Wir erleben derzeit Krisen und Umbrüche, wie es sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben hat. Immer mehr Menschen sehen sich existenziell schwierigen Situationen ausgesetzt, in diversen Lebensbereichen müssen Lösungen gefunden und neue Wege gegangen werden. Da Probleme in ihrer Komplexität häufig schwer überschaubar sind, wächst der Bedarf nach verlässlichen Entscheidungshilfen. Dies stellt auch das Coaching vor erweiterte Herausforderungen: Während über lange Zeit oftmals Erfolgsorientierung und Selbstoptimierung im Fokus standen, könnte zunehmend die Frage nach dem Sinn in den Mittelpunkt rücken, denn Sinn bietet eine tiefgründige sowie erfüllende Orientierungshilfe und erleichtert auf diese Weise manche unangenehme Entscheidung. Darüber hinaus zeigen wissenschaftliche Erkenntnisse – etwa Schnell & Krampe (2020), im Arbeitskontext Höge & Schnell (2012) –, dass ein sinnorientiertes Leben die Zufriedenheit und die Resilienz der Menschen stärkt.
Auf einen Blick
Unser Menschenverständnis wird bis heute wesentlich von einer Psychologie geprägt, wie sie besonders Sigmund Freud vertreten hat: Sie basiert auf einem rein physikalisch-materialistischen Weltbild, das den Menschen auf seine Biologie reduziert und ihn so einer stetigen Triebabfuhr und Bedürfnisbefriedigung unterwirft. Die Frage nach Sinn kam darin nicht vor, im Gegenteil, Freud definierte sie als geradezu pathologisch (Frankl, 2015).
Dem hielt der Wiener Neurologe und Psychiater Viktor Frankl ein anderes Menschenbild entgegen: Frankl verstand den Menschen als ein geistiges Wesen (das der Mensch ist), das über seine Triebe, genetischen Veranlagungen und Konditionierungen (das von ihm so genannte „Psychophysikum“, das der Mensch hat) hinausreicht. Diese geistige Dimension ist es, die zwischen möglichen Handlungsoptionen entscheidet – sogar darüber, inwieweit sich ein Mensch seinen biologischen und psychologischen Bedingungen unterwirft. Insofern führt seine Entscheidungsfreiheit den Menschen – im Gegensatz zum Getriebensein der Psychoanalyse – von passiver Hinnahme zu souveräner Gestaltungsfähigkeit. Hierfür wiederum bedarf es einer Grundlage, auf der entschieden werden kann.
Diese Grundlage sah Frankl im Sinn eines jeweiligen Handelns. Er ging davon aus, dass das menschliche Dasein grundsätzlich von einem Sinn durchdrungen ist, der sich innerhalb einer jeweiligen Situation als eine darin immanente – wie Frankl (1995) sagt – verwirklichungswürdige Möglichkeit erschließt. Indem Sinnorientierung den Menschen aus rein selbstbezogener Motivation löst und ihn auf übergeordnete Anliegen ausrichtet, erlebt er Erfüllung im doppelten Wortsinn: Er erfüllt einerseits eine Anforderung, die über ihn selbst hinausgeht, indem sie das Wohl aller Beteiligten im Blick hat. Da er – gefordert, aber nicht überfordert – sich seinen Potenzialen entsprechend einbringen kann, fühlt er sich andererseits persönlich erfüllt.
Es geht also nicht darum, einen Sinn zu kreieren, sondern es sei Gabe und Aufgabe eines jeden Menschen, diesen Sinn zu erfassen und umzusetzen. Das wiederum stellt uns vor eine sehr spezifische Herausforderung: Wodurch gelangen wir zu dem „Wissen“, was in einer jeweiligen Situation sinnvoll bzw. verwirklichungswürdig ist? Was sind die Aspekte, die einigermaßen sicherstellen, dass unser „Sinn“ nicht nur einer Laune folgt, sondern dem Wesentlichen der Gesamtsituation gerecht wird?
In der Frage nach dem Wesentlichen liegt bereits eine Antwort, nämlich das „Wesen“: Nur aus unserem persönlichen Wesenskern (der „geistigen Person“ nach Frankl) heraus können wir dieses Wesentliche erfassen und entsprechend handeln. D.h., auch bei einer übergeordneten und allgemeingültigen Ethik muss jedes Tun mit unseren Potenzialen, Begrenzungen und Bedürfnissen einhergehen. Daraus folgt: Nachhaltig sinnvolles Handeln muss „echt“, muss authentisch sein.
Dementsprechend ist bewusste Sinnfindung ein höchst individueller Prozess und eine anspruchsvolle Aufgabe. Damit schlägt sich der Bogen von der Sinnorientierung zum Tiefgangprinzip (Ahrendt & Keding, 2022). Sein Ansatz erleichtert es, Menschen bei ihrer individuellen Sinnfindung systematisch und zielführend zu begleiten. Ausgangspunkt dieses Prinzips war die Erkenntnis aus Supervisionen, dass sich Situationen, die im Rahmen von professionellen Begleitungen nicht gut gelaufen waren, durchweg an vier Stellen festmachen ließen:
Entsprechend konzentriert sich das Tiefgangprinzip auf vier allgemeinmenschliche Fähigkeiten, die für eine sinnorientierte Lebensgestaltung entscheidend sind: Denken, Fühlen, Kommunikation und Veränderungsbereitschaft.
Das Tiefgangprinzip fokussiert dabei auf jeweils einen Ansatzpunkt innerhalb jeder dieser komplexen Fähigkeiten: Beim Denken sind es die Überzeugungen, beim Fühlen ist es die Differenzierung unterschiedlicher Gefühlsebenen, in der Kommunikation die Resonanzfähigkeit, bei der Veränderungsbereitschaft der Abgleich mit dem inneren Einverständnis (siehe Abb.). Diese „Schaltstellen“ sind maßgeblich für die Interaktionen der vier Fähigkeiten und folglich für deren Auswirkung auf unser konkretes Handeln. Sie zu berücksichtigen, macht die komplexen Verflechtungen und Prozesse von Entscheidungsfindung leichter zu überschauen, praktisch gut handhabbar und damit effizient.
Im Zentrum des Denkens steht im Tiefgangprinzip eine bestimmte Denkkultur, die vor allem die menschliche Fähigkeit des „Geist-Denkens“ betont. Dieser Begriff, der sich großenteils mit dem der Metakognition deckt, korreliert gut mit der „geistigen Person“ Frankls, denn er ermöglicht es dem Menschen, sich sowohl zu eigenen Gedanken wie auch zu Gefühlen zu distanzieren. Geist-Denken als übergeordnete Denkkategorie ist in der Lage, eingefahrene Denkmuster zu erkennen und zu hinterfragen, die Relevanz von (automatisierten) Gedanken einzuordnen, festgefahrene Gedankenschleifen zu Ende zu denken – und vor allem Überzeugungen zu prüfen und zu korrigieren.
Da die Prüfung von Überzeugungen eine unverzichtbare Voraussetzung für authentische Entscheidungen ist, wird sie zur Schaltstelle innerhalb der Denkkultur: Überzeugungen sind eine Grundlage menschlichen Handelns, weil sie ganz selbstverständlich für wahr gehalten werden. Sie sind zumeist tief verinnerlicht, sodass sie weitgehend unbewusst unser Verhalten bestimmen. Problematisch ist dabei, dass Überzeugungen aber keineswegs identisch sind mit der Wahrheit. In dieser tückischen Trias von Für-wahr-Halten, praktischer Handlungsgrundlage und un(ter)bewusstem Wirken können sie dann das Leben von Menschen in Richtungen lenken, die weit entfernt sind von Authentizität und wesensgemäßer Sinnfindung. Selbstbewusstheit und Sinnerkenntnis werden erst möglich, indem Überzeugungen bewusstgemacht und ggf. revidiert werden.
Doch geschieht das Erkennen von Sinn nicht ausschließlich denkend: Laut Frankl teilt sich das menschliche „Sinn-Organ“, das er im Gewissen des Menschen verortet, zumindest gleichrangig gefühlt mit. Frankl (2015) spricht in diesem Zusammenhang davon, den Sinn aufzuspüren. Da das Gewissen allerdings oft nur als moralischer Zeigefinger (und damit als von außen verordnet) verstanden wird, spricht das Tiefgangprinzip hier stattdessen von der „Seelenstimme“.
Unabhängig von der Wahl des Begriffes stellt diese innerste Entscheidungsinstanz den Menschen vor eine manchmal knifflige Herausforderung: Sofern der wahre Wesenskern einer Person bzw. ihr Gewissen gefühlt wahrgenommen wird, geschieht dies innerhalb einer fast unüberschaubaren Gefühlswelt, in der sich vieles vermischt und überlagert. Da eine Fülle vielschichtiger Gefühle das menschliche Leben begleitet und beeinflusst, ist durchaus nicht immer ersichtlich, inwieweit Gefühle unserer inneren Wahrnehmung entspringen oder eher Ausdruck von Emotionen und Befindlichkeiten sind.
Nur indem verschiedene Gefühlsebenen in ihrer Charakteristik verstanden werden, kann ein verlässlicher Weg zur innersten Weisungsinstanz, dem Gewissen, gebahnt werden. Diese Art der Differenzierung wird deshalb im Tiefgangprinzip zur entscheidenden Schaltstelle für den Umgang mit der bunten Vielfalt menschlicher Gefühle:
1. „Gefühlte Physiologie“: Körperliche Bedürfnisse wie Hunger, Schmerz, Müdigkeit teilen sich gefühlt mit. Soweit körperliche Wahrnehmungen primär physiologischen Vorgängen zugeordnet werden können, spielen sie im Coaching keine Rolle.
2. Affekte/Emotionen: Affekte stehen den physiologischen Gefühlen noch sehr nahe, da sie mit intensiven physiologischen Reaktionen einhergehen (z.B. Schweißausbrüche bei Angstempfinden). Diese evolutionären Überlebensmechanismen lösen über gefühlte Steuerung eine schnelle, möglicherweise lebensrettende Reaktion aus, sind jedoch als finale Entscheidungsgrundlage, die einen bewussten Prozess voraussetzt, ungeeignet. Ähnliches gilt für Emotionen, die das Tiefgangprinzip aufgrund ihrer Intensität derselben Ebene zuordnet: Wut, Hass, Panik, Ärger – aber auch die positiv gefühlte Euphorie – sind ebenfalls untauglich für Entscheidungen. Erst nach Abklingen des Affektes bzw. der Emotion können deren dahinterliegende Ursachen geklärt werden, um den Weg zu den tieferen Gefühlsebenen und deren Weisungsinstanzen frei zu machen. Affekte und Emotionen sind daher für die Reflexion nicht irrelevant, sie selbst sollten jedoch nicht die Entscheidungsgrundlage an sich darstellen.
3. Stimmung/Befinden: Die Gefühle dieser Ebene sind deutlich ruhiger als Affekte/Emotionen. Sie umfassen eine unerschöpfliche Vielfalt psychischer Ausdrucksformen wie Freude und Kummer, Scham, Reue und Zufriedenheit, Dankbarkeit oder Verlegenheit. Im Unterschied zu Affekten/Emotionen drängen sie sich nicht auf, sondern breiten sich eher allmählich im Menschen aus. Solange Stimmungen und Befinden das Tagesgeschehen flüchtig begleiten, sind sie im sinnorientierten Coaching nach dem Tiefgangprinzip nicht wegweisend. Sobald eine solche Verfassung jedoch anhaltend dominiert (wie z.B. Unzufriedenheit), kann sie zum Ausgangspunkt für eine tiefere Selbsterforschung werden, die durch entsprechende Anleitung zur besseren Wahrnehmung der Seelenstimme führt.
4. Empfindungen: Während die drei bisher genannten Ebenen jeweils die psychische Verarbeitung diverser Einflüsse ausdrücken, übermittelt die Seelenstimme jeweils eine subtile Empfindung bzw. einen Eindruck, den es in Orientierung an Frankl „aufzuspüren“ gilt. Da ein solcher Eindruck eher fein ist und außerdem fast immer über die eigene Person hinaus andere Menschen einbezieht, muss er sorgsam auf „Echtheit“ geprüft werden (was für die anderen Gefühlsebenen absurd wäre). D.h., sie muss so gut wie möglich von überlagernden intensiveren Gefühlen unterschieden werden, die sonst allzu leicht als „Bauchgefühle“ interpretiert werden. Insofern wird die Seelenstimme erst wahrnehmbar, sobald die intensiveren Gefühle, insbesondere Affekte und Emotionen, zur Ruhe kommen.
Auch die Seelenstimme hat ihre typische Charakteristik, die eine Zuordnung erleichtert: Während man Emotionen schüren und auch Stimmungen und Befinden u.a. gedanklich begünstigen kann, ist die „Empfänglichkeit“ der Seelenstimme nicht willentlich verfügbar, sondern taucht unvermutet auf. Dabei bedient sie sich zweier Ausdrucksformen, die im Rahmen des Tiefgangprinzips als „Dialekte“ bezeichnet werden: Sie teilt sich entweder als ein intuitiver, anfangs unerklärlicher Impuls zu einer Handlung mit, der sich im Nachhinein als erstaunlich schlüssig erweist. Oder sie äußert sich in einem Gespür, das auf eine weiter zu erkundende Fährte führt: Meist beginnt es mit einer leisen Ahnung, die sich im Verlauf einer Klärung (z.B. einer Unstimmigkeit) verdichtet, konkretisiert oder auflöst. Dieses Gespür ist nicht nur eine wesentliche Leitinstanz, um in einer jeweiligen Situation eine sinnvolle – verwirklichungswürdige – Möglichkeit aufzuspüren, sondern generell ein verlässlicher Lebenswegweiser. Ganz besonders aber erweist das Gespür seinen Wert bei der Begleitung anderer Menschen, indem es sie unterstützt – z.B. durch Resonanz innerhalb von Gesprächen –, auch sich selbst leichter auf die Spur zu kommen.
Das Gespür schlägt einen Bogen zum dritten „Partner“ im Tiefgangprinzip: zur Resonanzfähigkeit innerhalb der Kommunikation. Da Kommunikation das ohnehin vertraute Werkzeug jeder beratenden Tätigkeit ist, sollen hier nur kurz die wesentlichen Aspekte zu deren Schaltstelle, der Resonanzfähigkeit, hervorgehoben werden: Um ein Gegenüber im Gespräch zu erfassen und darin zu unterstützen, seine eigene Seelenstimme wahrzunehmen bzw. ihr zu vertrauen, muss nicht nur gedanklich auf sein Anliegen eingegangen, sondern durch Resonanz vor allem ein – aufspürender – Weg zu dieser inneren Leitinstanz gebahnt werden. Sie kann durch vielerlei Gesprächstools gefördert werden: allem voran durch aktives Zuhören mit offenen Fragen, darüber hinaus aber auch durch Spiegelungen, mentale Bilder, Geschichten, Beispiele und manches mehr. Unabhängig von den eingesetzten Instrumenten zeichnet sich resonanzfähige Begleitung idealerweise durch ein stetiges Wechselspiel aus, das das Tiefgangprinzip bildhaft als „Zurechtruckeln“ bezeichnet: Zuhören, gemeinsames Nachdenken und Nachspüren – und erst nach ausreichendem Wirkenlassen das Einbringen von Impulsen von Seiten des Coachs.
Sinnorientierung erfordert, sich auf eine jeweilige Gegebenheit sowie die daran Beteiligten einzustellen und das Wesentliche der Gesamtsituation zu erfassen. Die damit verbundene Einsicht macht häufig Entscheidungen notwendig, die den ursprünglichen Wünschen oder bisherigen Sichtweisen zuwiderlaufen, und setzt somit die Bereitschaft zu Veränderungen voraus. Diese bei Klientinnen und Klienten zu wecken und zu stärken, ist Aufgabe im Coaching. Deren Erfolg hängt – insbesondere bei dauerhaften Verhaltensänderungen – u.a. von der passenden „Schrittlänge“ ab: Der Schritt muss groß genug sein, um Erfolg erlebbar zu machen, und klein genug, um bewältigt werden zu können („fordern, ohne zu überfordern“). Eine solche ideale Schrittlänge ergibt sich im Tiefgangprinzip durch einen feinfühligen Abgleich zwischen Bereitschaft und Einverständnis – worin sich eine weitere Entsprechung zu Frankls Menschenbild wiederfindet: Die Bereitschaft zu einem Veränderungsschritt geht von der geistigen Person aus, während das Einverständnis völlig konform ist mit den augenblicklichen Stimmungen und Wünschen eines Menschen, also seinem Psychophysikum. Letzteres muss berücksichtigt und „mitgenommen“ werden, darf die Entscheidung aber nicht beherrschen. Dieser Prozess wird erleichtert, indem nicht ein Immer-und-Überall angestrebt wird, sondern die Konzentration auf möglichst einfach zu handhabenden Aspekten liegt: (1) auf einem Bereich, in dem Veränderung besonders relevant ist, (2) auf einer einzelnen, aber wesentlichen Handlungsweise und dies (3) zunächst für einen vorab definierten „Probezeitraum“.
Für viele Menschen dürfte angesichts diverser Krisen neben der Notwendigkeit von Akutstrategien die Frage nach grundsätzlichen Entscheidungsmaßstäben an Bedeutung gewinnen. Eine Orientierung am Sinn einer Handlungsoption gibt dazu konkrete Anhaltspunkte und verleiht dem Einzelnen dadurch aktive Gestaltungsfähigkeit. Diese wiederum wirkt dann nachhaltig, wenn sie einerseits dem übergeordneten Ganzen, andererseits zugleich dem Wesen einer Person gerecht wird.
Ein Instrument zum Erkennen eines verwirklichungswürdigen Weges gibt das Tiefgangprinzip an die Hand. Indem es insbesondere die entscheidungsrelevanten Fähigkeiten des Menschen klar definiert, lassen sich Klientinnen und Klienten zu individuell stimmigen Entscheidungen leiten. So lässt es sich im Coaching praktizieren, kann aber darüber hinaus den Klientinnen und Klienten für die eigene Anwendung vermittelt werden.