Konzepte

Achtsamkeitsübungen im Coaching

Achtsamkeit im und für Coaching nutzen

Das Konzept der Achtsamkeit kann zu einem stressfreieren, bewussteren und gesünderen Leben und Arbeitsalltag führen. Coaches können ihre Klienten daher dazu anhalten, parallel zum Coaching Achtsamkeitsübungen zu praktizieren, und die Beobachtungen, die die Klienten hierbei anstellen, in die Reflexion einbeziehen. Darüber hinaus können Coaches durch eigene Achtsamkeitspraxis ihre Vorurteilsfreiheit und die bewusste Wahrnehmung des Klienten stärken.

10 Min.

Coaching-Magazin Online, 17.04.2023

Einatmen, ausatmen. Dabei bewusst seine Gedanken wahrnehmen, den Körper spüren. Einfach nur sein, ohne etwas leisten zu müssen. Das war bis vor Kurzem für Herbert S. (Name geändert), einem Geschäftsführer eines Unternehmens mit 300 Mitarbeitern, noch undenkbar. Fünf Minuten stillzusitzen und einfach nur zu atmen? Dafür hatte er keine Zeit. Und was sollte das auch überhaupt bringen? Was er stattdessen hatte, waren Schlafprobleme. Er konnte weder gut und schnell einschlafen noch sechs bis acht Stunden durchschlafen. Das hatte weitreichende Folgen: Da sich der Mittfünfziger über Nacht nicht genügend erholen konnte, empfand er seinen stressigen Alltag als noch anstrengender und mühsamer. Entscheidungen für die Firma konnte er nur schwer treffen und die Häufigkeit seiner Fehler nahm zu. An dem Punkt wurde ihm klar: Etwas läuft schief und er kann so nicht mehr weitermachen.

Auf einen Blick

  •  Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis ist dazu geeignet, Stresserleben zu reduzieren und somit einen gesünderen Arbeits- und Lebensalltag zu fördern.
  • Als Einstieg können einfach durchführbare Atemtechniken wie das sogenannte Box-Breathing dienen.
  • Coaches können von eigener Achtsamkeitspraxis profitieren, in dem sie z.B. ein im Coaching wertvolles Bewusstsein für das Hier und Jetzt sowie Offenheit und Vorurteilsfreiheit stärken.

Im Viereck atmen

Herbert S. vereinbarte ein Coaching. In der Erwartung, eine handfeste, rasche Lösung von seinem Coach zu bekommen, kam er zur ersten Sitzung. Zum ersten Mal hörte er dort etwas von Achtsamkeit und der Kraft von Atemübungen. Skeptisch, ja fast schon entrüstet, reagierte S. mit folgenden Worten: „Ich brauche keine Atemübungen. Ich will besser schlafen!“ Da sein Leidensdruck allerdings groß war, versuchte er es doch mit der Anleitung, die ihm der Coach gab. Jene lautete, fünf Minuten direkt nach dem Aufstehen und fünf Minuten vor dem Schlafengehen bewusst zu atmen. In diesem Fall das sogenannte Box-Breathing (siehe Kasten).

Anstatt wie üblich gleich aufzuspringen, wenn der Wecker läutet und in der morgendlichen Hektik an hundert Dinge gleichzeitig zu denken, konnte sich S. durch die Atemübungen zunächst sammeln. Statt den Tag mit Stress zu beginnen, begann der Tag mit Ruhe. S. war bei sich und seinem Körper. Er war im Moment.

Box-Breathing

Bei dieser Atemtechnik legt man den Fokus auf das Zählen. Dazu setzt man sich bequem auf einen Stuhl oder ein Sitzkissen. Danach atmet man dreimal bewusst ein und aus. Als Nächstes zählt man beim Einatmen bis vier und hält den Atem an, während man bis vier zählt. Anschließend atmet man aus und zählt dabei wieder bis vier. Danach hält man wieder für vier Sekunden inne. Die Übung wird mindestens fünfmal wiederholt.

Diese Atemübungen kann jederzeit ganz ohne Ausrüstung durchgeführt werden. Durch die bewusste, ruhige Atmung mit einer verlängerten Ausatmung entspannt sich das Nervensystem, weil der Parasympathikus aktiviert wird (Komori, 2018).

Die Lehre von der Achtsamkeit

Bewusst im Moment zu sein, ist der Hauptkern der Achtsamkeitslehre. „Im Grunde ist Achtsamkeit ein ziemlich einfaches Konzept. Seine Kraft liegt in der praktischen Umsetzung und Anwendung. Achtsamkeit beinhaltet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick, ohne zu urteilen. Diese Art der Aufmerksamkeit steigert das Gewahrsein und fördert die Klarheit sowie die Fähigkeit, die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren“, schreibt  Jon Kabat-Zinn (2019, S. 20), dem es gelang, die Achtsamkeitspraxis systematisch in die medizinische Betreuung zu integrieren.

Das Interesse an der Lehre der Achtsamkeit ist, so die Beobachtung des Autors, vor allem in den letzten Jahren rasant gestiegen. Mitte der 90er-Jahre noch als sehr exotisch oder gar esoterisch abgestempelt, ist sie nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Heutzutage werden Konzepte der Achtsamkeit erfolgreich in Unternehmen, Schulen oder prozessbegleitend im Coaching eingesetzt.

Das Wort Achtsamkeit hat im Kontext buddhistischer Lehrreden seinen Ursprung in dem Verb „sarati“, was übersetzt heißt: sich erinnern. Wobei Achtsamkeit nicht als Erinnerung per se gemeint ist, sondern als Gewahrsein des Augenblicks. Um diesen zu erreichen, muss der geistige Zustand hellwach sein und fern von jeglichem Automatismus. Man spricht in dem Zusammenhang von einem weiten Bewusstsein. Achtsamkeit wird in den alten Lehrreden auch als „reines Beobachten“ definiert. Dies wird so verstanden, dass der Beobachtende das jeweilige Objekt lediglich wahrnimmt, anstatt damit zu interagieren – wie dies durch Beurteilungen, Bewertungen, Stellungnahmen oder konkrete Handlungen passiert. (Schmidt, 2015)

Ist Achtsamkeit zu „unmännlich“?

Mit der reinen Theorie können die meisten Menschen allerdings nur wenig anfangen. Gerade bei Männern wird das Thema erfahrungsgemäß noch oftmals als zu esoterisch abgestempelt. Im Coaching begegnet man dadurch immer wieder Klienten, bei denen die Achtsamkeit nicht zum Selbst- oder Idealbild eines erfolgreichen Mannes passt. So auch S., der beim zweiten Coaching-Termin zwar gemerkt hat, dass er durch die simplen zehn Minuten am Tag bewusstes Atmen bereits ruhiger geworden ist und wieder besser schlafen kann, aber dennoch nicht glauben wollte, dass das mit seinen Atemübungen im Zusammenhang stand. Er glaubte an einen „reinen Zufall“.

Der Geschäftsführer änderte seine Meinung, als er bei der dritten Sitzung vom Urlaub zurückkam. Denn im Urlaub hatte er seine zwei Mal fünf Minuten bewusstes Atmen nicht praktiziert. Im Urlaub sei man ja sowieso entspannt und weit weg von der Hektik und dem Alltag, so sein Irrglaube. Allerdings bemerkte S., dass er trotz des Urlaubs ständig nervös war. Schlafen konnte er auch wieder nur schlecht. Aufgrund dieser Erfahrung realisierte er,  welchen positiven Einfluss die Übung tatsächlich hatte.

Die Vorteile der Achtsamkeitspraxis

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Anzahl der Publikationen im Bereich der Achtsamkeitsforschung laut Hölzel und Brähler (2015, S. 9) „exponentiell“ angestiegen. Die Forschungsergebnisse zahlreicher Studien zeigen, dass Achtsamkeit – und Meditationstraining zu einer Reihe an positiven Effekten führt. Im klinischen Kontext werden Achtsamkeitsbasierte Interventionen in der Behandlung von Angststörungen, chronischen Schmerzerkrankungen, Depressionen oder bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung erfolgreich eingesetzt. Aber nicht nur bei erkrankten Menschen hilft die Achtsamkeitspraxis. (vgl. ebd.)

Die Achtsamkeit ist laut Kabat-Zinn (2013) ein Akt der mentalen Genesung. Zudem ist sie ein Akt des Mitgefühls für sich und andere – und letztlich der Liebe. Dazu zählt die Offenheit, im gegenwärtigen Moment zu leben, sich dabei selbst zu begegnen, ab und an innezuhalten und einfach zu sein, anstatt einer bestimmten Vorstellung nachzuhängen. Es geht darum, Gedanken nicht als absolut zu betrachten. Außerdem fördert eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis nachweislich das psychische Wohlbefinden, reduziert Stress, verbessert die Emotionsregulation und stärkt die Aufmerksamkeit sowie Konzentration (Hölzel & Brähler, 2015).

In Bezug auf den hektischen Arbeitsalltag lassen sich die Vorteile der Achtsamkeit wie folgt zusammenfassen: Durch die Tatsache, dass man immer wieder seine Aufmerksamkeit ins Jetzt holt, sieht man klarer, ist konzentrierter und weniger getrieben. Indem man bewusst atmet, seine Gedanken und fünf Sinne wahrnimmt (Was sehe ich? Was rieche ich? Was höre ich? Was schmecke ich? Was spüre ich?), kommt man in den Moment. Das Nervensystem kann sich so beruhigen und auch der Kopf kann ruhiger und klarer werden. Man kann dadurch im besten Fall aus möglichen Gedankenspiralen aussteigen.

Wer kennt das nicht? Die Präsentation soll in weniger als einer Stunde fertig sein. Die ersten Gedanken in Richtung „Das schaffe ich nicht“ tauchen auf. Gefolgt von „Wenn ich das nicht schaffe, bin ich gefeuert und einen neuen Job werde ich auch nicht so leicht finden.“ Druck und Stress entsteht. Stress, weil wir mit den Gedanken dem Körper signalisieren, dass wir eigentlich schon in der Zukunft sein wollen – und zwar dann, wenn die Präsentation schon fertig geschrieben ist. Durch den Stress kann man sich aber wiederum schwerer konzentrieren. Der Körper ist im Überlebensmodus und man macht mehr Fehler, die Zeit kosten, und das führt zu noch mehr Stress. Durch die Achtsamkeit nimmt man seine Gedanken aus einer mitfühlenden Haltung wahr und kann bewusst aus dem Gedankenkarussell aussteigen.

Weitere Qualitäten, die man sich durch das Achtsamkeitstraining erfahrungsgemäß aneignen kann, sind: Geduld, Gelassenheit und mentale Stärke. Man kann in die Lage kommen, eigene Verhaltensmuster zu erkennen und sie dann bewusst zu ändern oder gegenzusteuern. Wir erkennen mehr, wer wir tatsächlich sind, was wir wollen, und treffen dadurch die richtigen Entscheidungen. Letztlich soll Achtsamkeit zu mehr Kontrolle über das eigene Leben verhelfen.

Der achtsame Coach

Wenn ein Coach Achtsamkeit praktiziert, kann dies seiner Arbeit und somit seinen Klienten zugutekommen. So kann die Achtsamkeitspraxis dazu beitragen, gelassener und klarer zu agieren, mehr Ruhe auszustrahlen und seinen Klienten aufmerksamer zuzuhören. Achtsamkeit kann den Coach durch Stärkung seines wachen Bewusstseins befähigen, einen Klienten besser wahrzunehmen und zu erkennen, wo der Klient steht und was er benötigt, um die nächsten Schritte zu gehen. Außerdem entspricht es dem Wesen der Achtsamkeitspraxis, im Coaching wichtige Qualitäten wie Offenheit und Vorurteilsfreiheit zu stärken.

So wie Herbert S. haben Klienten oft Vorbehalte gegenüber Achtsamkeitsübungen. Im Coaching hat es sich bewährt, Klienten mit Atemtechniken an die Achtsamkeit heranzuführen. Erstens sind sie einfach zu erklären und zweitens bemerken Klienten in der Regel schnell die Vorteile der Übung. Bei Einwänden wie „Ich habe keine Zeit in meinem hektischen Alltag“, sollten Coaches ihre Klienten dazu ermutigen, Prioritäten zu setzen. Hinter diversen Ausreden verbirgt sich auch oft der Widerstand, sich nicht hinzusetzen und einfach ruhig sein zu können. Dies kann für viele Manager und Führungskräfte sehr unangenehm sein, weil sie es normalerweise gewohnt sind, permanent durch Arbeit (geistig) in Bewegung zu sein. 

Atemübungen lassen sich auch gemeinsam mit dem Klienten durchführen, um gleich zu reflektieren, wie sich der Klient vor und nach der Übung fühlt. Hier erfolgen meistens bereits die ersten Erkenntnisse. Viele plagt dann aber die Angst, dass sie zu entspannt werden und an „Biss“ in der Geschäftswelt verlieren. Mit Achtsamkeit soll aber lediglich das Bewusstsein gestärkt werden. Welche Entscheidungen man trifft oder wie man agieren möchte, steuert die Person weiterhin selbst.

Vertiefende Achtsamkeitsübungen

Nimmt ein Klient die Atemübungen an, können auf Wunsch nach und nach weitere Achtsamkeitsübungen in den Alltag integriert werden:  Bewusstes Mittagessen, kleine Atempausen, achtsamer Spaziergang nach Hause. Der Klient schafft sich so immer mehr Momente, in denen er im Jetzt ist und trainiert damit seine Beobachterrolle, die im Erfolgsfall zu den bereits erwähnten Vorteilen führt. Wie spreche ich mit mir selbst? Ist das wertschätzend oder erniedrigend? Fühle ich mich gestresst? Wenn ja, was habe ich vorher gedacht? Diesen Gedanken kann dann im Coaching auf den Grund gegangen werden, um noch mehr Bewusstsein zu schaffen. Der Klient lernt außerdem, konzentriert an einer Sache zu arbeiten, statt viele Dinge gleichzeitig zu machen. Während eines Coachings kann der Coach den Klienten immer wieder aufmerksam machen, wenn er gedanklich abdriftet, und fragen: Was denken Sie jetzt? So wird das Bewusstsein des Klienten für das Hier und Jetzt gefördert.

Herbert S. macht mittlerweile mehrmals am Tag Atem- und Achtsamkeitsübungen. Er plant jetzt mehr Zeit ein, wenn er einen Kundentermin hat. Fünf Minuten davor meditiert er im Auto. Dadurch ist er im Kundengespräch präsenter und klarer, wie er berichtet. Insgesamt ist S. gelassener geworden. Er regt sich nicht mehr über Kleinigkeiten auf, kann sich besser konzentrieren und arbeitet effizienter. Vor allem kann er wieder gut schlafen und startet ausgeruht und fit in den Tag.

Literatur

  • Brähler, C. & Hölzel, B. (2015). Achtsamkeit mitten im Leben. In B. Hölzel & C. Brähler (Hrsg.), Achtsamkeit mitten im Leben. Anwendungsgebiete und wissenschaftliche Perspektiven (S. 7– 19), München: O.W. Barth. 
  • Kabat-Zinn, J. (2019). Im Alltag Ruhe finden. München: Knaur.
  • Kabat-Zinn, J. (2013). Gesund durch Meditation. München: O.W. Barth.
  • Komori, T. (2018). The relaxation effect of prolonged expiratory breathing. Mental Illness Journal. Abgerufen am 13.04.2023: www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6037091/ 
  • Schmidt, S. (2015). Der Weg der Achtsamkeit. In B. Hölzel & C. Brähler (Hrsg.), Achtsamkeit mitten im Leben. Anwendungsgebiete und wissenschaftliche Perspektiven (S. 21-42). München: O.W. Barth.

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