Ethik

Der Dunning-Kruger-Effekt

Selbstüberschätzung 

6 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 02 | 2010

Sie kennen den Dunning-Kruger-Effekt nicht? Nun, seien Sie beruhigt: Sie kennen den Effekt sicherlich, nur nicht unter diesem Namen. Der Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet die Tendenz inkompetenter Menschen, sich selbst zu überschätzen und kompetentere Menschen zu unterschätzen.

Warum verschätzen sich inkompetente Menschen? Die denkbar einfachste Erklärung ist, dass sie so inkompetent sind, dass es ihnen schlichtweg nicht möglich ist, sich und andere Personen richtig einzuschätzen. Eine andere Erklärung aus der Rubrik "Verdächtigungspsychologie" könnte sein, dass inkompetente Menschen früher mit ihren Defiziten so kränkend konfrontiert wurden, dass sie sie verdrängten, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen (z.B. aus Versagensangst). Daraus resultieren dann unbewusste Minderwertigkeitsgefühle, die mit Selbstüberschätzung ausgeglichen werden.

Das Problematische an beiden Erklärungsansätzen ist, dass sich aus ihnen kaum taugliche Lösungswege ableiten lassen. Ist jemand so funktional inkompetent, dass ihm bestimmte Erkenntnisse verborgen bleiben, stellt dies eine kaum zu nehmende Hürde dar. Auch der zweite Erklärungsansatz mit verdrängten Minderwertigkeitsgefühlen ist nicht viel besser. Der klassische Ansatz, die verdrängten Defizite und Komplexe offenzulegen, bedeutet, diese Menschen mit ihren stärksten Ängsten zu konfrontieren. Die damit verbundene Hemmschwelle ist ebenfalls hoch – ganz abgesehen von der therapeutischen Nähe eines solchen Ansatzes.

Wenn man die Selbstüberschätzung jedoch nicht nur kategorisiert und die Betroffenen abwertet, ergeben sich durchaus Möglichkeiten, mit der Situation umgehen zu können und Lösungswege aus der Sackgasse zu finden. Dazu bedarf es zunächst der inneren Grundhaltung, den Selbstüberschätzer nicht pauschal zu verurteilen, sondern ihn samt seiner Denkmuster genauer zu analysieren. Wenn Selbstüberschätzer relevante Informationen ignorieren, ist offenkundig ein Wahrnehmungs- und Bewertungsfilter vorhanden. Erst wenn dessen Funktion individuell verstanden ist, kann daraus ein Lösungsweg abgeleitet werden.

Dazu ein Beispiel:

Selbstüberschätzer können häufig auf eine lange Geschichte von Niederlagen und Misserfolgen zurückblicken. Sie gehen mit diesen negativen Erlebnissen dabei meistens in einer recht spezifischen Weise um: Fragt man sie, warum ihnen ein bestimmter Erfolg verwehrt wurde, so suchen sie die Schuld dafür bei Anderen. Die Eltern waren gegen ein höhere Schulbildung; die Lehrer waren unfair; der Chef hat keine Ahnung; der Kunde hat etwas nicht verstanden; der Kollege war missgünstig usw. Solche Erklärungsansätze sind nahezu klassische Entwicklungsverhinderer, denn ihre Wirkung ist in zweierlei Weise verheerend:

1. Wer sein Problem so definiert, dass er bei der Lösung von Anderen abhängig ist, liefert sich aus. Dies ist eine typische Denkfalle und sie ist verhängnisvoll. Denn auf Andere hat man keine direkte Einflussmöglichkeit. Solche Problemdefinitionen können bewirken, dass man sich selbst bemitleidet, sich in sein (scheinbares) Schicksal fügt und die Hände in den Schoß legt und von der Welt missverstanden fühlt. Im Ergebnis ist man also hilflos (und man sorgt für eine Denkhemmung, die andere Lösungswege ausblendet) – da ist es kein Wunder, wenn man ein Bedürfnis nach Selbstüberschätzung entwickelt.

2. Hirnphysiologisch gibt es Indizien dafür, dass unser Denkapparat mit der Erklärung "Da konnte ich nichts machen, ein Anderer war schuld" durchaus zufrieden sein kann. Mit dieser "Erklärung" ist der Problemlöseprozess dann abgeschlossen (!). Für das Gehirn ist eine solche Problemlösung eine Belohnung und damit wird diese Art der "Problemlösung" im Gehirn "eingebrannt" (siehe das Video von Prof. Dr. Gerald Hüther zum Thema "Flow und Teufelskreislauf" ab der zweiten Minute). Dies kann soweit gehen, dass das Gehirn reflexartig diese Form der Problemlösung bevorzugt, ohne sich darüber bewusst zu sein oder diese Denkstrategie in Zweifel zu ziehen.

Nun sei klar darauf hingewiesen, dass es natürlich auch Situationen gibt, in denen anderen Menschen einem übel mitspielen und man tatsächlich als Opfer gesehen werden kann. Wer sich jedoch bei allen Erlebnissen des Scheiterns in einer Opferrolle sieht, leidet hochwahrscheinlich unter dem o.g. verhängnisvollen Denkmuster.

Und um auch dies deutlich zu machen: Natürlich kann nicht jeder Mensch alles erreichen, dies ist dummes Gerede von Motiviationsgurus – und ebenso verheerend in seiner Auswirkung wie die Opferrolle. Jedoch haben viele Menschen weitaus mehr Alternativen und Wahlmöglichkeiten, als ihnen selbst bewusst ist. Ein gutes Coaching kann dabei helfen, die Falle der denkhemmenden Problembeschreibung zu erkennen und durch einen systematischen Perspektivenwechsel neue Wahlmöglichkeiten und Lösungswege zu entdecken.

Konkret bedeutet dies, die Opfermentalität anzusprechen, nicht jedoch mit der Absicht, ein (subjektiv ja sehr bewährtes) Erklärungsmuster schlecht zu reden, sondern durch alternative Erklärungen zu ergänzen. Es wird also nichts weggenommen, sondern es kommt etwas hinzu. Auf diese Weise kann schrittweise eine größere Flexibilität aufgebaut werden, so dass vom Klienten neue Lösungswege gefunden werden.

Nun sollte man natürlich auch darauf hinweisen, dass die Arbeit mit inkompetenten Selbstüberschätzern durchaus einen Fallstrick aufweist: Inkompetenz kann von einem Coach als limitierender Faktor in der Arbeit mit seinem Klienten erlebt werden. Hier ist paradoxerweise die Gefahr recht groß, dass der Coach in eine ähnliche Denkfalle tappt wie der Klient: Wenn dass Coaching nicht gut funktioniert, liegt es an der Inkompetenz des Klienten.

Dazu sei folgendes angemerkt: Niemand ist nur oder vollumfänglich inkompetent. Selbst stark eingeschränkte Menschen verfügen über Ressourcen und Fähigkeiten (und sei es z.B. die Fähigkeit, Dinge ausblenden zu können). Aus der Inkompetenz in einem oder auch mehreren Bereichen eine "Generalinkompetenz" abzuleiten, wird keinem Menschen gerecht. Auch wenn ein Mensch über keine herausragenden Fähigkeiten verfügen mag, so kann gerade seine Fähigkeit, in vielen Bereichen durchschnittlich zu sein, wiederum eine Generalistenkompetenz darstellen. Gerade indem ein Coach sich diese Zusammenhänge vergegenwärtigt, lebt er im Idealfall genau das dem Klienten vor, was diesem womöglich noch fehlt: Das Vertrauen in vorhandene, aber oft übersehene Ressourcen und nicht die Selbstüberschätzung von mangelhaft ausgeprägten Fähigkeiten.

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