Warum ist Achtsamkeit (englisch: Mindfulness) im Business-Kontext relevant? Und wie kann Achtsamkeit sinnvoll in die Kultur von Unternehmen integriert werden? U.a. diesen Fragen widmet sich der folgende Beitrag, der Einblick in zwei Coaching-Fälle gibt und weitere Erfahrungen aus der Praxis aufgreift.
Die Arbeitswelt hat durch die Technologisierung, Globalisierung und Digitalisierung tiefgreifende Veränderungen erfahren, die sowohl Beschäftigte als auch Unternehmen vor enorme Herausforderungen stellen. Um mit dem rasanten Wandel Schritt zu halten, müssen sich sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber ständig weiterentwickeln und auf veränderte Anforderungen reagieren. Auch wenn dies mit Chancen verbunden ist, führt es zugleich zu einer Mehrbelastung und Überforderung vieler Mitarbeiter. Dies zeigt z.B. der DAK Psychreport 2023 (DAK, 2023).
Demnach haben die durch psychische Erkrankungen verursachten Fehlzeiten im Job 2022 gegenüber dem Niveau von vor zehn Jahren um 48 Prozent zugenommen. Die Auswirkungen sind nicht nur auf das Individuum beschränkt, sondern haben auch Konsequenzen für unsere Volkswirtschaft. In dieser Situation stehen Unternehmen in der Verantwortung, ein Umfeld zu schaffen, das einen angemessenen Umgang mit Stress und anderen Belastungen ermöglicht. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Thema Achtsamkeit, um einen gesunden Umgang mit sich selbst und seinem Umfeld zu erlernen bzw. zu verstärken und krankheitsbedingte Ausfälle zu reduzieren.
Unter Achtsamkeit versteht man gemeinhin das bewusste Wahrnehmen und Erleben des aktuellen Moments. Jon Kabat-Zinn, der die Achtsamkeitsbewegung maßgeblich geprägt hat, definiert Mindfulness als „the awareness that emerges through paying attention on purpose, in the present moment, and nonjudgmentally to the unfolding of experience moment by moment”. (Kabat-Zinn, 2003, S. 145) Achtsamkeit heißt, sich darüber bewusst zu sein, was gerade im Hier und Jetzt passiert – mit einem selbst und der Umgebung –, und dies wert- sowie vorurteilsfrei zu betrachten. Wie kann dies auch im Business-Kontext gelingen?
In diesem Praxisfall geht es darum, ein männerdominiertes Umfeld im Team-Coaching für Achtsamkeit zu sensibilisieren und eine gesunde Performance zu etablieren. Die Teilnehmenden sind Projekt- und Teamleitende in der Sandwich-Position zwischen Management- und Teamebene. Insgesamt nehmen über 70 Personen teil, die in sechs Gruppen standortübergreifend gematcht wurden. Der Ablauf des Coachings folgt dem modularen Ansatz von „Mindfulness@business“ und ist dreistufig aufgebaut:
Da das Thema Achtsamkeit anfangs nicht für alle Teilnehmenden gleichermaßen greifbar ist, ist es wichtig, zunächst einen vertrauensvollen Rahmen zu schaffen und für das Thema zu sensibilisieren. In der Kennenlernphase des Coachings wird daher das Drei-Welten-Modell von Bernd Schmid eingesetzt, das mit der Privat-, der Organisations- und der Professionswelt drei Lebenswelten aufgreift (Schmid, 2003). Der Vorteil der Anwendung dieses Modells liegt darin, dass hierbei auch die private Perspektive zum Tragen kommt, die ansonsten im Business-Kontext häufig in der ersten Vorstellungsrunde außen vor bleibt. Dies wiederum resultiert nicht selten aus dem weit verbreiteten Glaubenssatz: „Wir sind ja schließlich im Business, da hat meine Privatwelt nichts zu suchen.“
Zunächst stellt sich der Coach selbst persönlich vor und beschreibt seine Persönlichkeit im Kontext der drei Lebenswelten. So wird das Zusammenspiel der verschiedenen Lebenswelten greifbar und das erste Eis ist gebrochen. Im nächsten Schritt wird das Drei-Welten-Modell direkt in Kleingruppen ausprobiert. Alle Teammitglieder stellen sich den Kolleginnen und Kollegen auf diese Weise vor. Das erste Feedback ist durchweg positiv, da die Vorstellung auf ganz anderer Ebene abläuft und man neue Seiten bei den anderen kennenlernt.
Der Coach steht vor der Herausforderung, Offenheit und Vertrauen zu schaffen, sodass sich alle auf diesen neuartigen Teamprozess einlassen. Für die Achtsamkeitsübungen ist die offene Haltung der Teilnehmenden ausschlaggebend. Es ist wichtig, nicht vorab zu werten, das Team-Coaching wohlwollend zu sehen, sich auf die Selbst- und Teamreflexion einzulassen und offen in den Austausch zu gehen. Das Credo lautet: Beginne bei dir selbst, denn Offenheit erzeugt Offenheit. Indem man persönliche Erfahrungen teilt, öffnet sich ein Raum für Dialog – mit Tiefgang für mehr Weitblick.
Was brauchen wir, um in Flow zu kommen und uns wohlzufühlen? Der Psychologe Klaus Grawe (2004) spricht von psychologischen Grundbedürfnissen: Sicherheit und Orientierung, Bindung, Selbstwert und Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung. Relevante Fragen in diesem Zusammenhang lauten: Wer oder was ist mein Anker? Wo sind meine Energiequellen? Wo sind Energiefresser? Was gilt es loszulassen und zu entrümpeln, damit Platz für Neues entsteht? Wie schaffe ich es, meine Gedanken zu fokussieren und innezuhalten, wenn diese wie wild gewordene Affen umherspringen – auch „monkey mind“ genannt? (Narbeshuber & Narbeshuber, 2019) Mit diesen einleitenden Reflexionsfragen und Zeit für Selbstreflexion wird zum Mini-World-Café der Achtsamkeit übergeleitet. Das Tool lädt dazu ein, sich in wechselnden Gruppen am Stehtisch zu Themen wie „Entrümpeln“, „Loslassen“ und „Ankern“ auszutauschen. Anhand von verschiedenen Fragestellungen auf der World-Café-Tischdecke sind die Teilnehmenden aufgefordert, ihre Gedanken in der Kleingruppe zu teilen und festzuhalten – ohne Einzelmeinungen zu bewerten, stattdessen mit Interesse, sich anderen Perspektiven gegenüber zu öffnen. Es geht um achtsames Zuhören und Hinhören. Mögliche Fragestellungen zum Thema Entrümpeln (siehe auch Abb.) können beispielsweise lauten (vgl. Eggers, 2022):
Die Perspektiven lassen sich sowohl auf den persönlichen als auch auf den organisationalen Kontext anwenden.
In verschiedenen Reflexionen werden über den Tag verteilt Regeln für eine achtsame Meetingkultur erarbeitet, die ein konzentriertes, fokussiertes und wertschätzendes Miteinander ermöglichen:
Zum Abschluss des Team-Coachings wird von den Teilnehmenden reflektiert: Was verankere ich von den Impulsen, die ich heute gehört habe? Was nehme ich mir vor? Wichtig ist, dass es nicht darum geht, die acht Punkte abzuarbeiten, sondern sich ein oder zwei Schwerpunkte rauszuziehen und diese bewusst und achtsam anzugehen. Alle anderen Impulse lässt man für den Moment wieder los. Ein weiterer Leitsatz lautet: Ich darf mir Pausen gönnen. Auch wenn die Umsetzung den meisten sehr schwerfällt, so ist es wichtig, dem Gehirn bewusst und ohne schlechtes Gewissen ab und an eine Auszeit zu geben, um ihm beim Sortieren und Entrümpeln zu helfen.
Es ist sinnvoll, den Prozess mit etwas zeitlichem Abstand und aus anderer Perspektive erneut zu betrachten. Daher sind nach drei bis vier Wochen Follow-up-Termine im Online-Format geplant, um Zeit und Raum für Austausch zu schaffen. Leitfragen sind: Was hatte Resonanz? Was konnte aktiv umgesetzt werden? Was hat vielleicht nicht so geklappt, wie ich es mir vorgenommen habe, und warum? Die Gruppe wird in zwei Teilgruppen gesplittet, die gemeinsam im kleineren Kreis reflektieren. Das Online-Setting in Kleingruppen ist wichtig, um allen Beteiligten Zeit und Raum zu geben, um zu Wort zu kommen.
Im Rahmen dieses Follow-ups erfolgt die Übung „Wertschätzung to go“. Alle Teilnehmenden bekommen Zeit, um Kolleginnen und Kollegen aus der Runde ein positives Feedback per Mail zu schenken. Dies erfolgt im Einzel-Chat. In manchen Gruppen wurde die Aufgabe ausgeweitet, auch an Teammitglieder zu schreiben, die gerade nicht im virtuellen Raum dabei sind. Hier zeigt sich die Hemmschwelle nochmals größer als im geschützten Raum, denn die Art und Weise, so Wertschätzung zu geben, ist (bisher noch) in den wenigsten Unternehmen verankert. Es zeigt sich, dass es den meisten – bedingt durch unsere Defizitorientierung – wesentlich leichter fällt, Kritik zu äußern als Lob. Umso wichtiger ist es, Wertschätzung bewusst in den Alltag einfließen zu lassen, denn Kulturveränderung beginnt bei jedem selbst.
Alle Teilnehmenden haben zusätzlich die Option, sich in Einzelgesprächen mit dem Coach auszutauschen. Folgende Erkenntnisse werden hierbei deutlich:
Der Ansatz „Mindfulness@business“ kann auch gewinnbringend ins Coaching von jüngeren Zielgruppen integriert werden, etwa für Personen, die sich in der Ausbildung, Weiterbildung oder im Studium befinden und an den Themen Persönlichkeitsentwicklung und gesunde Performance interessiert sind. Eingesetzt wurde das Konzept bereits in unterschiedlichen Formaten an diversen Hochschulen in der Wirtschaftsregion Heilbronn-Franken. U.a. erfolgten Keynotes zu Achtsamkeit im Rahmen von Mentoring-Programmen, Impulsvorträge bei Alumni-Workshops zu Mindful Leadership oder Perspektiventage mit Bachelor-Studierenden zur persönlichen Zukunftsgestaltung.
Bereits vor über drei Jahren hat das erste Pilotprojekt mit Studierenden aus dem fünften Semester an einer Heilbronner Hochschule stattgefunden. Dieser sogenannte Perspektiventag mit achtsamen Impulsen für die Selbstreflexion wird seither zusätzlich im Vorlesungsplan dieses Studiengangs angeboten. Dabei geht es darum, den Studierenden zum Ende der Studienzeit eine Möglichkeit zu eröffnen, sich mit Fragestellungen der beruflichen und persönlichen Perspektiventwicklung und Zukunftsgestaltung in achtsamer Atmosphäre zu beschäftigen. Ohne Leistungsdruck, ohne Lernen für Klausuren. Stattdessen geht es ums Lernen fürs Leben. Folgende Fragestellungen und Themen werden im Perspektiventag umgesetzt:
Achtsamer Umgang mit sich selbst: Ausgehend vom eigenen Selbstbild wird reflektiert: Wie sehe ich mich selbst? Wie will ich, dass andere mich sehen? Für welche Herzensthemen setze ich mich ein?
Übungen zur Wahrnehmung: Die Studierenden erleben, wie unterschiedlich wir wahrnehmen, und erfahren am eigenen Leib, dass Wahrnehmung selektiv, subjektiv und kontextabhängig ist. In der Reflexion wird deutlich: Es gibt nicht nur eine Meinung und eine Perspektive. Hierfür bietet sich die „achtsame Mittagspause“ an, in der 30 Minuten Bewegung integriert sind, um bewusst in Bewegung zu kommen und in Bewegung zu sein. Dabei wird der Weg, den man tagtäglich geht, offen und mit anderen Augen betrachtet und gefragt: Was nehme ich wahr? Was nehme ich bewusst anders wahr als sonst? Was begegnet mir als Metapher in Bezug auf neue Perspektiven und meine Zukunftsgestaltung? Zusätzlich wird die Aufgabe gestellt, ein Bild aus der achtsamen Mittagspause mitzubringen. Die anschließende gemeinsame Fotosession mit persönlichen Erläuterungen, warum das Foto gemacht wurde und welche Assoziationen hervorgerufen wurden, fördert viele Emotionen zutage. So wird in kreativer Art und Weise ein weiterer Raum für tiefergehende Gespräche und intensiveres Kennenlernen geöffnet, der neue Perspektiven erlaubt.
Balance von Kopf, Herz und Bauch: Bei der spontanen Aufgabe, eine Figur mit diesen drei Elementen zu zeichnen, wird deutlich, was aktuell überwiegt. Oftmals ist es der Kopf. Durch diese eigene Darstellung kann das Unbewusste ins Bewusstsein kommen – „ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“. Nur was bewusst wahrgenommen und beachtet wird, kann in ein achtsames Gleichgewicht gebracht werden.
Das Feedback der Studierenden spiegelt die Perspektiverweiterung:
Achtsamkeit bedeutet, eine Balance zwischen Hirn, Herz und Bauch herzustellen. Oftmals sind wir sehr kopfgesteuert unterwegs, das akademische Umfeld kann hier ein Verstärker sein. Lassen wir auch Herz und Bauch mitsprechen, ermöglicht dies eine Schärfung der Wahrnehmung und eine Erweiterung der Perspektiven. In der Folge kann ein ganzheitlicher Blick entstehen. Das Denken und Erfahren „outside the box“ schafft Raum für Neues.
Achtsamkeit kann – insbesondere im Kontext von Krisen – als wichtiges Element der Perspektivberatung betrachtet werden, denn Selbstreflexion funktioniert bei Vollgas nicht. Es braucht zunächst Momente des Innehaltens, um sich dann wieder neu ausrichten zu können.
Wie finde ich wieder zu mir nach einer Krise im Job? Wie finde ich wieder Halt? Wer oder was gibt mir Halt? Wie erkenne ich meine Stärken, mein Selbst und meinen Selbstwert? Stehen diese oder ähnliche Fragen im Zentrum eines Coachings, kann mit dem Perspektivwechsel „raus aus den negativen Gedanken – rein in die positiven Gedanken“ gearbeitet werden. Der Prozess beginnt mit einer Reflexion, die gezielt auf Positives fokussiert und hierzu Fragen wie diese nutzt: Welche Gedanken tun mir gut? Was macht mir Freude und gibt mir Kraft? Hierbei gilt es, bewusst auf die Wortwahl zu achten, denn Sprache erzeugt Wirkung: Weg von Selbstmitleid, hin zu Selbstmitgefühl. Auf dem Resilienz-Kongress 2023 sprach Stefanie Neubrand von der „Impathie als Schlüssel zur Resilienz“. Diese ist als Ich-bezogene Empathie zu verstehen (siehe auch Neubrand, 2014). Das bedeutet, dass ich mir selbst in einer achtsamen Haltung der Güte, mit einem „liebevollen Blick“ auf mich selbst begegne – und mich selbst auch nicht bewerte. Dies ist besonders wichtig, wenn ich mich in bewegten Krisenzeiten befinde und aufgrund von „Misserfolgen“ an mir zweifle. Dann ist es vielmehr notwendig, gezielt „Energiebringer bzw. Anker“ wie z.B. Tätigkeiten, die mich begeistern, nahestehende Personen, die mich stärken, und bisherige Erfolge ins Bewusstsein zu rücken, um den Selbstwert zu stärken und das Selbstbild neu zu zeichnen.
Was hat dies mit dem Job zu tun? Ganz schön viel, denn es geht um den ganzheitlichen Blick. Wir können nur dann dauerhaft im Job leistungsfähig sein, wenn es uns insgesamt gut geht und wir achtsam mit unseren Bedürfnissen umgehen. Zu identifizieren, welche Bedürfnisse im Rahmen der beruflichen Neuorientierung wichtig sind, ist der nächste Schritt im Coaching, der anhand von Fragen wie diesen erfolgen kann (in Anlehnung an Eggers, 2022): Was benötige ich, um im neuen Job anzukommen? Was sollte erfüllt sein, damit ich mich mit der Tätigkeit dauerhaft wohlfühle? Coach und Klient können hier auch mit der Heimat-Metapher arbeiten: Was muss mein neues berufliches Umfeld mitbringen, damit ich mich in ihm „heimisch“ fühlen kann?
Achtsamkeit löst keine organisatorischen Unklarheiten in Bezug auf Rollen und Verantwortlichkeiten.Sie kann jedoch dazu beitragen, dass diese Unklarheiten in ihrem Ausmaß wahrgenommen und dadurch zum Thema gemacht werden. Und dies ist der erste Schritt zur weiteren Organisationsentwicklung und zu wertschätzendem Dialog auf Augenhöhe. Ein Coaching mit dem Schwerpunkt Achtsamkeit kann somit den Ausgangspunkt weitreichenderer Coaching- und Entwicklungsprozesse darstellen – sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene.
Es ist zu wünschen, dass Achtsamkeit in Zukunft stärker in den beruflichen Kontext einfließt. Das wäre sowohl ein Gewinn für jeden Einzelnen als auch für die Gesellschaft. Und wie wäre es, Mindfulness auch an Schulen zu etablieren? Das etwas andere Schulfach, das auf alle Fächer und vor allem aufs Leben einzahlt. Ein auf einer Parkbank eingeritztes Statement eines Teenagers hat die Autorin berührt und sehr nachdenklich gemacht – es zeigt, wie wichtig dieses Thema auch für junge Menschen ist. Dort stand geschrieben: „So viele Jahre Schule und keiner hat uns beigebracht, uns selbst zu lieben.“
Hier schließt sich der Kreis zur Selbstfürsorge. Selbstliebe – ein wichtiges Fundament für Selbstwert, Selbstvertrauen und Selbstwertschätzung. Dies gilt es bereits in jungen Jahren zu stärken. Auf dieser Basis baut der persönliche Erfolg für jeden von uns auf und somit auch der langfristige wirtschaftliche Erfolg von Unternehmen, denn es braucht selbstreflektierte und achtsame Menschen – über die Generationen hinweg.