Ein wesentliches Merkmal von Innovation ist, dass es sich um etwas Neues handelt. Und Neues ist immer mit Ungewissheit verbunden. Für manche Menschen ist das schwer auszuhalten. Innere und äußere Konflikte sowie dauerhafter Stress können die Folge sein. Als Coach ist es wichtig, diesen Zusammenhang zu erkennen, um professionell damit umgehen zu können.
Zu Beginn eines Innovationsprojektes ist in der Regel die Gewissheit, mit der man über das Projektergebnis sprechen kann, relativ klein. Man kann zu Beginn eben nicht genau wissen, wann welches Produkt mit welchen Eigenschaften zu welchen Kosten fertig sein wird und wie es genau designt sein muss, um die Kundenbedürfnisse bestmöglich zu befriedigen. Viel zu viel unbekannte Größen machen die genaue Vorhersage unmöglich. Dabei ist "Ungewissheit" von "Unsicherheit" zu unterscheiden.
Unsicherheit kann durch Analyse in ein kalkulierbares Risiko gewandelt werden. Das gilt beispielsweise für die Verlässlichkeit von erprobten technischen Prozessen und Anlagen. Solche Systeme können zwar sehr kompliziert sein, aber sie verhalten sich im Prinzip nach einer analysierbaren Systematik. Ungewissheit dagegen lässt sich auch durch hervorragende Analysen nicht auflösen. Beispielsweise bleibt das Wetter in 30 Tagen oder der Zeitpunkt des ersten Tors in einem Fußballspiel stets ungewiss. Das liegt an der Komplexität der Systeme. Es sind zu viele Einflussfaktoren im Spiel, die jederzeit dazu führen können, dass sich das System in eine vollkommen andere Richtung entwickelt als erwartet. So stellt sich auch die Situation in Innovationsprojekten dar.
In der Rückschau werden die Entwicklungsprozesse von innovativen neuen Produkten zwar oft als eine Kette von wohlüberlegten und schlauen Entscheidungen dargestellt, bei denen vielleicht an der einen oder anderen Stelle ein glücklicher Zufall noch geholfen hat. Wenn man im Prozess mitten drin steckt, spürt man jedoch täglich, dass der Projekterfolg ungewiss ist. Gute Innovationsprozesse sind dementsprechend ausgelegt und richten den Fokus darauf, die Gewissheit nach und nach zu erhöhen.
Dabei sind Missverständnisse vorprogrammiert. Für den Erfolg großer Innovationen trifft oft das zu, was laut Nassim Taleb für die Ereignisse gilt, die er "schwarze Schwäne" nennt: Solange sie nicht existieren, werden sie von der Allgemeinheit als unwahrscheinlich erachtet. Wenn sie dann da sind, erscheint im Rückblick ihre Existenz als naheliegend gewesen zu sein.
Diese nachträgliche Interpretation stärkt den Glauben daran, dass Innovation planbar und vorhersehbar sein kann. Folglich erwarten Manager Verbindlichkeit auch im Innovationsprozess. Sie selbst müssen verbindlich nach oben Bericht erstatten und erwarten selbst verbindliche Aussagen von Ihren Entwicklungsmitarbeitern.
Das führt zu einem großen Dilemma bei allen am Innovationsprozess Beteiligten und vor allem bei denen, die für den Innovationserfolg verantwortlich gemacht werden. Sie sind jeden Tag mit Risiken, Ungewissheiten und gleichzeitig mit Zeit- und Erfolgsdruck konfrontiert. Dies verhindert nicht nur kreative Innovationsprozesse, sondern wirkt stressverstärkend.
Dabei kann Stress aus zwei ganz unterschiedlichen Gründen entstehen. Einerseits kommt es vor, dass in oberen Hierarchieebenen die Entscheidung für eine Produktentwicklung getroffen wurde und der Entwicklungsabteilung dafür ein Versprechen bezüglich Zeit und Kosten abgerungen wurde. Ein Versprechen, das in vielen Fällen eigentlich gar nicht gegeben werden kann. Andererseits können Mitarbeiter ein sicheres Gefühl haben, eine interessante Technologie oder einen interessanten Markt entdeckt zu haben. Doch um dies zu beweisen, müsste die Idee realisiert werden.
Wegen der unweigerlichen Ungewissheit findet die Idee bei den Entscheidern keine Unterstützung. Nicht selten existieren beide Situationen gleichzeitig. Schließlich gibt es die offiziellen Projekte, die von der Führung bestellt wurden und bei denen ständig um die Einhaltung der Vorgaben gekämpft wird oder Entschuldigungen erarbeitet werden müssen, wenn es nicht nach Plan verläuft. Und dann gibt es die "U-Boot-Projekte", die im Verborgenen laufen, bis die Ungewissheit auf ein Maß gesunken ist, dass es bei den Entscheidern Unterstützung finden kann und auftauchen darf.
Nun kann dies natürlich Teil einer von der Unternehmensleitung gewollten Innovationskultur sein, aber es ist auf Dauer für die Mitarbeiter nicht gesund. Nicht jeder steckt das gut weg. In einer gewissen Weise ist die Sache mit der Ungewissheit wie beim Regattasegeln. Beispielsweise können die Segler des Volvo Ocean Race nie versprechen, wann sie ihr nächstes Etappenziel erreichen werden. Jeder tut sein Bestes und jede Menge Analysewerkzeuge stehen zur Verfügung, doch die Gewissheit haben sie erst, wenn sie es erreicht haben. Solange sie unterwegs sind, nimmt zwar die Ungewissheit im Allgemeinen immer mehr ab, doch unerwartete Ereignisse können jederzeit die Ungewissheit wieder vergrößern.
Kein Mensch ist in der Lage, zu Beginn einer solchen Etappe eine seriöse Vorhersage zu treffen. Wind und Wetter an dem Ort, an dem sich die Boote jeweils befinden, ist einfach nicht vorhersagbar und schon gar nicht beeinflussbar. Es sind ständig taktische Entscheidungen zu treffen, die auf Vermutungen über die weitere Wetterentwicklung basieren und sich somit als mehr oder weniger günstig herausstellen können. Ein Defekt am Boot oder Müll, der sich am Kiel verfängt, kann die Situation schlagartig verändern. Wie auch immer sich das Ende darstellen wird, es ist ein Ergebnis, das durch zahllose Einflüsse entstanden ist. Ein Einzelner kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden.
Wem trotz Ungewissheit Versprechen und Vorhersagen abgerungen werden und zudem verantwortlich gemacht wird, dass alles wie geplant eintritt, steckt in einem Dilemma und ist irgendwann auch ein potentieller Klient für ein Coaching.
Die Aufgabe des Coachs besteht dann insbesondere darin, die Leistung des Klienten im Umgang mit der Ungewissheit wertzuschätzen. Dem Klienten ist seine Situation selbst nicht unbedingt bewusst. Dann wird der Klient darin unterstützt, die richtige Einstellung zu dieser Situation auszubilden. Es ist nämlich keine Schwäche des Klienten, wenn es ihm nicht gelingt, das Unvorhersagbare richtig vorherzusagen. Einen Plan einzuhalten ist kein geeignetes Kriterium, um die Leistung eines Mitarbeiters in einem Innovationsvorhaben zu beurteilen. Der Coach arbeitet deshalb mit dem Klienten an der Art und Weise, wie er selbst seine Leistung beurteilt. Die Leistung beim Innovieren steckt im qualifizierten Lernen. Anstatt sich die Frage zu stellen, "Bin ich noch im Plan?", sollte sich der Klient die Frage stellen: "Habe ich etwas dazugelernt, durch das die Ungewissheit im Projekt etwas kleiner wurde?"
Natürlich kann dies im Widerspruch zum gelebten Unternehmensalltag sein. Vor allem dann, wenn es zur Unternehmenskultur gehört, Pläne zu erstellen und daran festzuhalten, und zwar unabhängig vom Grad der Ungewissheit, die dem Projekt innewohnt. Der Coach sollte dann seinen Klienten dabei unterstützen, einen Teil dazu beizutragen, diese Unternehmenskultur langsam zu verändern. Zum Beispiel indem er damit beginnt, offen über seine Einschätzung zu sprechen, wie hoch die Ungewissheit im Projekt zum jeweiligen Zeitpunkt ist. In jeder Projektbesprechung darf das thematisiert werden, und idealerweise gibt es dazu eine Messgröße, die immer wieder subjektiv erhoben und über den Projektverlauf hinweg verfolgt wird.
Ein gutes Werkzeug, um im Team zu subjektiven Einschätzungen zu gelangen, ist das sogenannte "Planning Poker", wie es beim Scrum üblich ist. Gemeinsam mit dem Klienten gilt es herauszufinden, wie die Größe der Ungewissheit im jeweiligen Projekt thematisiert werden kann. Je größer die Ungewissheit, desto kürzer sollte der Planungshorizont sein und desto wichtiger ist es, über mögliche Alternativen nachzudenken. Das bedeutet, dass die Entscheidungen bezüglich des weiteren Projektverlaufes häufiger werden. Genau in diesem Punkte ist die Unterstützung durch einen Coach besonders hilfreich. Um entscheiden zu können, ist nämlich Zuversicht notwendig, und je größer die Ungewissheit, desto schwerer ist es, zuversichtlich zu sein.
Dann wird an drei Fragen gearbeitet: Für welchen nächsten Schritt bin ich in der Lage, die Zuversicht aufzubringen, um diesen Schritt tatsächlich zu gehen? Inwiefern kann dieser nächste Schritt dazu beitragen, die Ungewissheit etwas zu reduzieren? Was könnte die Alternative sein, wenn der nächste Schritt nicht zum erhofften Ergebnis führt? Dabei ist es wichtig, sich klar zu machen, dass es immer irgendeinen nächsten Schritt gibt, und sei er auch klein. Und egal, ob dieser Schritt das gewünschte Ergebnis liefert oder ein anderes, der Erfolg lieg in dem, was daraus gelernt wird.
Natürlich ist das eine Haltung, die manchmal schwer fällt. Es kommt vor, dass der Erfolg eines Innovationsprojektes eine existenzielle Bedeutung für einzelne Verantwortliche oder das ganze Unternehmen hat. Dass diese Situation wahrscheinlich auf Grund von Fehlern in der Vergangenheit entstand, ist gut zu wissen, löst aber das Problem nicht und wird gerne ignoriert. Gerade dann versuchen Manager den Druck, den sie verspüren, an die Mitarbeiter in der Hoffnung weiterzugeben, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit dadurch steigt.
Dahinter steckt aber ein grundsätzliches Missverständnis bezüglich Innovationen: Die wachsen nämlich auch nicht schneller, wenn man daran zieht – jedoch, wenn man "düngt". Druck eignet sich meist nicht als Dünger. Ein lebendiges Wechselspiel zwischen Konzentration auf das gemeinsame Vorhaben sowie Freiräume sind erforderlich. Dementsprechend ist es hilfreich, wenn der Coach mit seinem Klienten an den Fragen arbeitet, was er braucht, um Energie für das Vorhaben aufzubringen und wie er zu dem Freiraum kommt, den er in diesem Vorhaben braucht.
Wer ein innovatives Vorhaben verfolgt oder einfach etwas tun möchte, was er noch nie gemacht hat, der sollte sich also stets der Ungewissheit bewusst sein, mit der er dadurch konfrontiert ist – und diese annehmen, anstatt sie zu verdrängen. Wer sich dabei in einer Unternehmenskultur befindet, in der es üblich ist, Ungewissheit zu verdrängen, sollte dennoch beginnen, für sich selbst bewusst mit der Ungewissheit umzugehen und sich dafür ggf. professionelle Hilfe durch einen Coach suchen. Wenn der Coach mit dem Klienten daran arbeitet, trotz der Ungewissheit zuversichtlich zu sein, sollte es gelingen, den jeweils leichten nächsten Schritt zu finden.