Eine erste Begebenheit, die den hier vorgestellten Ansatz „Coaching vor Kunst“ inspiriert hat, war eine Führung für Schüler durch eine Gauguin-Ausstellung. Dort wurde das Schlüsselwerk des Künstlers mit dem Titel „Wohin gehst Du?“ aus dem Jahr 1893 genauer betrachtet. Durch die einfache Frage „Was könnt ihr alles auf dem Bild entdecken?“ entstand eine intensive Beobachtungssituation.
Nachdem die ersten offensichtlichen Dinge wie Gegenstände, die Beschreibung der Landschaft und der Farben erfolgt war, entstand eine längere Pause. Nach einer Weile unterbrach ein Schüler die Stille und sagte: „Der Zweig am Baum und die Ohrringe der Frau, die unmittelbar neben dem Baum steht, haben dieselben Farbelemente. Die Farbe verbindet beides. Für mich hat das etwas mit dem Bezug der Frau zur Natur zu tun, Natur und das Weibliche sind in diesem Bild eins.“ Diese Beobachtung war ein entscheidender Impuls und öffnete der Gruppe einen überraschend neuen Bedeutungsraum.
Das weitere Gespräch führte nicht nur zur gemeinsamen Verständigung über die Bedeutungen des Bildes. Entlang des Bildes entwickelten sich neue Themen und eine vertiefende Interpretation gelang. Die eindrucksvolle gemeinsame Erfahrung war, dass sich das Bild durch den Dialog verändert hatte.
Die Grunderfahrung der Überraschung und unmittelbaren Wendungen der Bildbedeutung und der daraus entstehenden Neukonstruktionen von Bedeutungen in Coaching-Situationen werden im Coaching vor Kunst gezielt angesteuert. Entsprechend wird das Coaching- Setting in ein Museum oder eine Galerie verlegt: Dort entsteht zwischen Klient, Coach und Kunstwerk ein intensiver und deutlich spürbarer Raum, der die Erarbeitung kreativer Lösungsansätze durch eine Vielfalt von Assoziationsmöglichkeiten und durch visuelle sowie sprachliche Anregung in besonderer Weise unterstützt.
In Anlehnung an Grundsätze der systemischen Beratung und in Abgrenzung von Kunst-Coaching-Formaten, die das künstlerische Handeln der Klienten für die Entwicklung von Lösungsansätzen nutzen, setzt Coaching vor Kunst auf die Kraft von Kunstwerken zur Gestaltung dieses besonderen Raums.
Coaching vor Kunst läuft grundsätzlich in drei Phasen ab: erstens der Vorbereitungsphase, mit der Auftragsklärung, der Konkretisierung des Anliegens, der Besprechung des Formats des Coachings sowie der Vorauswahl des Kunstwerks, zweitens der Durchführungsphase im Museum, und abschließend, drittens dem Nachklang mit einem Protokoll des Coachings und der Besprechung der Wirkung und Ergebnisse mit dem Klienten.
In der Vorbereitungsphase werden Auftrag, Erwartungen und Ziele besprochen. Im Rahmen der Auftragsklärung wird der Ansatz mit Kunstwerken zu arbeiten vorgestellt, um den Klienten auf das besondere Format einzustimmen. In dieser Phase werden auch Vorlieben oder Abneigungen gegenüber bestimmten Kunstrichtungen besprochen.
Bei manchen Klienten kann es Vorbehalte gegenüber einigen Kunststilen geben, z.B. gegenüber religiösen Themen. Es ist nicht unbedingt wichtig, dass der Klient das Kunstwerk, vor dem der Coaching-Prozess stattfinden soll, allein auswählt. Der Coach kann beispielsweise eine Vorauswahl von mehreren Bildern treffen oder auch ein einzelnes Bild vorschlagen. Allerdings ist es für den positiven Verlauf des Coaching-Prozesses entscheidend, dass der Klient sich vor dem Bild wohl fühlt.
Die Herausforderung für den Coach besteht darin, das besprochene Anliegen mit passenden Werken in Verbindung bringen zu können. Hierfür ist es notwendig, das Anliegen vorab so zu konkretisieren, dass relevante Informationen für die Bildauswahl erkennbar werden.
In diesem Zusammenhang ist eine breite Kenntnis möglicher Werke und deren kunsthistorischer Hintergründe für das Coaching vor Kunst ebenso wichtig, wie die Fähigkeit, Bilder „lesen“ zu können. Kunstwerke beinhalten häufig komplexe Kompositionsstrukturen. Diese „Baupläne“ gilt es zu erkennen und zu entschlüsseln, um sie im Coaching nutzen zu können. Der Klient hingegen braucht keine kunsthistorischen Vorkenntnisse.
In der Durchführungsphase im Museum strukturiert der Coach sehr klar die einzelnen Schritte und achtet insbesondere auf die Balance zwischen Assoziationsvielfalt und Zielgerichtetheit. Das Coaching-Setting beginnt schon im Eingangsbereich des Museums und dient der Einstimmung. Der Coach tauscht sich in diesem Moment kurz mit dem Klienten über dessen aktuelle Situation und Vorstellungen für das Coaching-Gespräch aus. Fragen und Anliegen werden noch einmal konkretisiert.
Der Klient wird dann in einen vorausgewählten Bereich des Museums oder zu einem speziellen Bild geführt. Wurde die Bildauswahl noch nicht getroffen, sollte sich der Klient dafür Zeit nehmen. Gelegentlich kann ein kurzer Dialog die Entscheidung unterstützen, ein passendes Werk zu finden. Grundsätzlich gilt für die Auswahl des Kunstwerks, dem Gefühl des Klienten und dem intuitiven Findungsprozess Raum zu geben. Hier zeigt die Erfahrung, dass dasjenige Kunstwerk besonders geeignet ist, welches auf den Klienten eine unmittelbare Anziehungskraft ausübt. Dabei sollte das ausgewählte Kunstwerk das Anliegen auf keinen Fall vordergründlich illustrieren.
Dann beginnt der Dialog über das Kunstwerk, und der Klient schildert zunächst, was er sieht und was ihn besonders anspricht. Durch gezielte Nachfragen, wie z.B. zu Personen im Bild, Farben, Komposition, Gegenstände usw., regt der Coach eine Vertiefung der Beobachtung an. Dadurch stellen sich erste Assoziationen und vorsichtige Deutungen ein. Dieser Schritt fungiert als eine Distanzierung bzw. De-Zentrierung vom ursprünglichen Anliegen, was interessanterweise eine Parallele zu anderen Coaching Ansätzen darstellt, die Kunst nutzen (Johnson & Jahn, 2014).
Durch die Konzentration auf das Werk, kann sich der Klient vom Anliegen leichter lösen und kann beginnen, dieses aus einer anderen Perspektive zu betrachten. In diesem Moment werden Anliegen und Bild immer wieder miteinander gespiegelt, sodass Analogien, Differenzen, Assoziationen auftauchen, entdeckt und in den eignen gedanklichen und emotionalen Horizont integriert werden.
Durch den Kontakt zwischen Klient und Kunstwerk wird eine Spannung des Beobachtens und Erkennens aufrechterhalten, was aktiv vom Coach unterstützt wird um am Bild „dran zu bleiben“. Die hohe Intensität der Betrachtungssituation führt häufig zu grundlegenden Momenten mit unmittelbaren Einsichten und manifestiert sich durchaus als ein „Aha-Erlebnis“.
Diese Effekte konnten in der Zusammenarbeit mit Personen unterschiedlichster professioneller Herkunft und Coaching-Anliegen erfahren werden. Oftmals lag eine ungewöhnliche Bildauswahl zugrunde.
Anlass für das Coaching der Klientin, einem Mitglied aus dem Management-Board eines Pharmaunternehmens, war, dass „Kreativität“ auf die strategische Agenda des Unternehmens gesetzt worden war. Die Frage der Klientin zielte darauf, die Voraussetzung für kreatives Handeln in der Organisation zu beleuchten, insbesondere was die kulturellen Aspekte betrifft. Darüber hinaus war ihr Anliegen, ihre eigene Rolle in Bezug auf dieses Thema zu vertiefen.
Für das Treffen im Museum wurde für sie eine Vorauswahl von vier Bildern getroffen, die zunächst gemeinsam betrachtet wurden. Die Entscheidung der Klientin fiel ganz spontan auf das Werk „Das Jüngste Gericht“ von Fra Angelico, von dem sie sich unmittelbar angezogen fühlte.
Nach einer fast kontemplativen Einfindungsphase wurden einzelne Bildelemente, wie die Gruppe der himmlischen Heerscharen mit der alles überstrahlenden Christusgestalt im oberen Bildteil, die dramatische Situation des Jüngsten Gerichts im Vordergrund und die expressive Darstellung der Höllenszene auf der rechten Bildseite im Dialog erkundet und beschrieben. Die Frage nach der Bedeutung der einzelnen Bildelemente wurde bewusst zurückgestellt, um dem eigenen Findungsmoment genug Raum zur Verfügung zu stellen.
Nach einem kurzen Moment des Innehaltens stellte die Klientin, plötzlich und sehr emotional, die Höllenszene ins Zentrum des Gesprächs. „Es ist irritierend“, so sagte sie, „aber ich fühle mich von diesem Teil sehr deutlich angezogen. Das finde ich wesentlich spannender als die himmlischen Heerscharen, die sind für mich farblich gesehen eher langweilig.“
Ihre Energie war deutlich zu spüren und sie schilderte dann ganz direkt, wie sie die Darstellung der Hölle mit einer Kraft, die durchaus zerstörenden Charakter aufweist, die es ihrer Meinung nach jedoch für den Innovationsprozess unbedingt braucht, in Verbindung brachte. Der entscheidende Punkt dieser Bildszene war, dass sie sich die Frage stellte, wie man mit diesen Kräften im Unternehmen produktiv umzugehen vermag und einen entsprechenden Raum dafür öffnen könnte.
Bei der Nachfrage des Coachs, wie die Klientin ihre eigene Rolle im kreativen Prozess beschreiben würde, brachte die Bildbetrachtung eine weitere Überraschung hervor: Zunächst entstand Stille. Der Vorschlag, sich für einen Moment in die Rolle der zentralen Christusfigur als ordnende, lenkende Kraft zu versetzen, rief unmittelbares, deutliches Unbehagen hervor. Die Klientin konnte sich mit der Art der Darstellung überhaupt nicht identifizieren. Die Christusfigur, äußerte sie, stehe zu isoliert und passe auch nicht zu ihrem Verständnis ihrer Rolle im kreativen Prozess. Alternative Varianten des Rollenverständnisses wurden im weiteren Gespräch entlang der verschiedenen Optionen des Bildes mit Interpretier- und Spielfreude ausgelotet.
Das Coaching-Gespräch am Bild führte zur Erkenntnis der Klientin, ihre Rolle als Führungskraft zu überdenken, insbesondere wie sich das Steuern von Prozessen sowie das Öffnen von Räumen, in denen frei gedacht werden kann, gut balancieren lässt, um damit gezielt Momente für kreative Kräfte zu schaffen.
In einem anderen Fall stand ein Klient unmittelbar vor dem Aufbau eines neuen Teams in einem Start-up-Unternehmen. Die Aufgabe lag gewissermaßen noch vor ihm und er hatte das Anliegen, diese Situation schon zu diesem Zeitpunkt zu durchdenken. Seine Frage war: Wie kann ich mich gut für die bevorstehende Aufgabe rüsten und was sind meine persönlichen Anliegen, um diese Situation zu meistern?
Ihm wurde das Bild „Gastmahl des Plato“ von Anselm Feuerbach vorgeschlagen (siehe http://goo.gl/ExxOBp). Das Bild sagte ihm auf Anhieb zu. Es zeigt einen großen Saal mit zwei Gruppen von Gästen. Das Geschehen spielt in einer klassischen griechischen Architektur. Die beiden Gruppen sind jeweils in einer Dreiecksform komponiert und stehen sich gegenüber.
Die eine Gruppe befindet sich im konzentrierten Gespräch, die andere, die offensichtlich ausgelassen fröhlich ist, scheint gerade von links den Raum betreten zu haben. In der Mitte steht der Gastgeber, der die ausgelassene Gruppe eher zögerlich begrüßt.
Der Klient beschrieb zunächst, die einzelnen Bildelemente, die auf dem Werk zu sehen sind, eng gefolgt von Assoziationen zur Körpersprache, zu der Bildung der Gruppen und zur Rolle des Gastgebers, der ihm als eine Art Vermittler erschien, der beiden Gruppen behutsam in Verbindung zu bringen versucht.
Nahtlos stellten sich Verbindungen zu dem eigenen anstehenden Teambildungsprozess her: Dem Klienten fiel auf, dass es ihm ein überaus wichtiges Anliegen war, bei der Auswahl der Teammitglieder und der Gestaltung der Zusammenarbeit darauf zu achten, dass ein Zusammenhalt entsteht, der alle Teammitglieder umfasst und diese Freude an der Arbeit und Konzentration erleben können.
Anhand der Frage nach unterschiedlichen Persönlichkeiten für ein Team, was sich in der Verschiedenartigkeit der beiden Gruppen in Feuerbachs Bild wiederspiegelte, wurde Schritt für Schritt ein Weg entwickelt, was für den Auswahlprozess zu beachten sei, um ein zum Ziel und Wunsch passendes Team zusammenstellen zu können.
Das Motiv des Gastgebers wurde Anlass, über das eigene Führungsverständnis und die angestrebte Kultur der Zusammenarbeit genauer zu reflektieren und diese zu konkretisieren. Darüber hinaus kam zur Sprache, was in der praktischen Organisation der zukünftigen gemeinsamen Arbeit beachtet werden sollte. Das Anliegen wurde auf diese Weise in kürzester Zeit durch unterschiedliche Aspekte zu Führung, Management und Kultur beleuchtet.
In der abschließenden Betrachtung des Bildes und Würdigung der Situation fiel die Aufmerksamkeit des Klienten auf den gemalten Rahmen. Dieser weist eine reichhaltige Verzierung mit Girlanden, Früchten, Muscheln und Masken auf. Die Entdeckung inspirierte den Klienten zu der weiteren Erkenntnis, dass es für ihn von großer persönlicher Bedeutung ist, auf seine Work-Life-Balance zu achten.
Fast im Moment des Verlassens des Bildes eröffnete sich für ihn die wichtige Einsicht, auch für das Schöne im Leben weiterhin Zeit zu finden. Das, so äußerte er sich, sei eine Voraussetzung dafür, die nötige Energie zu haben, um den gewünschten Rahmen für die gelingende Teamarbeit tatkräftig im Alltag umzusetzen.
Abschließend verweilte er noch eine Weile allein vor dem Bild, um Eindrücke zu vertiefen und mitzunehmen. Auf dem Weg zum Ausgang berichtete er angetan, dass er durch den Prozess deutlich spürte, nicht nur ein besseres Bild der Situation vor Augen zu haben, sondern empfand, fast körperlich größer geworden zu sein.
Die beiden Beispiele beschreiben ganz unterschiedliche Coaching-Situationen und ihre Geschichten. Im ersten Fall ging es um einen laufenden Veränderungsprozess und die notwendigen Adaptionsschritte. Die zweite Situation betraf eine anstehende Aufgabe, für die sich ein Klient innerlich vorbereiten will.
Die Erfahrung zeigt, dass auch Themen, wie grundlegende Karriereentscheidungen, Fragen des professionellen Selbstverständnisses oder Konflikte im Berufsleben, Anliegen sind, die sich erkenntnisreich und intensiv mit dem kreativen Prozess vor Kunst zu arbeiten unterstützen ließen.
Im Museum wirken Kräfte und Ebenen, die in einem klassischen Coaching-Setting nur schwer zu entwickeln sind: Die Klienten lassen sich intuitiv auf ein Werk ein. Ihre spontane und gefühlsgeleitete Entscheidung stärkt das emotionale Selbstbewusstsein. Sie erleben, dass das Nachdenken über Lösungen emotionale und ästhetische Dimensionen hat.
Das Sehen, die unmittelbare Wahrnehmung und die damit verbundenen Emotionen nehmen neben dem Dialog mit dem Coach einen gleichberechtigen und in bestimmten Momenten einen sogar fast wichtigeren Platz ein. „Seeing comes before words“, sagt John Berger (2008): Das Einbeziehen des Sehens ermöglicht diese intuitive, emotionale und körperliche Erfahrung, die in besonderer Weise das Unbewusste bewusst werden lässt und sinnstiftenden Interpretationen und Schlüsse erlaubt (Retzlaff, 2005).