Nicht selten werden unter "Coaching" Maßnahmen verstanden, die Veränderungen ermöglichen oder begünstigten sollen. In der Praxis stellt sich jedoch häufig heraus, dass Coaching nur vordergründig zur Veränderung in Anspruch genommen wird und dahinter ein Stabilisierungswunsch steckt. Dies muss jedoch kein Widerspruch sein, wenn man den Aspekt der Komplexitätsreduktion als Katalysator für beide Prozesse versteht.
Veränderung wird nicht nur ermöglicht durch ein Lernen aus Erkenntnis und Erfahrung, sondern es erfordert Emotionen. Ohne Emotionen findet keine nachhaltige Veränderung statt, denn es ist das Ausmaß der positiven (oder negativen) Bewertung, das den Lernerfolg entscheidend beeinflusst. Damit soll jedoch kein "Zuckerbrot und Peitsche"-Denken gerechtfertigt werden: Ein Zuviel an Emotionen und Kognitionen kann das Lernen genauso behindern, wie ein Zuwenig davon das Gehirn unterfordert. Entscheidend ist somit die Dosis. Und die ist individuell höchst unterschiedlich.
Für das Coaching bedeutet das, auf einen ganz wesentlichen Faktor zu achten: Die Komplexitätsreduktion als vermittelnde Variable für die Veränderungsfähigkeit eines Menschen. Dazu muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass Coaching meist die Begleitung eines Klienten über einen längeren Zeitraum darstellt. D.h. es findet eine Begegnung zwischen zwei Menschen statt. Oder eben auch nicht – und insbesondere, wenn eine echte Begegnung ausbleibt, ist das Ausmaß des erzielten Erfolgs meist von überschaubarer Größe.
Ein Paradebeispiel dafür sind Coaching-Prozesse, die sich auf das methodisch orientierte "Abspulen" einiger Techniken konzentrieren, welche vordergründig vom Klienten akzeptiert werden. Solche Coaching-Prozesse dümpeln eher auf der Oberfläche daher, was von Klienten mit einer "Wasch mich, aber mache mich nicht nass"-Mentalität durchaus gewollt sein kann. Es muss also mitnichten eine zeitnahe Unzufriedenheit eintreten. Vielmehr ist es so, dass derartige Coaching-Prozesse kaum nachhaltige Wirkungen entfalten und zeitnah nach Beendigung des Coachings die üblichen Routinen wieder die Oberhand gewinnen.
Beziehungsarbeit
Schafft der Coach jedoch ein Setting, in dem eine echte Begegnung zweier Menschen möglich ist, entsteht eine Beziehung. Diese setzt jedoch ein ernsthaftes Interesse am anderen Menschen voraus und eben nicht nur die professionelle Anwendung raffinierter Methoden. In diesem Sinne ist der Coach selbst sein wichtigstes "Instrument", indem er als Resonanzkörper fungiert, sich als Person in den Prozess einbringt und nicht auf eine professionelle Rolle (die es natürlich auch braucht) reduziert ist. Eine solche Beziehung ist die Grundlage für Vertrauen (siehe Coaching-Newsletter April 2010).
Vertrauen
Das Interessante am Vertrauen ist, dass es eine Komplexitätsreduktion im Erleben des Klienten zur Folge hat. Diese Komplexitätsreduktion lässt sich mittlerweile sogar neurophysiologisch nachweisen, u.a. konnte damit die (im Grunde ja nicht neue) Annahme belegt werden, dass Vertrauen Angst abbaut. Das Erleben von Vertrauen sorgt also dafür, dass eine ausufernde Komplexität und das Gefühl des Überfordertseins soweit reduziert werden kann, dass ein verbesserter Umgang mit hoch komplexen Aufgaben und Strukturen möglich wird. Wo also vorher im schlimmsten Fall eine Angststarre herrschte, kommt es so wieder zu genügend Flexibilität, um mit einer anspruchsvollen Situation angemessen umgehen zu können.
Ein "heiß gelaufener" Klient wird also durch die vertrauensvolle Beziehung zum Coach soweit "abgekühlt" bzw. stabilisiert, dass er wieder in die Lage versetzt wird, sich auf eine Veränderung einzulassen. Denn eine Veränderung bedeutet ja zunächst immer eine (temporäre) Erhöhung der Komplexität. Wer aber würde sich darauf einlassen, wenn Komplexität und Überforderung Kern seines Coaching-Anliegens sind? Ein Mehr an Tools würde die Komplexität für den Klienten nur noch weiter erhöhen. Ein solches Coaching braucht daher weniger Methoden, als vielmehr Geduld.
Das Muster, welches eine Veränderung ermöglicht, weil es durch Vertrauen Komplexität reduziert, lautet also zusammengefasst:
Begegnung -> Beziehung -> Vertrauen -> Veränderung
Vertrauensbeziehung zwischen Coach und Klient
Je intensiver die Wirkung eines Coachings also sein soll, desto stärker muss die Vertrauensbeziehung zwischen Coach und Klient ausgeprägt sein. Dies ist nur möglich, wenn beide Parteien willens und in der Lage sind, sich auf eine Begegnung einzulassen. Insbesondere vom Coach muss man dabei eine entsprechende Beziehungsgestaltungskompetenz erwarten dürfen, die seriös und professionell gelebt wird. Letzteres ist schon deshalb zu betonen, weil Vertrauensbeziehungen sehr leicht Abhängigkeiten entstehen lassen können, was natürlich nicht das Ziel eines guten Coachings sein kann.
Selbstvertrauen
Ferner ist es nicht nur die vertrauensvolle Coaching-Beziehung, die bei der Bewältigung von Komplexität Unterstützung geben kann. Denn neben dem Vertrauen (auf einen anderen Menschen, dessen Kompetenz und den Verlauf des Coaching-Prozesses) kann auch das Selbstvertrauen als Komplexitätsreduzierender Faktor angesehen werden.
Kritisch wird Selbstvertrauen dann, wenn es sich nicht um ein "gesundes" Selbstvertrauen handelt, sondern um ein unrealistisches, selbstüberschätzendes Vertrauen in die eigene Person oder die eigenen Fähigkeiten. Eine derart unangemessene Selbstwahrnehmung führt nahezu zwangsläufig (nicht unbedingt zeitnah) zu Problemen. Gleichzeitig ist es unmittelbar verständlich, dass ein überzogenes Selbstbewusstsein (scheinbar!) Komplexität reduziert. Personen mit der Neigung zur Selbstüberschätzung halten nicht nur viel von sich selbst, sondern auch wenig(er) von anderen Menschen. Und aus dieser Grundkonstellation ist leicht erkennbar, wem sie die Schuld geben, wenn z.B. durch ihre Fehleinschätzung ein Schaden angerichtet wird: Schuld sind immer die anderen.
So offensichtlich problematisch dies für einen Außenstehenden sein mag, so schwer ist es für den Selbstüberschätzer diesen Prozess zu durchschauen. Zum einen bietet das überzogene Selbstvertrauen ja ein sich selbst verstärkendes Erklärungsmodell für Erfolge und Niederlagen. Zum anderen ist ein überzogenes Selbstvertrauen meist das Ergebnis eines überkompensierten Minderwertigkeitsgefühls. Und diese Überkompensation funktioniert natürlich dann besonders gut, wenn sie dem Betroffenen nicht bewusst ist. D.h. es handelt sich um einen subjektiv erfolgreichen und unbewussten Vorgang. Somit ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein solcher blinder Fleck von einem Betroffenen selbst durchschaut wird.
Auch und gerade hier kann ein Coaching Unterstützung geben, diese Prozesse und blinden Flecken zu durchschauen und eine unrealistische Selbsteinschätzung zu korrigieren. Kernelement ist auch hier die Vertrauensbeziehung zum Coach, die tragfest genug sein muss, um auch schmerzhaften Erkenntnisprozessen Raum zu geben. Ist dies der Fall, kann auch an verdrängten Problembereichen gearbeitet werden, die erfahrungsgemäß ein hohes Optimierungspotenzial beinhalten. Im Ergebnis kommt es dann zu einer funktionalen Komplexitätsreduktion und nicht nur zu einer subjektiv erfolgreichen Ignoranz.