Mit unserem Beitrag zum praktischen Umgang von Coaches mit einem potenziellen Therapiebedarf ihrer Klienten (Coaching-Magazin 1/2016) haben wir gegenüber dem bislang weitgehend theoretisch und normativ geführten Diskurs einen deutlichen Unterschied markiert:
Wir haben empirische Daten präsentiert und diskutiert. Dies hat gezeigt, dass es eben nicht reicht, sich Dinge zu wünschen und auszumalen, sondern dass sich solche Dinge empirisch betrachtet oft anders als postuliert darstellen.
Wir haben für unsere Erkenntnisse keine absolute Geltung beansprucht, aber wir haben Handlungsbedarf festgestellt und deshalb politische Forderungen aufgestellt.
Unser aufrichtiger Wunsch war und ist, einen Dialog mit allen Beteiligten zu führen, um die Situation professionell zu verbessern.
Wir waren uns bewusst, dass wir ein sensibles Thema angesprochen haben. Durch die Reaktion in Form von Leserbriefen fühlen wir uns in dieser Einschätzung bestätigt.
Die Rückmeldungen haben uns zugleich nachdenklich gemacht, denn wir registrieren darin potenziell die Tendenz, das Thema nicht „bei den Hörnern zu packen“, sondern eher zu verdrängen. Das aber wäre fahrlässig.
Kollegin Meier erklärt sich bereit, die juristischen Aspekte der Situation einer Prüfung zu unterziehen. Inhaltlich widerspricht sie uns aber nicht! Wir müssen uns fragen, wieso beschäftigt sie sich nicht mit unseren Forderungen? Wieso arbeitet sie sich an Zusammenhängen ab, die wir gar nicht hergestellt haben? So haben wir beispielsweise nicht behauptet, der ICD besäße gesetzlichen Stellenwert. Aber worauf wird sich der von einem Richter beauftragte Gutachter ggf. in der Praxis berufen? Natürlich auf den ICD – wie man sich sonst auf Industrienormen (DIN/EN/ISO) bezieht, die auch keine direkte Gesetzeskraft haben, aber indirekt entfalten.
In ihrem Beitrag „Ist Coaching Therapie? Eine Abgrenzung zu Heilpraxis und Psychotherapie anhand der gängigen Rechtslage“ (Coaching-Magazin 2/2015) schreibt Meier: „Ohne eine Zulassung als psychologischer Psychotherapeut oder als Heilpraktiker ist es verboten, Dienstleistungen durchzuführen, die die Diagnose und Behandlung beispielsweise folgender Krankheiten bzw. Krankheitsbilder beinhalten: Phobien, Depressionen […]. Im Umkehrschluss ist es erlaubt, wenn man eine Beratung, ein Training oder ein Coaching u.a. zu den folgenden Beschwerden bzw. Themen anbietet: Lernschwäche, Schlafstörung […]“ (Hervorhebung durch uns). Soll man das folgendermaßen verstehen: Mache, was Du willst, frage lieber nicht so genau nach und nenne es bloß nicht Behandlung einer Depression – nenne es „besser“ Beratung bei Schlafstörung?
Wir fänden eine solche Argumentation spitzfindig und scheinheilig. Dies erscheint uns vergleichbar mit der Ausführung von Dr. Schwertl, der argumentiert: Wir machen Business-Coaching, wir behandeln nicht. – Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, fragen wir uns?
Es freut uns, dass sich beide Kollegen aktiv mit der Thematik auseinandersetzen. Aber ist dies auch bei all den anderen der Fall, die als Coaches unterwegs sind? Vielleicht wollen diese gar nicht so genau wissen, ob und wo da eventuell eine Grenze bestehen könnte? Wir erinnern an ein Teilnehmer-Zitat aus unserer Studie: „Burnout, das ist doch unser täglich‘ Brot“. Schützt (cleveres) Nichtwissen vor Strafe? Oder das Abstreiten?
Wäre es letztlich in den meisten Fällen die Nichtbeweisbarkeit dessen, was im Coaching stattfindet, die den Coach im Klagefall vor Strafverfolgung schützt wie ein Blankoscheck? Uns beschleichen hier Bauchschmerzen. Wir meinen, dass die Profession der Coaches es sich nicht erlauben kann und darf, die von uns aufgeworfene Frage auf die leichte Schulter zu nehmen.
Meier, ihres Zeichens Juristin, aber nicht Psychologin, postuliert leichtfüßig ein diagnostisches Kriterium, wenn sie vorschlägt, psychische Krankheiten allein durch die Selbstmanagementfähigkeiten eines Klienten erkennen zu wollen. Dieses Kriterium allein ist als hochgradig unzureichend abzulehnen: Es wäre beispielsweise vermessen, einem depressiven Manager die Fähigkeit zur Selbstorganisation abzusprechen. Auch Amokläufer planen ihre Taten oft minutiös und müssen sich selbst organisieren.
Psychologen wie wir könnten hingegen eine fundierte Diagnose stellen, da wir über das relevante Fachwissen verfügen. Richtig ist, dass (auch) wir es ohne staatliche Zulassung nicht dürfen (Behandlungsstatt Heilerlaubnis, Dr. Schwertl liegt mit dieser Differenzierung zweifelsohne richtig). In der Praxis sind Psychologen so befähigt, einen (sub-)klinischen Fall zu erkennen und die Coaching-Anfrage an den klinischen Kollegen zu verweisen. Den psychologischen Laien unter den in unserer Studie befragten Coaches gelang das nicht. Ein Coach – so unsere Überzeugung – sollte über eine psychologisch fundierte innere Ampel verfügen, um ggf. „zurückrudern“ zu können.
Besagte (von Dr. Schwertl angesprochene) Ampel liegt übrigens längst vor und findet sich auch im Coaching-Kompendium des DBVC: das Funktionspendel (Wolff, 2012). Es ist ein Modell, das analog einer Verkehrsampel den Handlungsspielraum des Coachs beschreibt. Im grünen Bereich geht es um die Potenzialaktivierung. Um gemeinsames Reflektieren, um Stimulieren, Simulieren, Motivieren. Es schließt sich ein gelber Bereich an, der dem Coach signalisiert: Achtung, hier verlässt du die gemeinsame Basis. Kurzfristig kann man ein Agieren dort rechtfertigen. Es findet aber ein Rollenwechsel statt und dieser ist grundsätzlich erklärungsbedürftig und auf Basis eines Coaching-Kontrakts genehmigungspflichtig.
Tabuisiert ist jedoch der chronische Wechsel in die Rolle des Psychotherapeuten oder die des Schattenmanagers (roter Bereich). Die gemeinsame Augenhöhe würde damit verlassen, Selbsthilfe durch Fremdhilfe ersetzt, es droht bei Chronifizierung ein „ungesundes“ Abhängigkeitsverhältnis, eventuell sogar Manipulation.
Diese Perspektive geht über den Aspekt der Selbststeuerungsfähigkeit deutlich hinaus. Sie ist eine ethisch reflektierte Rollenklärung und eine aktive Positionierung der Kundschaft gegenüber aus der Autonomie des Coachs heraus – also nicht bloß reaktiv der Heteronomie des Gesetzes geschuldet. Damit sie in der Praxis gangbar und belastbar ist, muss sie selbst erarbeitet und ständig überprüft werden – erstmals in der Coaching-Weiterbildung und anschließend kontinuierlich in der kollegialen Supervision.
Daher ist es unserer Meinung nach nicht nur wünschenswert, sondern politisch zu fordern, dass ein Modul zu psychischen Störungen Teil einer regulären Coach-Weiterbildung wird. Solche Vorsorge dürfte das Image der Zunft verbessern helfen und – wie schon die Compliance-Diskussion zeigte – im Klagefall dem Coach zugutegehalten werden.
Meier argumentiert vorwiegend in juristischen Kategorien. Wir hingegen argumentieren inhaltlich psychologisch. So scheinen wir tendenziell aneinander vorbeizureden. Das wäre kontraproduktiv. Es geht uns um die gemeinsame Sache. Dafür wäre es hilfreich, ein gemeinsames Zielverständnis (bzgl. Klienten, Coaches, Gesellschaft) zu entwickeln. Das wünschen wir uns für die Zukunft!