Öffentliche und soziale Unternehmen stehen schon seit einiger Zeit vor vielfältigen Herausforderungen. Zu nennen sind beispielsweise die Forderung nach Digitalisierung, die Verstärkung der Kundenorientierung, die zunehmende Ökonomisierung, der demografische Wandel, der Anspruch auf Geschlechtergerechtigkeit oder der Fachkräftemangel. Wie in fast allen gesellschaftlichen Bereichen wurden diese Herausforderungen und die Rufe nach Wandel in den Unternehmen durch die Coronapandemie nochmals erheblich verstärkt.
Ganz deutlich wurde in der Pandemie aber auch, wie systemrelevant gerade öffentliche und soziale Unternehmen für unsere Gesellschaft sind. Daher war es der richtige Zeitpunkt, dass der neugegründete Fachausschuss für Coaching in öffentlichen und sozialen Unternehmen (ÖSU) des Deutschen Bundesverbands Coaching e.V. (DBVC) am 18.06.2021 ein digitales Dialogcamp zu der Frage veranstaltete, welchen Beitrag Coaching bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zu leisten vermag.
Anliegen des Fachausschusses ist es, die Spezifika von Coaching im Bereich öffentlicher und sozialer Unternehmen herauszuarbeiten. Daran anknüpfend sollen die vorhandenen Kompetenzen sowie Konzepte im DBVC gebündelt, ausdifferenziert und weiterentwickelt werden. Der Fachausschuss ÖSU ist dabei auf Organisationen fokussiert, die eine gemeinwohl- bzw. werteorientierte Zwecksetzung aufweisen und nicht vorrangig auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind. Diese werden nach folgenden Definitionen kategorisiert: Nach Lange (2013) müssen öffentliche Unternehmen „in einem Rechtsstaat immer einem öffentlichen Zweck dienen: Entweder – wie die öffentliche Verwaltung – direkt durch Erfüllung der von ihrem Träger vorgegebenen Aufgaben (z. B. Entwicklungshilfe, sozialer Wohnungsbau) oder indirekt, als Instrument öffentlicher Mittelbeschaffung, durch ihr erfolgreiches Agieren im Markt und die Ablieferung der Überschüsse an den Träger“.
Um Sozialunternehmen zu charakterisieren, orientiert sich der Fachausschuss an einer Definition der Europäischen Kommission (2011). Demnach handelt es sich um „Unternehmen,
Der Fachausschuss hat für sich eine Vier-Säulen-Differenzierung gewählt:
Die Systemrelevanz öffentlicher und sozialer Unternehmen steht außer Frage. Aber auch die Anzahl der Beschäftigten in diesen Bereichen unterstreicht deren gesellschaftliche Bedeutung. Im öffentlichen Dienst sind knapp fünf Millionen Menschen beschäftigt (Statista, 2019). Allein in Einrichtungen und Diensten der Wohlfahrtsverbände sind rund 1,9 Millionen Menschen hauptamtlich tätig (ebd.). Schätzungsweise drei Millionen Menschen leisten ehrenamtliche Hilfe in Initiativen, Hilfswerken und Selbsthilfegruppen (BAGFW, 2021). Circa Zwölf Prozent aller in Deutschland Beschäftigten arbeiten im Gesundheitswesen, 800.000 an Hochschulen (Statista, 2020).
Auf dem digitalen Dialogcamp wurde Coaching in öffentlichen und sozialen Unternehmen aus drei Perspektiven betrachtet:
In diversen Workshops diskutierten Personal- sowie Leitungsverantwortliche sozialer und öffentlicher Unternehmen mit den Coaches über die genannten Themenschwerpunkte. Dabei wurden die Aspekte für öffentliche und soziale Unternehmen übergreifend thematisiert und die Auswirkungen für einzelne Branchen erörtert.
Nachfolgend werden spezifische Aspekte aufgeführt, die von den Teilnehmern und den Unternehmensvertretern für öffentliche und soziale Unternehmen für relevant gehalten wurden. Generelle Aufgaben, die für jedes Coaching gelten – wie Teamentwicklung, Führungskräfte-Coaching und das Arbeiten in verschiedenen Settings – wurden vorausgesetzt.
Im Fokus des Workshops zum demografischen Wandel standen exemplarisch die Herausforderungen der (Alters-)Diversität, die Beratungsansätze für Führungskräfte und Teams sowie der Beitrag, den Coaching leisten kann. Zu den Herausforderungen zählen u.a. die unterschiedlichen Werte, Ideale und Erwartungen verschiedener Generationen in Teams und die Auswirkungen von spezifischen strukturellen Phänomenen wie dem hohen Teilzeitanteil oder dem hohen Anteil von befristeten Arbeitsverhältnissen im öffentlichen Dienst. Hier wurde deutlich, dass Fragen zum Umgang mit Vielfalt und Werten nicht nur einzelne Personen, sondern die ganze Organisation betreffen. Insofern kann Coaching ein Weg sein, Menschen in Dialog zu bringen, die Stärken der Einzelnen in der Diversität herauszuarbeiten wie auch die Teams und Führungskräfte in der persönlichen und professionellen Entwicklung zu begleiten.
Das Thema Diversität spielt auch insofern eine Rolle, als dass Menschen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst unterrepräsentiert sind: Während ihr Anteil in der deutschen Erwerbsbevölkerung 25 Prozent beträgt, sind es im öffentlichen Dienst lediglich 9 Prozent (Friedrich-Ebert-Stiftung, 2019). Hier wird Potenzial verschenkt, dem demografischen Wandel zu begegnen.
Als weiteres übergreifendes Thema wurde die Digitalisierung erörtert. Vor allem während der Coronapandemie sind die Schwächen des öffentlichen Sektors bei der Digitalisierung deutlich geworden. Trotz dieser Schwierigkeit befindet sich die öffentliche Hand, aufgrund der Verpflichtung des Onlinezugangsgesetzes, das vorsieht, Verwaltungsleistungen bis 2022 auch elektronisch anzubieten, in einem großen Transformationsprozess.
„Alles ändert sich!“ Diese Feststellung war der Ausgangspunkt des Workshops: Strukturen, Prozesse, Leistungen sowie Selbstverständnis von Führung. Führungskräfte in der Verwaltung, die sich häufig über ihre Fachlichkeit definieren und in den letzten Jahren ohnehin aufgrund der Ökonomisierung der öffentlichen Hand vor große Herausforderungen gestellt wurden, stehen nun vor der Aufgabe, Digitalkompetenzen zu erwerben. Es besteht die Gefahr der Überforderung: Führungskräfte, die selbst unsicher sind, sollten nun ihre Teams – die vielfach ein hohes Sicherheitsbedürfnis haben – durch die Unsicherheit führen. Eine Riesenherausforderung!
Im Workshop wurde Coaching daher als ein Baustein eines strategischen Transformationsprogramms zur Entwicklung von Führungskräften, Teams und Organisationen im digitalen Wandel gesehen. Vor allem könnten im Coaching dialogische Kompetenzen weiterentwickelt werden, um zur psychologischen Sicherheit der Teams im Wandel beizutragen. Auch die Weiterentwicklung des Selbstbilds von Führungskräften in der digitalen Transformation könnte einen Schwerpunkt im Coaching bilden. Coaches sollten hier die Rahmenbedingungen der Verwaltung gut kennen, um wirksam agieren zu können.
Zitate wie „Universitäten unterliegen massiven Wandlungsprozessen. Die ehrwürdige Alma mater hat ebenso wie andere Organisationen des öffentlichen Sektors mit knappen Ressourcen bei gleichzeitiger Steigerung der Studierendenzahlen zu kämpfen“ (Lohmer & Möller, 2014, S. 92) oder auch: „Mit der fortschreitenden Reformierung des öffentlichen Sektors und mit der Einführung von Managementpraktiken, die aus gewinnorientierten Unternehmen stammen, verschwimmen die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen […] zunehmend“ (Cornforth, 2003, S. 25) zeigen auf, dass auch bei den Hochschulen massive Transformationsprozesse vonstattengehen.
In dem Workshop zu Coaching-Formaten an Hochschulen diskutierte der Fachausschuss ÖSU diese Themen mit Gästen der Technischen Universität München und der Universität Paderborn. Im Fokus standen die Anforderungen an die Institutsleitungen, die Spannung zwischen Forschung und Lehre, Führung und Forschung, die Probleme von Nachwuchswissenschaftlern und neuberufenen Professoren. Auch die Vereinsamung von Studierenden sowie Schwierigkeiten der Lehre in der Coronapandemie wurden ausführlich diskutiert.
Je nach Zielgruppe wurde ein spezifischer Coaching-Bedarf identifiziert: Lehrstuhlinhaber und Professoren benötigen häufig Unterstützung bei der Mitarbeiterführung sowie bei Change-Prozessen. Hier sind Feldkompetenz und Erfahrung im Hochschulbereich nötig. Bei Studierenden geht es eher um die Begleitung bei Lernschwierigkeiten und Prüfungsangst. Hier ist Coaching zur Stärkung der Selbstführungskompetenzen gefragt.
Das Gesundheitswesen ist in Deutschland ein Wirtschaftsfaktor und Markt mit einer großen Bedeutung und vielen Beschäftigten. Die zahlreichen komplexen Herausforderungen, vor denen das Gesundheitswesen in Deutschland steht, diskutierte der Fachausschuss ÖSU auf dem Dialogcamp mit dem Personalleiter eines großen kommunalen Klinikums in Bayern. Von diesem wurden folgende Belastungen benannt:
Im stationären Sektor herrschen unterschiedliche Interessen der verschiedenen Berufsgruppen. Hier gelten deutliche, zum Teil historisch bedingte Unterschiede bei den beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten, der Vergütung und der berufsständischen Organisation. Dies zeigt sich am deutlichsten bei den Pflegekräften, der wohl am meisten belasteten Berufsgruppe mit der geringsten Bezahlung und dem niedrigsten sozialen Status bei gleichzeitig hoher Kompetenz sowie Qualifikation.
Für Coaches ergeben sich trotz der Themenvielfalt spezifische Aufgaben: von der Kommunikation zwischen den Berufsgruppen, Teambildung, Führungskompetenz, Organisationsfragen bis hin zur interdisziplinären Zusammenarbeit – auch in der obersten Führungsebene –, um nur einige zu nennen. Zu den berufsspezifischen Anforderungen sollten Coaches mit den zugrundeliegenden Wertesystemen der Professionen, den übergeordneten Arbeitsstrukturen sowie den sozioökonomischen Hintergründen der Klienten vertraut sein.
Keil (2007, S. 126) stellt fest, „dass Schulleitung heute weniger die Verwaltung vorhandener und vom Staat verteilter Ressourcen bedeutet, sondern zunehmend von den Beteiligten auch betriebswirtschaftliches Denken und Handeln fordert“. Schulleiter, so Keil (ebd.) weiter, seien gefordert, sich in einem Spannungsfeld zwischen der Akquise finanzieller Mittel, des pädagogischen Auftrags und der Zunahme an Eigenverantwortlichkeit neu zu orientieren. Bei dieser Aussage verwundert es nicht, dass sich die Angebote der Schulberatung für Supervision, kollegiale Fallberatung und individuelle Beratung seit 2007 verzehnfacht haben, wie die Leiterin einer Schulberatungsstelle im Workshop berichtete. Diese und andere Themen wurden vom Fachausschuss ÖSU mit der Leiterin diskutiert.
Insbesondere wurde die gängige Praxis angemerkt, in der zwischen Coaching für Führungskräfte und Supervision für Lehrer, Eltern oder Schüler unterschieden wird. Außerdem wurde ein Unterstützungsbedarf während der Lehramtsausbildung sowie Referendarzeit festgestellt, um z.B. die Auseinandersetzung mit der neuen Rolle zu vertiefen.
Von Coaches wird bei der Arbeit mit Führungskräften und Schulleitungen Kontexterfahrung gefordert. Hierzu gehören u.a. Kenntnisse über den schulrechtlichen Rahmen, die Schulträger und professionelle Erfahrungen im Kontext Schule. Externe Coaches können, wie die Diskussion zeigte, bei Fragen von Führung, Leadership und Rollenreflexion besonders hilfreich sein. Der finanzielle Spielraum ist, wie so oft, abhängig von der Trägerschaft. Die Schulwesen der meisten Bundesländer bauen eigene Pools interner Coaches und Supervisoren auf. Externe Coaches werden eher für hochrangige Führungskräfte angefragt oder in Fällen beauftragt, in denen Klienten internen Coaches gegenüber befangen sind.
Zwei der Workshops auf dem Dialogcamp beschäftigten sich mit sozialen Einrichtungen im Rahmen der Wohlfahrtspflege. Zwei geladene Gäste vertraten den Caritasverband, dem mit 25.064 Einrichtungen und Diensten größten Verband der Wohlfahrtspflege in Deutschland. Insgesamt arbeiten bei der Caritas 693.082 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (81,9 Prozent davon Frauen) in der Gesundheitshilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Familienhilfe, Altenhilfe, Psychiatrie sowie Behindertenhilfe (Caritas, 2020).
Die Gäste beschrieben den zunehmenden wirtschaftlichen Druck durch die Kürzung öffentlicher Gelder in den letzten Jahren. Auch wenn Fachlichkeit sowie Werte der Unternehmen und Einrichtungen nach wie vor im Vordergrund stehen, müssen sie sich jedoch zunehmend mit wirtschaftlichen Fragen auseinandersetzen. In den sozialen Einrichtungen erleben die Mitarbeiter den zunehmenden ökonomischen Druck oft als Bedrohung von außen, vor dem sie sich selbst und ihre Klienten schützen müssen. Mangelnde Digitalisierung sowie Fragen der weltanschaulichen Orientierung bringen zusätzliche Belastungen mit sich.
Bei Personalfragen beschäftigen die sozialen Unternehmen der Fachkräftemangel, nachlassende Bindung an eine Organisation, veränderte Auffassungen zur Balance von Beruf und Privatleben, veränderte Leistungsbereitschaft sowie der Generationenwechsel. Diverse Teams und daraus resultierende Herausforderungen sind in vielen Organisationen die Folge. Konflikte sind unausweichlich und werden häufig nicht mehr ausgetragen. Der Arbeitsmarkt im sozialen Bereich wird befeuert durch den Fachkräftemangel: Jobwechsel sind einfach, sodass die Bindung an eine Organisation in den letzten Jahren spürbar nachgelassen hat.
Coaches sollten im sozialen Sektor das vielfältige Angebot der Träger im Allgemeinen und der großen Wohlfahrtsverbände mit ihren regionalen Spezifika kennen und differenzieren können. Dazu sollten Kenntnisse über die Trägerstruktur und die dezentrale Organisation in Kreis- und Bezirksverbänden vorhanden sein.
Die besonderen Herausforderungen der kirchlichen Einrichtungen diskutierte der Fachausschuss ÖSU mit einer Referentin für Personalentwicklung einer evangelischen Landeskirche. Auch hier stellt der zunehmende Personalmangel ein zentrales Problem dar. Pfarrpersonen betreuen mitunter bis zu 20 Kirchengemeinden. Dazu kommt die Angewiesenheit auf eine große Zahl von Ehrenamtlichen. In der evangelische Landeskirche sind, so die geladene Referentin, 40.000 ehrenamtliche Mitarbeiter tätig (bei 943 hauptamtlichen Pfarrern). Ressourcenverknappung zwingt zu großen organisatorischen Veränderungen, die die Begleitung der Handelnden durch Coaching sinnvoll erscheinen lassen: Fusionen, Schaffung von neuen Erprobungsräumen oder Neuorganisation ganzer Arbeitsfelder.
Einen großen Raum in der Diskussion nahm die Frage des Berufsbilds der Pfarrpersonen sowie die Koordination einer dezentralen Organisation ein. Übergreifende Themen wie die nachlassende Resonanz der Kirche in der Gesellschaft, das Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit sowie Herausforderungen der Seelsorge vor dem Hintergrund des aktuellen Geschehens standen ebenfalls im Fokus. Für Coaches und ihre Klienten ergeben sich somit Reflexionsfelder, die für die Kirchen von besonderer Bedeutung sind.
Mitbringen sollten Coaches Kompetenz in der Führungskräfteentwicklung, betriebswirtschaftliche sowie systemische Kompetenz, Krisenfestigkeit und eine Haltung, die Krisen als Chance begreift. Dabei braucht es zum einen die Fähigkeit der Coaches, „maximale Distanz“ zu den Logiken des kirchlichen Systems zu halten. Andererseits sind ein „maximales Verständnis“ für das kirchliche Arbeitsumfeld wünschenswert, damit sich in einem geschützten Raum Vertrauen und Vertraulichkeit entwickeln können.
Das Dialogcamp hat überdeutlich gezeigt, welche Entwicklungsaufgaben für öffentliche und soziale Unternehmen in den nächsten Jahren zu bewältigen sind. Folgende Themen wurden dazu in den abschließenden Dialogrunden benannt:
Ein gezieltes Coaching-Angebot, das den vielfältigen Herausforderungen der Akteure gerecht wird, wird daher immer relevanter. Noch werden häufig die Kosten für Coaching-Maßnahmen gescheut. Allerdings wiesen Teilnehmende darauf hin, dass dagegen die Folgekosten von Demotivation durch mangelhafte Personalführung gerechnet werden müssen. Der DBVC und der neue Fachausschuss ÖSU haben es sich zur Aufgabe gemacht, in diesem Feld weiter aufzuklären und auf die Funktion sowie den Nutzen von Coaching in diesem Bereich hinzuweisen.