der Regel nicht bewusst. Deshalb halten wir das, was wir erleben, automatisch für „die“ Wirklichkeit und vergessen dabei oft, dass dies keine „objektive“, sondern unsere subjektive Konstruktion von Wirklichkeit ist.

Wann werden Wirklichkeitskonstruktionen zum Problem?

Solange die Dinge normal laufen und in unserem Sinne funktionieren, ist das kein Problem. Schwierig wird es, wenn unterschiedliche Interessen, Überzeugungen, Ziele etc. aufeinanderstoßen. Dann können die unterschiedlichen, subjektiven Sichtweisen schnell zu emotional aufgeladenen Verhaltensweisen und schwierigen Wechselwirkungen führen. Die automatisch ausgelösten Emotionen steuern unser Verhalten dann möglicherweise in Richtung Angriff, Verteidigung oder Rückzug und verstärken dadurch Spannungen und Missverständnisse.

Emotionen sind in solchen Situationen keine guten Ratgeber. Hilfreicher sind kognitive Distanz und Bewusstheit. Wenn ich mir z.B. bewusst mache, dass meine Sicht der Wirklichkeit genauso wenig objektiv ist wie die meines Gegenübers, kann dies der erste Schritt zu einer Emotionsregulation und zu einem öffnenden Dialog sein.

Im Sinne der Dialogmethode würde es dann eher darum gehen, die Grundlagen meiner Annahmen und die damit verknüpften emotionalen Bewertungen explizit zu machen und jene meines Gegenübers zu hören und zu verstehen. Statt als Wissende aufzutreten, gilt es eine Haltung von Offenheit einzunehmen sowie die Bereitschaft zu haben, sich einzugestehen, dass man nichts „objektiv“ weiß. (Bohm, 1998; Isaacs, 2011)

Annahmen über die Welt sind notwendig und nützlich. Sie ermöglichen es uns, zu handeln und unsere Handlungen mit anderen abzustimmen. Wenn wir jedoch die Tatsache aus den Augen verlieren, dass unsere Annahmen subjektive Interpretationen von Situationen und Ereignissen sind, werden sie problematisch.

Einfache, aufrichtige Fragen zu stellen, ist ungewohnt, was daran liegen mag, dass in unserer Kultur sehr viel Wert auf „Wissen“ gelegt wird. Wenn ich im Dialog in der Lage bin, meine Rolle als Wissender aufzugeben für das Interesse an dem, was anders ist, als ich es bereits kenne, kann ich „unschuldige“ Fragen stellen aus dem Bedürfnis, die andere Sichtweise wirklich verstehen zu wollen. „Wir brauchen gute Fragen dringender als gute Antworten“, so Isaacs (2011, S. 132).

Unser Gedächtnis beinhaltet nur das, was wir im Laufe unseres Lebens gelernt haben

Unser Gehirn ist ein lernendes Organ und speichert ständig neue Informationen über uns und die Welt ab. Was letztlich in unserem Langzeitgedächtnis abgespeichert wird, können wir aber nur bedingt beeinflussen. Eine der wichtigsten Entscheidungsinstanzen (Amygdala und Hippocampus) befindet sich im autonom arbeitenden limbischen System. (Gerrig, 2018)

Am Anfang der Entwicklung der spezifischen menschlichen Fähigkeiten steht nicht das Denken, sondern das Fühlen. Die primäre Strukturierung des Gehirns erfolgt über körperliche Erfahrungen und Beziehungserfahrungen. Erst die emotionalen Aufladungen verleihen dem Gehörten und Erlebten Struktur. Wenn die emotionale Aufladung nicht gelingt, kann das Kind keine innere Struktur aufbauen. (Bauer, 2019; Rudolf, 2010)

Angst und Vertrauen sind grundlegende strukturierende Kräfte, die das Denken und Handeln beeinflussen und steuern. Was Angst und Vertrauen auslöst, wird in erster Linie bestimmt durch entsprechende Erfahrungen, die das Individuum gemacht hat. Diese Informationen werden vor allem im emotionalen Gedächtnis der Amygdala gespeichert. (Lammers, 2007)

Das Langzeitgedächtnis enthält unser gesamtes explizites und implizites Wissen von der Welt und von uns selbst. Die Kapazität ist nahezu unbegrenzt. Das Faktenwissen ist lediglich ein kleiner Teil dessen, was unser Gehirn gelernt und gespeichert hat. Das, was wir gelernt haben, verwendet unser Gehirn dauernd. Die entsprechenden Prozesse laufen automatisch ab und können nicht willentlich gesteuert werden.

So ist z.B. das Erinnern nicht einfach ein Abruf von Aufzeichnungen sondern ein konstruktiver, selektiver Prozess. In anderen Worten: „Erinnerungen sind keine Kopien der Erlebnisse, durch die sie entstanden sind.“ (Ledoux, 2010, S. 225) Erinnerungen sind in gleichem Sinne Rekonstruktionen wie die zuvor beschriebenen Wahrnehmungen von Wirklichkeit.

Verhalten durch Erlerntes

Zu den gelernten Mustern und Regeln, auf die unser Gehirn bei der Verarbeitung von neuen Reizen und Informationen zurückgreift, gehören auch unsere Einstellungen, Gewohnheiten, Überzeugungen, Ziele und Werte, die sich im Verlauf unseres Lebens ausgebildet haben und in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert und emotional verankert sind.

Wie wir die Welt erleben und wie wir uns spontan verhalten, wird also entscheidend gesteuert durch die „Regeln“, die unser Gehirn über unser Erleben der Welt und erfolgreiches Verhalten in unserer Welt gelernt hat, und weniger über unseren „freien“ Willen. Aus der Sicht vieler Hirnforscher ist der stets überlegt und bewusst handelnde, von seinem „freien“ Willen geleitete Mensch ohnehin eine Illusion. (Roth, 2007)

Für eine bewusste Selbstführung bzw. die Arbeit im Coaching ergeben sich daraus folgende Orientierungen:

  • Klarheit haben über grundlegende Einstellungen, Überzeugungen, Werte und Ziele
  • Sich seiner Gewohnheiten, Vorlieben, Stärken und Schwächen bewusst sein
  • Eine gute Körper- und Selbstwahrnehmung haben
  • Auf das spontane, „automatische“ Sehen, Denken und Handeln – bei Bedarf – regulierend Einfluss nehmen
  • Neue Erfahrungen und positive Erlebnisse suchen

Unser Selbst-Bewusstsein ist ein Konstrukt

Bewusstsein ist das Wahrnehmen von Gedankeninhalten. Wie zuvor beschrieben wurde, ist unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit nicht „objektiv“, sondern wird auf der Grundlage der Sinneswahrnehmungen und der Informationen, die im Gedächtnis abgespeichert sind, (re-)konstruiert. Das bedeutet, dass auch unsere mentalen Repräsentationen, also unsere bewussten Wahrnehmungen und Gedanken, nicht „objektiv“, sondern subjektiv konstruiert sind. Was wir für die Wirklichkeit halten, ist unsere subjektive Konstruktion von Wirklichkeit. Bewusstsein ist ein ausschließlich subjektiv erfahrbares Phänomen.

Das gilt auch für unser Selbst-Bewusstsein. Selbst-Bewusstsein entsteht aus unseren Gedanken und unserem Wissen über uns selbst. Selbst-Bewusstsein ist ein mentales Phänomen. Dieses Wissen speist sich zum einen aus den Gedanken, die wir uns über uns selbst machen, und aus unseren Erfahrungen. In dieses Wissen fließt aber auch ein, was wir von anderen zu uns und unserem Verhalten an Rückmeldungen und Reaktionen bekommen. Diese Zuschreibungen und Selbstzuschreibungen werden – gesteuert durch das limbische System – in unserem Gedächtnis verankert und führen im Lauf der Jahre zur Ausbildung eines situationsunabhängigen, stabilen Selbst-Konzepts, einer Identität.

Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1973, S. 18), einer der Pioniere der Identitätsforschung: „Das bewußte Gefühl, eine persönliche Identität zu besitzen, beruht auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen.“

Wer sind wir?

Wie können wir in einem Leben, das von ständiger Veränderung und Ungewissheit geprägt ist, Gleichheit und Kontinuität bewahren, ohne starr zu werden? Wie können wir uns als Menschen in unserem Leben weiter entwickeln, ohne uns zu verlieren? (Konersmann, 2015)

Wir halten uns für das und identifizieren uns mit dem, was wir über uns denken und was wir über uns wissen. Da unser Gehirn plastisch ist und sich ständig verändert, wird diese Selbst-Konstruktion immer verfestigter je häufiger wir denken, dass wir so sind wie wir zu sein glauben. Diese Selbst-Konstruktion kann durch neue Erfahrungen, neue Gedanken und neue Perspektiven beim Blick auf uns selbst, die z.B. im Coaching erlangt werden können, aber auch verändert werden.

Im Zen-Buddhismus spricht man vom Anfängergeist. Damit ist die Fähigkeit gemeint, jeder Situation so offen und vorbehaltslos gegenüber zu treten, als ob man sie zum ersten Mal erleben würde. Dieser Anfängergeist ist mit einem starren Selbst-Bewusstsein und damit einhergehenden Identifikationen nicht möglich. Was es braucht, sind Nicht-Identifikation und Bewusstheit. (Adyashanti, 2014; Poraj, 2016)

Nicht-Identifikation bedeutet die Fähigkeit, die unterschiedlichen Phänomene einschließlich meiner mentalen Repräsentationen bewusst wahrnehmen zu können. Durch das bewusste Wahrnehmen (die Beobachterhaltung) entsteht eine kleine Distanz zu dem Wahrgenommenen, die bewusstes, flexibles Handeln ermöglicht.

Identifikationen erkennen

Wenn wir uns mit „Etwas“ (z.B. bestimmten Rollen, Themen, Zielen, Status, Organisationen, Werten, Überzeugungen) identifizieren, wird auch dieses „Etwas“ nach und nach Teil unseres Selbst-Konzepts, unserer Identität. Wenn dann dieses „Etwas“ kritisiert oder bedroht wird, fühle ich mich selbst kritisiert oder bedroht. Das kann unbewusst zum Erleben einer existenziellen Bedrohung der eigenen Identität führen, die dann automatisch bekämpft wird. Für das limbische System geht es dann tatsächlich ums Überleben und entsprechend kämpft der Mensch für seine Rollen, Themen, Ziele Organisationen, Werte, Überzeugungen, seinen Status etc. Empathie und Verständnis für andere Sichtweisen oder ein Wechsel der Perspektive sind dann kaum noch möglich.

Stellen wir uns also immer wieder die Frage: Ist ein bestimmtes „Etwas“ im Kern tatsächlich Teil meines Ichs und unabdingbar mit mir verbunden wie z.B. mein Körper? Oder ist es nur ein Phänomen in meinem derzeitigen Lebensabschnitt, dessen Bedeutung sich verändern kann, eventuell sogar bis hin zur Bedeutungslosigkeit? Im Coaching kann diese Frage eine wertvolle Reflexion anregen.

Alles, was im Kern nicht unabdingbar zu uns gehört, hat für uns und unser Leben nur relative Bedeutung. Diese Bedeutung kann groß sein, sie ist aber nicht absolut. Das Bewusstsein, dass bestimmte Phänomene zwar wichtig aber in der Bedeutung für unser Leben nicht absolut sind, schafft die Möglichkeit einer bewussten inneren Distanz, auf deren Grundlage Identifikationen erkannt und umgewandelt werden können.

Trainieren und nutzen wir den Anfängergeist auch und gerade beim Blick auf uns selbst.

Literatur

  • Adyashanti (2014). Sein. München: O.W.Barth.
  • Bear, M. F.; Connors, B. W.; Paradiso, M. A. (2018). Neurowissenschaften. Berlin/Heidelberg: Springer.  
  • Bauer, J. (2019). Wie wir werden, wer wir sind. München: Karl Blessing.
  • Bohm, D. (1998). Der Dialog. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Eder, A. B. & Brosch, T. (2017). Emotion. In J. Müsseler & M. Rieger (Hrsg.), Allgemeine Psychologie (S. 185–222), Berlin/Heidelberg: Springer.
  • Erikson, E. H. (1973). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Esch, T. (2017). Die Neurobiologie des Glücks. Stuttgart: Georg Thieme.
  • Gerrig, R. J. (2018). Psychologie. München: Pearson.
  • Isaacs, W. (2011). Dialog als Kunst gemeinsam zu denken. Gevelsberg: EHP.
  • Knapp, N. (2013). Der Quantensprung des Denkens. Hamburg: Rowohlt.
  • Konersmann, R. (2015). Die Unruhe der Welt. Frankfurt: S. Fischer.
  • Lammers, C.-H. (2007). Emotionsbezogene Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer.
  • Ledoux, J. (2010). Das Netz der Gefühle. München: dtv.
  • Poraj, A. (2016). Enttäuschung. München: Kösel.
  • Roth, G. (2007). Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Stuttgart: Klett-Cotta.
  • Rudolf, G. (2010). Psychodynamische Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer.

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