Robert ist Tutor für Mathematik im Studiengang Maschinenbau. Im Sommersemester 2020 muss er sein Mathematik-Tutorium spontan auf Videokonferenz umstellen, da Präsenzveranstaltungen aufgrund der Coronavirus-Pandemie nicht mehr zugelassen sind und alle Kurse digital umgesetzt werden müssen. Eine Lizenz für die Videokonferenz-Software besitzt er nicht. Er nutzt die kostenfreie Basisversion, die eine zeitliche Begrenzung auf 40 Minuten für jede Videokonferenz vorgibt. Seine Professorin hat ihm freie Hand bei der Gestaltung des digitalen Semesters gegeben. In der ersten Sitzung herrscht Trubel. Einige Studierende sind aufgeregt, machen sich Sorgen, dass sie das Semester nicht bewältigen können. Andere sind nicht zu sehen und zu hören. Manche sind gar nicht erst erschienen. Im Laufe des Semesters spitzt sich die Lage zu. Robert rechnet die Übungsaufgaben vor, nur ein paar Teilnehmende stellen Fragen, alle anderen beteiligen sich nicht. Immer weniger Studierende loggen sich zur Videokonferenz ein. Im Austausch mit anderen Tutorinnen und Tutoren stellt Robert fest, dass er in der Vorbereitung und Kommunikation mehr Aufwand betrieben hat als andere. Das frustriert! Und dann noch der Frust der Studierenden, die zwar zu seinen Tutorien kommen, sich jedoch oft über die unübersichtliche Nutzung und Vielfalt der Tools und die E-Mail-Flut in ihrem Studium beschweren. Er kann den Frust verstehen – schließlich erlebt er es in seinem Studium selbst so. Trotzdem muss er den Stoff schaffen, der vorgegeben ist.
Ähnlich wie Robert ging es vielen Tutorinnen und Tutoren im Sommersemester 2020 an der TU Dresden: keine Lizenzen, wenig Führung, hoher Aufwand und geringe Reichweite. So äußerten sich Teilnehmende der Qualifizierung für Tutorinnen und Tutoren im ESF-geförderten Projekt TutorING (TUD_MTC2) des Zentrums für Weiterbildung.
In ihren Übungen, Praktika oder Tutorien begleiten Tutorinnen und Tutoren Studierende in ihrem Lernprozess, erläutern komplexe Zusammenhänge zur Vertiefung der Lehrveranstaltung und fungieren als Fachexpertinnen und -experten für die Prüfungsvorbereitung. Da sie selbst Studierende sind, begegnen sie den Teilnehmenden auf Augenhöhe und senken damit die Barriere, Fragen zu stellen. Diese Fragen sind essentiell für das Vorankommen im Lernprozess. Oft trauen sich Studierende nicht, diese direkt an die Professorin oder den Professor zu richten. Platz für Fragen und Diskussionen gibt es in Vorlesungen kaum, dafür aber in Tutorien. Sie bieten einen Raum ohne vergleichende Leistungsbewertung. Tutorinnen und Tutoren treten damit als helfende, unterstützende und beratende Personen auf, tragen wesentlich zum Studienerfolg bei und leisten einen wichtigen Beitrag in der universitären Lehre.
Daraus ergibt sich neben den oben genannten Vorteilen ein Rollenkonflikt: Tutorinnen und Tutoren sind einerseits Mitstudierende und andererseits Lehrende, die das Tutorium leiten, und damit Angestellte der Universität. Sie sind also Peers aufgrund ihres Studierendenstatus und zugleich Fachexpertinnen und -experten mit Wissensvorsprung sowie „rechte Hand“ der Lehrenden. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Erwartungen an sie gestellt werden: zum einen von den Professorinnen und Professoren und zum anderen von den Studierenden. Diese Erwartungen werden nicht immer klar geäußert und müssen erst aufgedeckt werden.
Die Erfahrungen aus dem Sommersemester zeigen, dass die größten Herausforderungen im Digitalen die folgenden sind:
Die Inhalte, die in Präsenz thematisiert werden, können nicht 1:1 online umgesetzt werden. Praktisches Ausprobieren muss anders angeregt werden. Dies gilt auch für Stimmungsbilder, die aktiv erfasst werden müssen. So steigt der bewusst zu steuernde Kommunikationsaufwand mit den Studierenden stark an.
Es ist anstrengender, digital „am Ball“ zu bleiben. Dazu kommen „Medienbrüche“, die alle Studierenden bewältigen müssen, um wirklich alle Inhalte mitzubekommen: Es gibt z.B. eine Lernplattform für die Einschreibung in Kurse und Ablage von Dateien. Dort muss hinterlegt werden, wo der Live-Chat oder die Online-Konferenz stattfindet und wann. Dafür versenden die Tutorinnen und Tutoren wieder „Extra-Einladungen“ per E-Mail an die Studierenden, um die Teilnahmequote zu erhöhen.
Herausfordernd für die Tutorienarbeit ist außerdem, dass Tutorinnen und Tutoren oft über wenig didaktische oder pädagogische Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Noch gibt es an der Universität keine verpflichtende Qualifizierung. Tutorinnen und Tutoren sehen auch häufig keinen Bedarf an Didaktik, da sie aus ihrer Sicht wenig Freiheiten in der Gestaltung der Tutorien haben. Ablauf und Inhalt von Tutorien sind besonders in den MINT-Bereichen vorgegeben. Dass es dennoch eine Notwendigkeit didaktischer Gestaltung gibt, wird häufig erst im Laufe des Semesters klar, besonders dann, wenn die Beteiligung der Studierenden abnimmt oder Unzufriedenheit geäußert wird.
Der Anteil der Didaktik in Lehrveranstaltungen wie Tutorien wird stark unterschätzt. Es reicht nicht, dass Lehrende nur die Fragen der Studierenden beantworten oder schwierige Aufgaben vorrechnen. Es reicht auch nicht, Fachwissen zu haben, ohne es vermitteln zu können. Und dennoch werden Tutorinnen und Tutoren häufig nur nach der Leistung im entsprechenden Lernfeld ausgewählt. Ihre kommunikativen und pädagogischen Fähigkeiten und Ambitionen finden meist keine Beachtung.
Tutorien tragen dann zum Studienerfolg bei und erreichen die Studierenden, wenn
Coaching ist Teil der Qualifizierung des TutorING-Projekts und reagiert auf die genannten Herausforderungen individuell und passgenau. Damit Coaching auch von Tutorinnen und Tutoren angenommen wird, ist erfahrungsgemäß die Teilnahme an konkreten Qualifizierungsangeboten wie einem Basismodul vor Semesterstart notwendig. Der entstehende Kontakt durch solche Angebote fördert Vertrauen in die Beteiligten und damit auch die Inanspruchnahme von weiterführenden Coaching-Angeboten.
Das Basismodul im Rahmen des Programms bereitet die individuelle Unterstützung durch Coaching vor, indem es für relevante Themen in der Tutorienarbeit sensibilisiert, die Selbstreflexion anregt, Vertrauen schafft und eine Basis für die Weiterentwicklung im Prozess bietet. Es gibt einen Ausblick auf weitere Angebote im Semesterverlauf, die auch im Coaching bearbeitet werden können.
Neben der Reflexion der eigenen Rolle und der Erwartungen wird gezeigt und geübt, wie sich Tutorien effizient und praktikabel planen lassen, welche Kommunikationspunkte mit den Studierenden nötig sind (insbesondere im Digitalen) und wie Interaktion und Feedback im Tutorium gefördert werden können. Dabei stellen sich didaktische und methodische Fragen, ohne dass sie vordergründig als solche bezeichnet und behandelt werden. Ziel ist es, Tutorinnen und Tutoren für didaktische Stellschrauben zu sensibilisieren und ihnen einfache Mittel zur Gestaltung mit auf den Weg zu geben. Damit wird auch die Selbstreflexion angeregt, die notwendig ist, um eigene Bedürfnisse zu erkennen, die im Verlauf des Semesters zu Tage treten. Das in der Qualifizierung aufgebaute Vertrauen ist eine wichtige Voraussetzung für einen gelingenden Coaching-Prozess. Außerdem ist es vorteilhaft, dass im Coaching auf Basisinhalte aufgebaut und bereits bekanntes Vokabular genutzt werden kann. Somit können die Phasen der Kontaktaufnahme, der Auftragsklärung und Zielbestimmung sehr schnell bewältigt werden. Dies kommt den Tutorinnen und Tutoren entgegen, da sie in der Regel sehr wenig Zeit für Vor- und Nachbereitung von Tutorien haben. Sie brauchen also schnelle und unkonventionelle Hilfe.
Coaching findet im Einzelsetting oder auch in kleinen Gruppen von zwei bis acht Personen statt. Coachings im Einzelsetting können eine Sitzung beinhalten oder aber auch begleitend über das gesamte Semester erfolgen. Die Gruppen-Coachings umfassen in der Regel zwei Termine, wobei der erste Termin für Impulse, Erfahrungsaustausch und Formulierung von anstehenden Schritten in der Tutorienarbeit genutzt wird. Der zweite Termin dient dem Follow-up, um die Schritte zu reflektieren und gegebenenfalls anzupassen. Wichtiger Effekt im Gruppen-Coaching ist der Austausch mit Peers. Dies ist sehr hilfreich für die Tutorinnen und Tutoren, weil sie Anregungen erhalten und diese leichter ins eigene Arbeitsleben transferieren können.
Die Sitzungen können digital oder in Präsenz stattfinden. Neben diesen Sitzungen besteht auch die Möglichkeit, Pläne, Aufgabenstellungen, Reflexionsbögen und Ähnliches zum Tutorium per Mail an den Coach zu senden und von ihm kommentieren zu lassen. Zusätzlich wurden zu häufig wiederkehrenden Themen Tutorials entwickelt, die als Vorbereitung oder Ergänzung von Coachings genutzt werden können.
Typische Themen in Gruppen- und Einzel-Coachings, die sich aus der Erfahrung im digitalen Semester ergeben haben, sind neben den bereits genannten u.a.:
Besonders dann, wenn die digitale Zusammenarbeit mit Studierenden Thema im Coaching ist, wird an der Zielsetzung des Tutoriums gearbeitet und mit den Potentialen von Online-Tutorien sowie den vorhandenen Ressourcen (persönlich, technisch …) abgeglichen.
Stehen Rollenkonflikte im Vordergrund, die sich in nicht endenden Diskussionen im Tutorium oder auch in innerpersönlichen Konflikten zeigen, kommen Methoden des Perspektivwechsels zum Einsatz: zirkuläre Fragen, die Wunderfrage oder Reframing und weitere systemische Fragetechniken.
Geht es im Coaching vor allem um Schwierigkeiten in der planerischen Gestaltung eines Tutoriums, kann das Coaching auch stärker beratender Natur sein. Hier werden vor allem durch Perspektivwechsel methodisch-didaktische Fragen geklärt:
Bei den Gruppen-Coachings können die Teilnehmenden voneinander lernen, sich austauschen und reflektieren. Es entstehen „fast von allein“ unterschiedliche Blickwinkel auf eine Situation. Dabei wird grundsätzlich lösungsorientiert gearbeitet und gezielt an konkreten Fragestellungen der Teilnehmenden gewirkt, z.B. mit der Methode des Psychodramas (siehe Moreno, 2008).
Durch Coaching werden vor allem die individuellen Bedarfe von Tutorinnen und Tutoren gedeckt, die im Basismodul nicht bearbeitet werden können. Der Transfer in die eigene Arbeit wird unterstützt.
Die Klientin stand im März 2020 vor der Herausforderung, die gängigen Tutoriumssitzungen durch schriftlich gestellte Aufgaben und Online-Konsultationen zu ersetzen, um ihre Teilnehmenden auch im Online-Semester zu erreichen. Sie lud die Aufgaben als PDF-Dateien in einem Lernmanagementsystem hoch. Diese wurden von fast allen Teilnehmenden heruntergeladen. Außerdem bot sie wöchentlich eine Online-Konsultationsstunde an. Leider nahmen diese nur sehr wenig Studierende in Anspruch. Nur Einzelne stellten Fragen oder hatten die Aufgaben geübt. Wenn Studierende doch einmal nachfragten, betraf dies vor allem Inhalte, die die Klientin aus ihrer Sicht eigentlich bereits kommuniziert hatte. Sie war sehr unzufrieden mit der geringen Beteiligung. Angesichts ihres hohen Kommunikationsaufwands und des geringen Zulaufs nach wenigen Wochen im Semester war sie völlig demotiviert. Zudem hatte sie mit ihrem eigenen Online-Studium viel zu tun. Mit der Entscheidungsfrage, ob sie ihre Tätigkeit „an den Nagel hängen“ oder dabeibleiben solle, fragte sie ein Coaching bei TutorING an.
Nach den ersten Ausführungen der Klientin konnte durch gezieltes Nachfragen herausgearbeitet werden, dass nur die Zeit für die Tutorien in ihren Arbeitsstunden abgebildet war – nicht aber die Vor- und Nachbereitung. Da sie in den Online-Konsultationsstunden weniger Inhalte im Vergleich zu einer vollständigen Präsenzveranstaltung unterbringen konnte, wurden Themen nicht besprochen, die zusätzlich über Arbeitsblätter, Downloads und Aufgaben abgedeckt werden mussten. Dies kostete zusätzliche Zeit. Niemand hatte der Klientin vorab zeigen können, wie das Lernmanagementsystem funktionierte. Auch die Teilnehmenden hatten kaum Erfahrung damit. Die Nachfragen der Studierenden zu ihren Aufgaben rührten daher, dass ihre Aufgabenstellungen Unklarheiten beinhalteten. Dies ergab die gemeinsame Analyse der mitgebrachten Beispiele. Eigene Einarbeitungszeit, zusätzliche Aufgaben und die knappe Zeitvorgabe senkten ihre Arbeitszufriedenheit.
Mit Hilfe der Tetralemma-Methodik (siehe Fritzsche, 2012) fand die Klientin für sich heraus, dass sie im Grunde ihrer Arbeit sehr gern nachging und keinesfalls etwas Anderes oder gar nichts machen wollte. „An den Nagel hängen“ kam nicht mehr in Frage. Nun ging es darum, einzelne Stellgrößen herauszufinden, die ihre Arbeitsmotivation erhöhen würden: Die verfügbare zeitliche Kapazität für die Vorbereitung ließ sich nicht ändern. Daher erfolgte eine Ressourcenaktivierung („Was funktioniert gut? Tue mehr davon.“) Die Klientin wusste, dass ihre Teilnehmenden asynchrone Angebote wie Downloads und Kurzabfragen nutzen würden. Daher entwickelte sie durch Anregung im Coaching einen kurzen Online-Fragebogen.
Was brauchen die Studierenden, um besser lernen zu können? Darin enthalten waren die folgenden Fragen mit unterschiedlichen Antwortoptionen:
Bei der Auswertung der Befragung, an der 80 Prozent der Studierenden des Tutoriums teilnahmen, stellte sich heraus, dass die Aufgabenstellungen tatsächlich als nicht verständlich bewertet wurden. Außerdem wurde die Konsultationszeit (montags, 8:30 Uhr) als ungünstig empfunden. Einige Studierende regten an, dass Video-Anleitungen (Aufzeichnung von Rechenwegen) hilfreich sein könnten, da die Tutorin gut mündlich erklären könne.
Mit diesen Anregungen sowie einigen konkreten Hinweisen zur didaktisch sinnvolleren Formulierung von Aufgabenstellungen und einem neuen wöchentlichen Termin für das Tutorium konnte die Teilnehmendenzahl um 50 Prozent gehoben werden. Erneut eingeholtes Feedback fiel wesentlich positiver aus.
In der ersten Phase des Gruppen-Coachings wurde von jeder der sieben teilnehmenden Personen ein Thema eingebracht. Alle schrieben zunächst ihr wichtigstes Thema auf eine Moderationskarte. Die Karten wurden gesammelt, gemischt und gemeinsam gelesen. Dann wurde beschlossen, dass das Thema „Frust bei den Studierenden im digitalen Semester – wie kann ich besser damit umgehen, obwohl ich selbst frustriert bin?“ am dringlichsten ist und mit Hilfe des Psychodramas behandelt werden sollte. Ein Teilnehmer stellte sich als Protagonist zur Verfügung.
Er spielte zunächst sich selbst, während er sich mit frustrierten Teilnehmenden im fingierten Online-Tutorium konfrontiert sah. Anschließend erlebte er im Perspektivwechsel die Rolle des Gegenübers und erkannte, dass gezieltere Kommunikation über und im Tutorium nötig war. Im Transfer mit der Gruppe und nach einigen Anregungen nahm er sich z.B. vor, zu erläutern, weshalb er gerade diese Software nutzte und wie sie bedient wird. Er wollte dazu ein Tutorial erstellen, um dieses auch im nächsten Semester nutzen zu können. Außerdem wollte er für mehr Transparenz einen thematischen Semesterplan bis zu den Prüfungen erstellen und diesen veröffentlichen, damit alle Teilnehmenden nur bei den Themen online sein mussten, zu denen sie auch Fragen hatten. Er hoffte, damit auch die Quote der aktiven Teilnehmenden zu erhöhen.
Die Methodik des Psychodramas erfordert ein gutes Gespür für die Gruppe, Lust am Inszenieren und viel Einfühlungsvermögen. Am Ende ist besonders der Transfer der Ergebnisse zielführend, um wieder im „wirklichen“ Leben anzukommen.
Tutorinnen und Tutoren brauchen – besonders im digitalen Semester – schnelle und unkonventionelle Unterstützung. Grundlegende Herausforderungen sind zusätzlich zu ihrer Doppelrolle, die sie auch im regulären Semesterbetrieb innehaben, besonders die technischen Herausforderungen bei ihnen und ihren Teilnehmenden sowie fehlendes didaktische Know-how für die Online-Lehre. Coaching bietet ihnen sofortige und individuelle Unterstützung im Prozess ihrer Tutorienarbeit und wirkt über das digitale Semester hinaus.