Im Folgenden wird ein Raummodell vorgestellt, das auch jenseits von Sprache Selbstorganisationsprozesse anstoßen soll. Innerhalb dieses Modells gibt es einen Wirklichkeits-, einen Möglichkeits- und einen Zielraum. Diese werden als eine von vielen möglichen Unterscheidungen im Kontext von Beratung und Coaching betrachtet. Das Raummodell soll die Komplexität systemischen Denkens und Handelns angemessen ungewöhnlich reduzieren. Voraussetzung dafür ist eine systemischkonstruktivistische Haltung, der Coach sollte sich als Prozessbegleiter verstehen und mit Ungewissheit leben können. Die Klienten entscheiden darüber, ob es für sie eine hilfreiche Unterscheidung ist und sie der Einladung folgen können.
Das Raummodell als Landkarte kann in jeder Phase des Coaching-Prozesses Anwendung finden. Als besonders hilfreich im Sinne eines Tools wird das Modell empfohlen, wenn Kunden bei der Auftragsklärung kein konkretes Anliegen formulieren können.
Das Raummodell ist sowohl für Einzelsettings als auch für Team-und Gruppensettings geeignet.
Diese Landkarte soll die Aufmerksamkeit so fokussieren, dass ein sich selbst organisierender Suchprozess einsetzt und hilfreiche innere Bilder entstehen können, die Anliegen und möglichen Lösungsideen neue Impulse geben.
Dabei können die Coaching-Klienten entscheiden, welcher der drei Räume momentan für ihre Anliegen, Themen, Aufträge und Lösungen bedeutsam sein könnte. Wenn keine konkreten Anliegen oder Lösungsideen formuliert werden können, liegt die Aufgabe des Coachs mit seinen Klienten darin, in allen drei Räumen nach möglichen Anliegen und Lösungen zu suchen.
In der Praxis wird von Beratungsräumen gesprochen, davon, den Klienten den Raum zu geben, in dem sie ihre Geschichten erzählen können. Raum ist ein Wort, das von jedem leicht mit Bildern und Bedeutungen belegt werden kann.
In diesen Beratungsraum werden die Klienten eingeladen, um in Gedanken oder physisch einen Spaziergang zu machen und dadurch Kontakt mit den Räumen des Modells aufzunehmen. Dabei wurde die Erfahrung gemacht, dass der Spaziergang bei ihnen eine veränderte Körperhaltung bewirkt und sie offener, neugieriger, konzentrierter und weniger problembehaftet erscheinen.
Dazu lautet die Standardfrage: „Nehmen wir an, in einem der Räume könnte für sie ein Anliegen oder eine Lösung liegen, für welchen Raum würden sie sich im Moment entscheiden?“ Bei Klienten, die noch kein Anliegen formulieren können, fragt der Coach entsprechend, welcher Raum für das Formulieren eines Anliegens hilfreich sein könnte.
Der Wirklichkeitsraum kann den Klienten helfen, herauszufinden, wie sie zum Zeitpunkt der Beratung ihre Wirklichkeit konstruieren und ob die damit verbundenen inneren Bilder und erzählten Geschichten hilfreich oder nicht so hilfreich für das formulierte Anliegen sind.
Dahinter steht die Annahme, dass schon das Erzählen und das Neuformulieren einer Geschichte die Perspektive verändern kann. Hier geht es nicht um eine Veränderung in der Zukunft, sondern um das Neubewerten der inneren Bilder und Geschichten aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft.
Wenn sich die Klienten nach der Standardfrage für den Möglichkeitsraum entscheiden, kann der Coach sie anregen, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, kreativ und spielerisch zu sein, quer zu denken, nach Ausnahmen und Wundern Ausschau zu halten. In dem Konzept der Lösungsfokussierung wird die Suche nach Optionen über die Auftragsklärung „Unser gemeinsames Ziel ist“ gelenkt.
Dabei wird davon ausgegangen, dass Möglichkeiten nicht unbedingt mit Zielideen verknüpft sein müssen. Dem Raum wird vorübergehend eine Autonomie gegeben, da die Erfahrung gemacht wurde, dass das offene Suchen nach Optionen unabhängig von Zielformulierungen hilfreich ist. In einem späteren Schritt können einige dieser Optionen für die Formulierung von Zielideen verwandt werden.
Wenn sich die Klienten nach der Standardfrage für den Zielraum entscheiden, unterstützen die Coaches sie dabei, sich auf Visionen und Zielideen in der Zukunft auszurichten. Der Zielraum wird zum Attraktor für Zukünftiges. Die Coaches tragen im Prozess dazu bei, dass sich Gründe in der Zukunft herausbilden, die es den Klienten erleichtern, ihre Aufmerksamkeit auf Ziele zu richten und Entscheidungen zu treffen, die für sie passen und die sie in der Folge in konkrete Handlungen umwandeln können.
Um Transparenz herzustellen, stellen die Coaches den Klienten zu Beginn eines Coaching-Prozesses das Raummodell vor. Wenn Klienten sich entscheiden, mit dem Raummodell zu arbeiten, bleibt es ihnen offen überlassen, welcher „Raum oben auf “ liegt oder gewählt wird.
Die Klienten werden vom Coach eingeladen, einen Spaziergang in Gedanken zu machen und zu entscheiden, welcher Raum für sie hilfreich sein könnte, Anliegen zu formulieren und mögliche Lösungen zu finden. Unterstützend kann mithilfe einer kleinen Trance-Induktion der Spaziergang eingeleitet werden.
Die Klienten markieren entsprechend ihres inneren Bildes die drei Räume durch Seile oder Moderationskarten im Beratungsraum. Anschließend betreten sie nacheinander in freier Reihenfolge die Räume.
Unterschiedliche Zimmer werden als Räume genutzt. Die Klienten treffen die Entscheidung, welcher Raum Wirklichkeits-, Möglichkeits- und Zielraum ist. Danach spazieren die Klienten durch die Räume.
Alle Varianten haben das Ziel, die Klienten anzuregen, ihre Aufmerksamkeit nach innen zu fokussieren und Kontakt mit den Räumen aufzunehmen. Gemeinsam versuchen Coaches und Klienten herauszufinden, welcher der drei Räume für Anliegen und Lösungsideen momentan bedeutsam sein könnte. Dann wird der gewählte Raum zusammen betreten. Dort werden Informationen und Erleben zur Orientierung gebündelt.
Das geschieht in Co-Kreation mit den Klienten. Die Coaches unterstützen die Klienten darin, für sie relevante Fragen für diesen Raum zu entwerfen oder mögliche Themen zu nennen. Dazu wird entweder ein systemisches Interview geführt, während sich die Person im gewählten Raum befindet oder die Klienten formulieren eigene Fragen, schreiben diese auf Moderationskarten und legen sie in den Raum.
Gleiches geschieht mit möglichen Themen. Dadurch wird der Raum „möbliert“ und sinnlich erfahrbar. Beim „gedanklichen“ Spaziergang können ebenfalls Moderationskarten geschrieben werden, mit denen weitergearbeitet wird.
Zwei Beispiele aus der Praxis verdeutlichen die Vorgehensweise.
Während eines Coachings thematisierte eine Klientin ihre Unzufriedenheit am Arbeitsplatz. Sie brachte deutlich zum Ausdruck, dass sie sich nicht mehr an der Kultur des Jammerns, die sich in der Einrichtung etabliert hatte, beteiligen und ihre Energie dafür verschwenden wollte, um Veränderung zu kämpfen. Ihr wurde das Raummodell vorgestellt.
Sie entschied sich spontan für den Zielraum, um sich ihre persönlichen Ziele außerhalb des Arbeitskontexts anzuschauen. Sie setzte sich mit ihrem Stuhl ans Fenster, um einen Blick nach draußen zu haben. Der Zielraum lag außerhalb des Beratungsraums, die Landschaft wurde zum Zielraum. Im systemischen Interview fragten die Coaches sie zunächst nach ihrer Befindlichkeit zu diesem Raum. Sie wirkte wie befreit, hatte eine offene Körperhaltung, strahlte über das ganze Gesicht.
Auf die weiteren Fragen hin begann sie kreativ Ideen zu entwickeln, was in diesem Zielraum alles liegen könnte. Sie begann ein zuversichtliches, hoffnungsvolles Bild bezüglich ihrer Zukunft zu entwickeln.
In einem späteren Coaching berichtete sie, dass die „Leichtigkeit“, die sie im Zielraum gedanklich erlebt hatte, es ihr ermöglichte, wieder mit mehr Freude und weniger Leidensdruck ar beiten zu können. Das innere Bild über den Zielraum hatte auch als Nachwirkung, dass sie ihre Risikobereitschaft erhöhte, sich mit Selbstständigkeit zu befassen und als zweites Standbein zu verwirklichen.
Das zweite Beispiel bezieht sich auf eine Anfrage zur Teamentwicklung. Im Zuge einer Umstrukturierung wurden fünf Beratungszentren auf zwei reduziert. In einem dieser Beratungszentren wurden Mitarbeiter aus fünf Zentren zu einem neuen Team zusammengefasst.
In der ersten Sitzung stellten die Coaches den Mitarbeitern das Raummodell vor. Auf die Frage, welcher Raum für sie zur Teamentwicklung hilfreich sein könnte, entschieden sich die Mitarbeiter einstimmig für den Wirklichkeitsraum. Durch Abzählen wurde das Team in vier Untergruppen aufgeteilt und diese dann gebeten, auf Moderationskarten Fragen zu entwickeln, die sie relevant für den Wirklichkeitsraum hielten.
Als nächster Schritt wurden diese Fragen im Gesamtteam veröffentlicht. Es zeigten sich folgende Tendenzen: Wir wissen nichts übereinander. Wir bringen unterschiedliche Stile mit, welche Regeln haben wir, was ist erlaubt, was nicht. Wie geht es uns mit der Zwangsumsetzung. Welche Kultur wollen wir miteinander entwickeln? Anschließend wurden die Fragen in einer Prioritätenliste gewichtet, um die Komplexität wieder zu reduzieren.
Die drei wichtigsten Fragen wurden nun auf drei neue Untergruppen verteilt. Jede Untergruppe bekam eine Frage. Die Aufgabe der Gruppen bestand darin, einen nächsten Schritt im Umgang mit dieser Frage zu entwickeln. Diese Vorschläge wurden wieder im Team veröffentlicht. Daraus entwickelte sich eine Vereinbarung, Raum und Zeit für Kommunikation zu schaffen, da den Teammitgliedern im Wirklichkeitsraum auffiel, dass sie bisher weder Zeit noch Raum für Austausch hatten.
In diesem Beispiel wird deutlich, dass es nicht um Zielvereinbarungen geht. Die Teammitglieder äußerten klar, dass sie sich zuerst über ihre Wirklichkeiten austauschen müssen, bevor sie in den Möglichkeits- oder Zielraum gehen können. Es ging um die Beschreibung des Status quo und das Mitteilen der subjektiv erlebten Wirklichkeit.
In der Arbeit mit unseren Klienten geht es um Wertschätzung für die bisherigen Lösungen. Auch Problemtrancen kann man als Lösung schätzen: Das ist das, was bisher möglich war. Zielorientierung kann ein wichtiger, muss nicht der einzige Fokus sein. Ähnlich wie in der hypnosystemischen Arbeit regen wir unsere Klienten an, sich auf den für sie passenden Weg zu zentrieren: Das Gehen ist der Weg.
n unserem Verständnis bedeutet Lösung nicht unbedingt, dass die Klienten ein Ziel erreichen müssen. Radikaler ausgedrückt: Wir können hilfreich sein, ohne ein Ziel mit den Klienten vereinbart zu haben. Innerhalb eines Raums kann sich das Anliegen durch die entstehenden Informationen verändern.
Wenn man sich zu schnell auf ein Anliegen einlässt und daraus die Zielformulierung erarbeitet, kann der Prozess eingeschränkt werden, da die Aufmerksamkeitsfokussierung über Anliegen und Ziel gelenkt wird und somit das, was noch relevant sein könnte, übersehen werden kann.
Für Coaches bietet das Raummodell eine Folie für Improvisation in der Arbeit mit den Coaching-Kunden. Sie sind herzlich eingeladen, damit zu experimentieren.
15 bis 60 Minuten; Moderationskarten, Seile.