Die Wissensökonomie war eine entscheidende Phase in der Geschichte der menschlichen Zivilisation, die ihre Wurzeln in der industriellen Revolution des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts hat. Mit der Einführung von Dampfmaschinen, mechanischen Webstühlen und anderen technologischen Fortschritten wurde die Arbeitsweise grundlegend verändert. Während die Fertigkeiten und Erfahrungen der Arbeitenden früher maßgeblich für den Produktionsprozess waren, ermöglichte die Industrialisierung die Zentralisierung von Wissen und Fachkenntnissen. Damit verlagerte sich der Schwerpunkt von manuellen Fähigkeiten und physischer Arbeit hin zu intellektueller Arbeit und Wissensmanagement. (Drucker, 1969)
Auf einen Blick
Der Übergang zur Wissensökonomie setzte jedoch eine noch weitergehende Spezialisierung und einen höheren Grad an Ausbildung voraus. Coaching hat die Möglichkeit geschaffen, Individuen und Teams dabei zu unterstützen, ihr Potenzial zu maximieren und so zur Wissensbasis und Innovation der Organisation beizutragen (Whitmore, 2002). In den letzten Jahren ist jedoch eine grundlegende Verschiebung im Gange, die weit über die Wissensökonomie, in der rationale und häufig standardisierte Entscheidungsprozesse dominieren, hinausgeht. Wir stehen an der Schwelle zur Intuitionsökonomie – eine Wirtschaft, in der Information in beispielloser Geschwindigkeit und Menge verfügbar ist und Akteure oftmals von unsicheren Umfeldbedingungen bzw. unvorhergesehenen Entwicklungen sowie Veränderungen betroffen sind, sodass Intuition, emotionale Intelligenz und die Fähigkeit zur innovativen Problemlösung zu wesentlichen Erfolgsfaktoren werden.
Die Intuitionsökonomie rückt Soft Skills wie Kreativität, Empathie, Intuition und emotionale Intelligenz in den Mittelpunkt. In dieser neuen Ära wird das Vermögen, über den Tellerrand zu schauen, Muster zu erkennen und vorausschauend zu handeln, immer wichtiger. Eine Studie der Oxford University zeigt, dass Fähigkeiten, die auf menschlicher Intuition und Kreativität beruhen, für KI schwerer zu automatisieren sind und daher einen Wettbewerbsvorteil darstellen können. (Frey & Osborne, 2017)
Im Zuge dieses Wandels müssen Coaches zunehmend die Förderung von Intuition und emotionaler Intelligenz in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. In diesem Zusammenhang sind die Ideen von Eric Berne (1961) und seine transaktionsanalytischen Konzepte von besonderer Relevanz.
Eric Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse, beschäftigte sich intensiv mit dem Konzept der Intuition. Erstmalig setzte er sich in „Das Wesen der Intuition“ im Jahre 1949 damit auseinander. Er definierte Intuition als eine Fähigkeit, die es ermöglicht, verborgene Informationen und Zusammenhänge zu erfassen, ohne auf einen deduktiven oder induktiven Denkprozess zurückgreifen zu müssen. Berne postulierte, dass die Intuition eine essenzielle Fähigkeit für effektive Interaktionen und Entscheidungsfindung ist. Er entwickelte acht Interventionstechniken, die Coaches in der Begleitung von Führungspersönlichkeiten nutzen können, um die Intuition bei diesen zu stärken. (Stewart & Joines, 1987) In der sich entwickelnden Intuitionsökonomie spielt die Fähigkeit zur Intuition eine entscheidende Rolle. Unternehmen und deren Führungskräfte müssen in der Lage sein, vorausschauend zu denken, kreative und innovative Lösungen zu finden und Entscheidungen zu treffen, die über das bloße Wissen und die Erfahrung hinausgehen.
Die nachfolgend beschriebenen acht Interventionstechniken (nach Schlegel, 1993), die Berne – aufgeteilt in Interventionen (beziehen sich im Allgemeinen auf einen gezielten Eingriff, um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen) und Interpositionen (mit denen vereinfacht gesprochen Brücken zwischen einer bisherigen und einer möglichen neuen Sicht auf einen Sachverhalt gebaut werden) – vorschlug, bieten praktische Werkzeuge für Menschen in Führungsebenen in der aufkommenden Intuitionsökonomie. Jede Interventionsart hat das Potenzial, die Entwicklung der Intuition zu fördern und die Fähigkeit zu verbessern, schnelle und effektive Entscheidungen in komplexen und ungewissen Situationen zu treffen. Dies geschieht insbesondere durch die Stärkung des gegenwartsbezogenen Erwachsenen-Ich-Zustands, in dem die Akteure (im Gegensatz zum Kind- oder Eltern-Ich-Zustand) agieren können, ohne hierbei von alten Glaubenssätzen oder kindlich geprägten Emotionen getrieben zu sein.
1. Befragen/Fragestellung (Interrogation): Mit der Fragestellung wird der Raum geöffnet, in dem der Mensch sich mit seinem Bezugsrahmen darstellt und der Coach die Aufmerksamkeit auf bestimmte Zusammenhänge und/oder einen bestimmten Schwerpunkt lenkt. Beispiel: „Was ist denn mit Ihrer Führungskraft passiert? Schildern Sie doch einmal die Situation. Was wollen Sie zukünftig anders machen?“
Der Coach erfragt mögliche Situationen, Prozesse, Kontexte, Personen. Die Befragung konzentriert sich dabei auf die wesentlichen Punkte und aktiviert damit in der anderen Person die Haltung im Erwachsenen-Ich. Der Coach nutzt die Fragestellung zur Diagnose der Besetzung der Ich-Zustände der Person in Bezug auf das Thema und kann testen, welcher Ich-Zustand auf welche Frage antwortet. Die Person kann durch die Befragung erfahren, worauf der Coach achtet und wie er die Zusammenhänge aus ihren Darstellungen herstellt. Die Fragestellung konstruiert einen gemeinsamen Bezugsrahmen von Klient/in und Coach für die passende Lösungsfindung. Beispiel: „Welche Gedanken kamen Ihnen in den Sinn, während Sie sich so verhalten haben?“
2. Spezifizierung/Hervorheben (Specification): Der Coach ordnet oder kategorisiert die Darstellungen und Äußerungen der Person. Beispiel: „Weil Sie sich nicht richtig behandelt gefühlt haben, wollten Sie also nichts mehr mit der Führungskraft zu tun haben?“
Die Hervorhebung bezieht sich auf das, was die Person gerade gesagt hat. Die Spezifizierung soll in Form einer einfachen Feststellung für beide einprägsam werden. Später kann der Coach in entscheidenden Situationen darauf zurückgreifen, z.B. wenn die Person eine Re-Definition des Gesagten vornimmt. Beispiel: „Ich kann gut verstehen, warum sie sich so verhält.“ Der Coach kann die Spezifizierung auch als Vorbereitung für eine Erklärung einsetzen und nutzen.
Im Benennen, einer Variante der Spezifizierung, werden Aussagen und Handlungen der Person durch den Coach aufgenommen und gespiegelt. Er reflektiert den emotionalen Erlebnisinhalt. Beispiele: „Sie sagten gerade, Sie verdrehten die Augen, als die Führungskraft sich abwandte.“ / „Sie machten gerade diese Handbewegung.“ / „So sind Sie auch diesmal wieder in eine Verteidigungsstrategie gerutscht und haben sich selbst abgewertet.“
3. Konfrontieren/Konfrontation (Confrontation): Mit einer Konfrontation ermöglicht es der Coach der Person, einen außerhalb des Bezugsrahmens gelegenen Aspekt in das eigene Bewusstsein zu holen und damit ihren Bezugsrahmen zu erweitern. Die Konfrontation nach Berne weist auf eine Widersprüchlichkeit hin und zielt auf die getrübten Anteile des Erwachsenen-Ich-Zustands. Beispiel: „Es wirkt so, als hätten Sie die Führungskraft provozieren oder herausfordern wollen.“ Die Person wird damit aus dem Gleichgewicht gebracht und aufgeschreckt, was eine Neubewertung ermöglicht. Die Konfrontation kann unterschiedlich stattfinden:
Das zuverlässige Konfrontieren eröffnet neue Denkräume. Zudem kann es zum Finden neuer Handlungsalternativen und Lösungswege verhelfen.
4. Erklären/Erklärung (Explanation): Mit der Erklärung zeigt der Coach die Zusammenhänge auf, die er im Bezugsrahmen der Person wahrnimmt. Beispiel: „Sie sehen also, dass die Führungskraft auch nur ein Mensch mit Stärken und Schwächen ist. Sie scheint sich geärgert zu haben, dass sie sich der Zusammenarbeit verweigerten.“
Der Coach setzt die Erklärung als Werkzeug ein, wenn die Person offen dafür und im Erwachsenen-Ich-Zustand ist. Er nutzt die Erklärung, um die eigene Sichtweise und mögliche Modelle zur Lösungsfindung als Reflexionsangebote zur Verfügung zu stellen. Die Erklärung hat zum Ziel, die Haltung der Person im Erwachsenen-Ich-Zustand durch die Darstellung eines Modells zu stärken. Beispiel: „Ich möchte Ihnen gern das transaktionsanalytische Modell der Grundhaltungen vorstellen.“ Die Erklärung ist dann gut platziert, wenn sie mit zwei oder drei prägnanten Sätzen zu den wesentlichen Aspekten des Modells kommuniziert wird. Die Erklärung wirkt bei der Person nur in der Haltung des Erwachsenen-Ich-Zustands – weder im elterlichen noch im kindlichen Ich-Zustand ist die Erklärung erfolgreich. In einer „Ja, aber …“-Phase wird die Erklärung beispielsweise nicht aufgenommen.
5. Illustrieren/Veranschaulichen (Illustration): Als Illustrationen können Anekdoten, Gleichnisse oder Vergleiche fungieren, die der Coach auf eine erfolgreiche Konfrontation folgen lässt, „um diese zu verstärken und unerwünschte Nebeneffekte abzumildern“. (Berne, 2005, S. 210) Das Illustrieren sollte humorvoll oder lebendig im Vokabular sein, als würde man ein fünfjähriges Kind ansprechen. Sie ist eine Interposition, denn sie kann eine trennende Wahrnehmung vom Erwachsenen-Ich-Zustand zu den anderen Ich-Zuständen ermöglichen. Das Illustrieren spricht die Kreativität des Kindes durch das Lachen und die Freiheit von „elterlichen“ Einschränkungen an. Die Illustration stabilisiert den Erwachsenen-Ich-Zustand und erschwert das Abgleiten in die Haltungen des Eltern- oder des Kind-Ichs.
Vom zeitlichen Ablauf kann eine Illustration direkt auf eine erfolgreiche Konfrontation folgen. Ebenso kann eine entlegene Illustration mehrere Minuten oder gar ein paar Wochen nach der Konfrontation eingesetzt werden. Nach der erfolgreich gesetzten Konfrontation hat die Person Zeit, sich neu zu justieren, und die entlegene Illustration stößt die Neujustierung nochmals in die erwünschte Richtung.
Im räumlichen Aspekt differenziert Berne interne und externe Illustrationen. Die externe fokussiert auf einen Gegenstand in der Umgebung in Form einer Analogie. Die interne Illustration ist normalerweise als Vergleich in Form eines Gleichnisses zwischen zwei oder mehreren Menschen oder eines Sinn- oder Spottgedichts gedacht. Beispiel: Eine Führungskraft formuliert immer eine Wir-Aussage in Bezug auf das Team statt einer Ich-Aussage, wenn sie von sich selbst spricht. Dieses Muster wiederholt sich und im Coaching könnte die folgende Illustration – ein Ausspruch frei nach Mark Twain – genutzt werden, um dieses Muster aufzudecken: „Wir statt ich darf nur der Papst sagen – oder die Königin von England, oder jemand, der einen Bandwurm hat.“
6. Bestärken/Bestätigung (Confirmation): Die Bestärkung ist angebracht und passend, um den Erwachsenen-Ich-Zustand weiter zu kräftigen, wenn die ursprüngliche Konfrontation und die darauffolgende Illustration erfolgreich waren. Die Bestätigung kann auch als „Probe“ für eine Reaktion genutzt werden, wenn der Coach nicht ganz sicher ist, ob der erwachsene Ich-Zustand gehalten wird. Beispiel: Er könnte die Bedenken der Person hinsichtlich eines Teammitglieds eines Projekts anerkennen und dessen Sichtweise bestätigen.
7. Interpretieren/Deuten (Interpretation): Alle vorhergehenden sechs Techniken zielen auf die Enttrübung des erwachsenen Ich-Zustands ab und festigen ihn. Bei erfolgreicher Anwendung hat die Person einen starken, deutlich definierten und kompetenten Erwachsenen-Ich-Zustand entwickelt. Nun kann die Deutung durch den Coach genutzt werden, die vergangenen Erfahrungen im Kind-Ich-Zustand der Person zu „entgiften“, Verzerrungen zurechtzurücken und es der Person zu ermöglichen, diese Erfahrungen neu zu sortieren. Der ungetrübte Erwachsenen-Ich-Zustand wirkt hier als Verbündeter kleine Wunder.
8. Kristallisieren / Kristallisation (Crystallization): Die Kristallisation ist die Transaktion des Erwachsenen-Ich-Zustands des Coachs mit dem Erwachsenen-Ich-Zustand der Klientin bzw. des Klienten. In diesem Moment endet die transaktionale Analyse für das mitgebrachte Thema, ob mit oder ohne Deutung. Es geht als Transaktionsanalytiker nicht darum, die Person „besser“ zu machen, sondern die Wahl der Besserung zu ermöglichen. Es geht nicht um die „richtige“ Entscheidung aus dem angepassten Kind-Ich-Zustand der Person, sondern um die autonome Entscheidung aus dem Erwachsenen-Ich-Zustand.
In der Intuitionsökonomie werden von den Menschen in den Führungsebenen neue Kompetenzen gefordert. Sie müssen in der Lage sein, eine Kultur zu fördern, die Innovation und Kreativität schätzt, und eine Umgebung zu schaffen, in der Mitarbeitende ihre Intuition nutzen können. Gleichzeitig müssen sie selbst ihre eigene Intuition und emotionale Intelligenz stärken.
Bernes Interventionstechniken können Führungskräfte dazu befähigen, diese Kompetenzen zu entwickeln. Sie bieten praktische Werkzeuge zur Förderung von Selbstbewusstsein, emotionaler Intelligenz und kreativem Denken – Kompetenzen, die für den Erfolg in der Intuitionsökonomie entscheidend sind.
Der rasant wachsende Einfluss der Intuitionswirtschaft hat jetzt schon erhebliche Auswirkungen auf Führungsstile und -ansätze. In dieser neuen Ära sind Menschen in den Führungsebenen herausgefordert, Intuition als entscheidendes Führungsinstrument zu erkennen und einzusetzen. (Goleman, 2005) Infolgedessen sind auch Coaches gefordert, diese veränderten Bedürfnisse in ihre Praxis zu integrieren. Bei der Anwendung der Konzepte aus der Transaktionsanalyse auf diese Kontexte stellt sich dabei eine Reihe von Anforderungen:
Die Konzepte der Transaktionsanalyse bieten eine robuste Landkarte, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Sie ermöglichen es dem Coach, die zwischenmenschlichen Dynamiken auf einer tieferen Ebene zu verstehen und zu nutzen. (Stewart & Joines, 1987) Die Transaktionsanalyse unterscheidet im Strukturmodell zwischen dem Eltern-Ich, dem Erwachsenen-Ich und dem Kind-Ich. Dieses Modell kann genutzt werden, um die intuitive Kompetenz zu stärken und zu verstehen, wie sie in verschiedenen Kontexten eingesetzt werden kann. (Erskine & Moursund, 1988).
Die Festigung des gegenwartsbezogenen Erwachsenen-Ich-Zustands, kann in der Intuitionsökonomie besonders nützlich sein. Er verarbeitet Informationen in der Gegenwart, wägt im Hier und Jetzt ab und trifft Entscheidungen – basierend auf aktuellen Daten und Fakten. Im Erwachsenen-Ich-Zustand reagieren wir auf neue und unvorhersehbare Informationen nicht aus alten, von anderen übernommenen und womöglich dysfunktionalen Glaubenssätzen oder vergangenheitsbezogenen Emotionen heraus, wie dies beim Kind- bzw. Eltern-Ich der Fall ist. Durch die Arbeit an der Festigung des Erwachsenen-Ich-Zustands können Individuen somit lernen, effektiver zu kommunizieren sowie gezielt, situativ angemessen und intuitiv auf Herausforderungen und Probleme zu reagieren.
Ein guter Coach besitzt die Fähigkeit, diese unterschiedlichen Ich-Zustände zu identifizieren und zu verstehen, um die Interaktionen in Coaching-Sitzungen effektiv zu gestalten. Der Einsatz von transaktionsanalytischen Konzepten kann die Menschen in Führung darin unterstützen, ihre Intuition bewusster wahrzunehmen und zu nutzen. (Tudor & Stewart, 2014) Ein weiterer relevanter Aspekt der Transaktionsanalyse im Coaching ist die Spieltheorie. Sie hilft den Menschen in Führung zu erkennen, welche „Spiele“ sie in ihren Interaktionen mit anderen spielen und wie diese ihre Entscheidungsfindung und Intuition beeinflussen können. (Berne, 1964)