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Kinästheten im Coaching

Klienten mit einem besonderen Wahrnehmungssinn

12 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 06 | 2013

Sie werden Kinästheten genannt: Menschen, die bevorzugt über den Wahrnehmungssinn des Fühlens, den kinästhetischen Sinn, sich und ihre Welt erleben. Ein Kinästhet trägt einen ausgesprochen prägenden systemischen Baustein in sich. Als Klient bringt er diesen mit ins Coaching und fordert den Coach, mittel- oder unmittelbar. Was ist so besonders an diesen Menschen? Wie können sie mit ihrer Ausprägung umgehen? Und welchen Wert macht das für sie selbst, ihre Umgebung sowie für Unternehmen und Organisationen aus? Und wie arbeitet der Coach damit? 

Wahrnehmungsebenen

Zunächst hat jeder Mensch unterschiedliche Wahrnehmungsebenen. Klassischerweise die fünf Sinne: Sehen (visuell), Hören (auditiv), Fühlen (kinästhetisch), Riechen (olfaktorisch), Schmecken (gustatorisch). Durch die Individualität des Menschen sind diese jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt. Ein Mensch, bei dem das Fühlen als Wahrnehmungssinn besonders ausgeprägt ist, wird als Kinästhet bezeichnet. Dabei ist der Begriff des Fühlens hier bewusst statt dem des Tastens gewählt, da er mehrere Ebenen erschließt. Der Kinästhet reduziert sich nicht auf das Tasten. Sein Erleben ist entscheidend durch sein Fühlen und seine Gefühlswelt geprägt. Alle Sinne können Emotionen auslösen. Beim Fühlen jedoch korrespondieren das körperliche Fühlen und das emotionale Fühlen gleichzeitig und wechselweise.

Begegnen Kinästheten Neuem, dann wollen sie es fühlen, ja berühren. Sei es die Oberfläche ertasten, den Gegenstand in die Hand nehmen, den Schalter schalten, oder was auch immer. Aber auch ganz simpel bei der Begrüßung eines Gegenübers: Sie spüren Körpersignale, nehmen in den Arm, fühlen sich ein. Dabei ist für den Kinästheten das Be-Greifen in der Regel keine für sich allein stehende Aktion, sondern eine mit innerem Erleben verbundene Emotion.

Kinästheten fühlen so in vielfältiger Weise. Äußere Tast- und Körperempfindungen lösen innere Empfindungen und Gefühle aus. Und umgekehrt. Bei Menschen mit hoher Ausprägung des kinästhetischen Sinnes korrespondieren ihre Außen- und Innenwelt. Ein naheliegendes Zusammenspiel, denn: Wie soll ein Mensch etwas ausgeprägt und nachhaltig ertasten oder körperlich fühlen, wenn keine innere Resonanz vorhanden wäre? So bildet beides, das innere und äußere Fühlen, einen persönlichkeitsspezifischen Zusammenhang. Fühlen im körperlichen und emotionalen Sinne ist also häufig koexistent. Der Kinästhet erlebt so einerseits seine Welt zum Beispiel über Berührungen und korrespondierende Empfindungen. Und dies eben nicht nur bei Greifbarem. Denn andererseits fühlt er oft auch, wenn sprichwörtlich "etwas in der Luft liegt".

Zwei Hauptebenen sind somit besonders angesprochen: Einerseits das körperliche Fühlen über Berührung (haptische Wahrnehmung) und andererseits das innere emotionale Fühlen über innere Körperreaktionen, Empfindungen und Stimmungen (emotionale Wahrnehmung). Und es macht Sinn, beide Ebenen zu beachten.

Ein Mensch mit der Ausprägung eines Kinästheten erlebt, was er fühlt, und er fühlt, was er erlebt.

Wahrnehmungsrelevanz

Körperliches Fühlen hat für den Kinästheten eine hohe Relevanz bezüglich seiner Beziehungsebene zu einem Gegenüber. Er drückt damit nicht nur die Wertigkeit einer Beziehung aus, sondern unterstreicht auch Gesprächsinhalte oder Handlungen durch Berührungen. Allerdings wird er sich das im öffentlichen Leben nur selten erlauben, denn hier stehen persönliche Schwellen und gesellschaftliche Tabus hemmend im Wege. Seine Wahrnehmungs- und Kommunikationsebene bleiben sozusagen "stecken".

Hier ist das Thema des inneren emotionalen Fühlens scheinbar einfacher, denn das macht derjenige zunächst nur mit sich selbst aus. Jedoch nur scheinbar. Denn beim Kinästheten wird durch die hohe Ausprägung des kinästhetischen Wahrnehmungssinnes das innere emotionale Fühlen über deutlich heftigere innere Körperreaktionen und Stimmungen ausgetragen, als bei normalen Ausprägungen. Die Folge ist, dass nicht nur "große" Themen wie Freude, Trauer, Sehnsucht, Glück usw. intensive innere Körperreaktionen und Stimmungen hervorrufen. Auch scheinbar Banales, wie z.B. eine negativ empfundene Äußerung des Gegenübers, kann diese bereits auslösen. Ganz zu schweigen von scharfen Wortangriffen.

Beim Kinästheten schlägt sprichwörtlich so mancher Kommentar oder manche Situation auf den Magen. Was ihn dann tagelang begleiten und umtreiben kann. Denn auch hier gibt es eine persönliche Schwelle: es anzusprechen und es richtig einzuordnen. 

Herausforderung im Coaching

Wie häufig bei individuellen Eigenschaften, ist auch dieses Kennzeichen der bevorzugt kinästhetischen Wahrnehmung eine Mischung aus Veranlagung und Prägung. Und es ist jedem eigen, in welchem Umfeld die persönlichen Anlagen und Lebensgeschichten welchen Raum hatten. So lässt sich neben der Veranlagung sehr viel aus der individuell-systemischen Etablierung an Einflüssen und Zusammenhängen herleiten.

In der Coaching-Praxis, wo man mit den spezifisch Anlagen des Menschen arbeitet, stehen deshalb zunächst folgende reflektorische Fragen für den Klienten im Vordergrund: "Welchen Stellenwert hat diese Begabung für mich?", "Was verbinde ich damit und wie (re)agiere ich?", "Stört oder fördert sie mich?", "Wie kann ich mit dieser Begabung für mich erfüllend umgehen?", "Wo sind Grenzen?", "Wie bewerte ich Situationen und Wahrnehmungen?", "Wo brauche ich für mich Schutzräume, wo sind Freiräume?".

Der zweite Schritt ist dann – je nach Erfordernis – der Musterbestätigung oder der -veränderung gewidmet. Zielführend ist dabei, wie Wahrnehmungen für den Klienten auf gesunde Art und Weise eingeordnet werden und wie ggf. die genannten Schwellen überwunden werden können. Konfrontations- und Rollenspieltechniken können hier ein gutes Übungsinstrument sein, das Situationen aus dem Alltag aufgreift und dorthin zurückspiegelt.

Es hilft im Coaching, das Alltagserleben des Klienten kontexthaft über Chancen und Risiken auszuloten. Weiter ist der Klient eingeladen, körperliches und emotionales Fühlen zu artikulieren oder darzustellen, sowie mögliche Verhaltensweisen situationsbezogen und systemisch abzuwägen. Verhaltensweisen können ergänzend erprobt und erlebt werden.

Der Coach sollte nicht nur aus Respekt oder Wertschätzung dem Klienten gegenüber solange dessen persönliches Erleben erfragen, bis er es umfassend und in der Tiefe verstanden hat: Dieses Verstehen ist für die weitere Arbeit mit dem Klienten für den Coach unabdingbar. Nur so kann er den Klienten sicher durch den Coaching-Prozess leiten. Dies wird dem Coach umso leichter fallen, je mehr er selbst einen persönlichen Zugang zur kinästhetischen Wahrnehmung hat. Jedoch ist dann auch Vorsicht geboten, um sich als Coach das Erleben des Klienten nicht zu Eigen zu machen. Sowohl wertschätzendes Verstehen und Nachvollziehbarkeit, als auch professionelle Distanz müssen für den Coach selbstverständlich und geübt sein.

In der Welt der Industrie, des Share-Holder-Values, der Ellbogenmentalität, der Hire & Fire-Mentalität tun sich Kinästheten in der Regel schwer. In sozialen Berufen scheint es einfacher und selbstverständlicher: Beziehung sowie persönliche Nähe und Wärme werden doch dort gelebt, oder? Doch auch in den sozialen Berufen und Unternehmen hat das Hauen und Stechen längst begonnen. Und wer sich offenbart wird verletzbar. Glücklich, wer im privaten Umfeld Möglichkeiten hat, die ihn auffangen. Gibt es diese Möglichkeiten nicht, ist das ein wichtiger Punkt im Coaching-Prozess. Denn sie sind ein wichtiges Grundelement für die Gesundheit des Klienten. Eine der zentralen Fragen ist somit, wie sich der kinästhetisch begabte Klient diese Möglichkeiten in seinem Umfeld schafft. Und wenn es keine Auffangmöglichkeiten im persönlichen Umfeld gibt, können auch institutionelle Formen helfen.

Kein Wunder also, wenn sich Menschen nach außen hart zeigen und emotional zurückziehen. Jedoch sind es gerade die Kinästheten, die bestens dafür sorgen könnten, dass die Belegschaft sich wohlfühlt. Sie haben ein Gespür, die äußere und innere Empfänglichkeit, Antennen und Schwingungsfähigkeit für das, was Menschen oder einer Gruppe gut tut.

Kinästhetisch begabte Führungskräfte können ihre Fähigkeit also gezielt einsetzen. Wie? Genau das kann im Coaching – zeitlich gesehen nach den oben beschriebenen ersten Klärungsschritten – herausgearbeitet und trainiert werden. Dabei gilt jedoch zunächst, die Verletzlichkeit des Klienten zu beachten. Sein Selbstschutz ist vorne anzustellen – dies ist ein wichtiges Augenmerk für den Coach. Zum Beispiel über die Wertigkeit der eigenen Person des Klienten. Oder in dem die Sachlichkeit einer Angelegenheit beleuchtet, ihr Stellenwert erarbeitet und wertgeschätzt sowie die kinästhetische Seite abgegrenzt wird. Doch zuallererst gilt, dem Klienten im Setting seine Eigenschaft als Stärke bewusst zu machen, so bewusst, dass er sie aktiv nutzen kann.

Wie nun die Fähigkeiten gezielt einsetzen? Nach inhaltlichen Erarbeitungen kann über systemische Figurenaufstellungen oder die bereits genannten Rollenspiele der Führungsalltag und auftretende Situationen in Rollen und Interaktionen bewusst erlebt werden. Team-Erleben oder Mitarbeitergespräche können nachempfunden, aufgearbeitet oder vorbereitet werden. Genauso wie anstehende Entscheidungen oder Veränderungen.

Um als Führungskraft (und auch als Mensch) mit nahegehenden persönlichen Angriffen gut umzugehen, kann im Coaching das Instrument des "Inner Teams" hilfreich sein. Damit wird hinterfragt, welche der unterschiedlich vorhandenen inneren Stimmen (Team-Mitglieder) des Betroffenen auf solche Angriffe wie reagiert. Die Team-Mitglieder können über Figuren visualisiert werden und miteinander interagieren. Sind die möglichen Reaktionen als Schutz geeignet? Wenn nicht, welche weiteren Stimmen gibt es im Inneren? Welche könnten gestärkt und in den Vordergrund geholt werden? Verschiedene Aspekte und Sichtweisen werden so individuell berücksichtigt. Immer hilfreich ist, den Klienten auf die Fähigkeit zur Trennung zwischen Person, Beziehung und Sache hinzuführen. Sollten bestimmte Reaktionsmuster beim Klienten tiefer liegen, ist auch an eine Introvision zu denken.

Und kinästhetisch unbegabte Führungskräfte? Die ganz harten …? Hier hat das Coaching eine Chance, mit kinästhetischen Ansätzen zu arbeiten. Immerhin hat diese Führungskraft ein Defizit im Hinblick auf menschliche Bedürfnisse seines Umfeldes. Vermutlich wird sie diese oder selbst ihr eigenes Defizit zunächst gar nicht erkennen. Der Coach wird in diesem Fall also zuerst helfen, dieses "Erkennen" beim Klienten zu etablieren.

Dazu sind einzelne Situationen aufzuarbeiten, das Eigenerleben des Klienten in Korrelation zum Umfeld zu stellen, die Form des Eigenerlebens zu hinterfragen, Möglichkeitsszenarien zu entwickeln, über zirkuläre und hypothetische Fragen verschiedene Blickrichtungen einzuholen, kinästhetisches Empfinden und Reaktionen zu provozieren usw. Ist der Wunsch des Klienten da, im Alltag die Seite des Fühlens auszuprobieren, gibt es zumindest eine Möglichkeit: Sollte er nicht in der Lage oder willens sein, selber diese Fähigkeit zu erlangen, kann er über entsprechend begabte Mitarbeiter diese im Team einbringen lassen, fördern und wertschätzen.

Ein Glück für Unternehmen oder Organisationen

Ja, Kinästheten sind ein Glück für Unternehmen oder Organisationen. Zugegeben, vielleicht nicht auf den ersten Blick. Dort wo ein Anderer seine Arbeit scheinbar sachlich abgeklärt aufnimmt, wird ein Kinästhet mit seinen speziell ausgeprägten Rezeptoren weiteres um die Aufgabenstellung herum wahrnehmen. Und das ist gut so. Menschen sind keine Maschinen – auch wenn sie sich manchmal so verhalten. Motivation, zum Beispiel, spricht immer den ganzen Menschen an und ist umso wirkungsvoller und nachhaltiger, je mehr Verstand und Emotion in die gleiche Richtung ziehen.

Doch wo sind die harten Fakten? Wo Effizienz und Profit? Diese gern und auch richtig gestellten Fragen bergen eine Gefahr: Nämlich dass sie so dominant auftreten, dass sie den Blick für Missstände verstellen. Und Missstände tragen stets Veränderungs- und Weiterentwicklungspotentiale in sich, die es lohnt, zu entdecken und in ihrer Tiefe zu erfassen. Genau hier ist es gut, sowohl Sachfokussierte als auch Kinästheten im Team zu haben. Beiden Raum zu geben und beide zu hören ist die bereichernde Chance für ein menschlich und wirtschaftlich starkes Miteinander.

Coaching kann dies aufnehmen, die unterschiedlichen Aspekte beleuchten und wertschätzen. In Team- und Einzel-Coachings für Mitarbeiter und Führungskräfte kann so schlummerndes Potential im Unternehmen, dessen Strukturen und Alltag gehoben werden.

Motivation ist eine Voraussetzung für Leistung. Wirkliche Leistung stellt sich genau dann ein, wenn qualifizierte Mitarbeiter mit Freude und motiviert ihre Arbeit angehen. Und genau hier haben Kinästheten ihre Stärke. Sie "fühlen", wenn Kommunikation und Prozesse nicht rundlaufen. Doch wie bringt das ein Unternehmen oder eine Organisationen weiter? Für Kinästheten selbst ist dieses Erleben zunächst eine Last, wenn sie damit allein gelassen werden, wenn sie niemanden als Sparringspartner zum Austausch haben.

Für ein Unternehmen werden sie dann zum Gewinn, wenn sie ihre Gabe mit Lust einbringen können, wenn Sie sich in Balance zum Sachorientierten fühlen, wenn ihre Expertise gefragt ist. Denn sie suchen und fühlen die emotionale Stimmigkeit und – so man sie lässt – können für ein gutes Team-Klima sorgen. Wenn dazu alle Beteiligten bereit sind, ihre persönliche Hemmschwelle in einer guten Art und Weise zu überspringen, dann geben Kinästheten die persönliche Nähe, die für den Zusammenhalt eines Teams und für kommende Wow-Erfolge so wichtig ist. Und genau das sind Schlüssel für erfolgreiche Unternehmen.

Coaching kann hier großartiges leisten: mit einem Kinästheten dessen eigenen Umgang mit seiner Begabung entwickeln; Handlungs- und Schutzkriterien mit und für den Klienten erproben; gezielt herausarbeiten, wie er seine Begabung im Unternehmen für alle Seiten förderlich sowie im Zusammenwirken mit Anderen und anderen Begabungen einsetzen kann.

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