Die Coaching-Beziehung ist die Basis für das Gelingen des Coaching. Sie ist aber auch die Basis für Verstrickung und Irrtum. Denn im Hintergrund wirkt das Gewohnheitswissen (s. Kasten), das in seinem Bezug zur ursprünglichen Lebenswelt gebunden bleibt und erst dann offensichtlich wird, wenn es in den Vordergrund gerät. Es äußert sich (ungefragt) in Emotionen und Handlungen, in (Körper-) Sprache, in Alltagstheorien und Überzeugungen.
Das komplette und komplexe Gewohnheitswissen ist in jeder Situation vorhanden. Es schafft Verbindung im Hintergrund einer Lebens-/Arbeitswelt. Gewohnheitswissen ist Wissen um bewährte und quasi endgültige Lösungen. Diese Lösungen stehen den Angehörigen einer Lebens-/Arbeitswelt zur Verfügung. Sie sind dann präsent, wenn sie gebraucht werden. Sie stellen sich praktisch automatisch ein und kombinieren sich wie von selbst mit den Handlungen, die im Vordergrund sind. Das besagt der Lebensweltbegriff nach Schütz & Luckmann (2003), auf den ich mich beziehe.
Was im Hintergrund wirkt, ist den Angehörigen anderer Arbeits- und Lebenswelten nicht unbedingt bekannt. Im Coaching begegnen sich daher wechselseitig zunächst unbekannte „Welten“: die des Coachs und die des Klienten. Der Coach muss sowohl mit der Komplexität, die seine Klienten im Hintergrund mitbringen, umgehen, als auch mit seinem eigenen Hintergrund, aus dem heraus er auf seine Klienten reagiert. Das erfordert Verständnisarbeit. Diese kann gelingen oder misslingen.
Wenn also sowohl das Offensichtliche als auch die lebensweltlichen Bezüge von Coach und Klient den sehr komplexen Bezugsrahmen im Coaching-Prozess bilden, sitzen sich nicht bloß Individuen gegenüber: Vielmehr agiert der Coach im Rahmen sämtlicher Bezugswelten der (mindestens beiden) Beteiligten. Diese sind keineswegs klar erkennbar für ihn. Denn sie führen solange ein Schattendasein, bis sie ans Licht geholt werden – oder von selbst aufscheinen.
Die Coaching-Beziehung ist folglich so komplex wie das Gewohnheitswissen der Beteiligten. Sie bildet einen eigenen Bezugsrahmen. Er soll umfassen, was für den verabredeten Prozess relevant ist – und zugleich Neues zur Verfügung stellen. Das bedeutet, dass dieser Bezugsrahmen auch seine eigene Erweiterung zum Ziel hat. Denn es geht um neues Verhalten für neue Ziele und neues Denken – um bisher Ungekanntes. Vereinfacht gesagt: Der Bezugsrahmen ist der Ort der Veränderung, wie Ulrich Dehner (2008) richtig darstellt. Dies stimmt allerdings nicht nur für die Klienten, sondern ebenso für den Coach. Darum geht es mir hier: Jeder neue Klient bedeutet für uns Coachs eine neue Herausforderung zur eigenen Veränderung. Übertrieben? Keineswegs. Ein Beispiel.
Vor einigen Jahren arbeitete ich mit M., einer Führungskraft der oberen Ebene des mittleren Managements eines international tätigen Unternehmens, an seiner freudlosen Leistungsbereitschaft. Seine Gesundheit litt seit Jahren. Eines Tages sprachen wir über seinen „Einsatz“ im Privatleben. Es stellte sich heraus, dass M. sich zwar für andere enorm einsetzte, sich mit seinen Wünschen ans Leben aber in den Ruhestand „vertagte“. Von mir auf die Vernachlässigung seiner Person – wie ich es damals sah – hingewiesen, wechselte er in Small Talk.
In der nächsten Sitzung war er sehr zurückhaltend. Auf meine Frage, was diese Zurückhaltung bedeute, antwortete er mit dem Vorwurf, ich hätte ihn vollkommen missverstanden und ihn zudem herabgewürdigt. Ich bat ihn, mir zu erklären, was ich hätte besser verstehen sollen. Ich erfuhr, dass er seine Wünsche beschützen wollte, indem er sie in sein Alter vertagte. Er fürchtete, dass sie sonst dem Leistungsdruck unterliegen und ihren Glanz verlieren könnten. Diese Art der Fürsorge hatte ich nicht verstanden. Im Gegenteil hatte ich ihm unterstellt, dass er sich nicht kümmerte. Ich empfand Scham über mein Urteilen und bat ihn um Verzeihung. Daraufhin blinzelte mein Klient und drückte Tränen weg. Dann bedankte er sich. Er hätte noch nie erlebt, dass jemand einen solchen Fehler zugegeben hätte, sagte er.
Als er sich in der Folge seiner eigenen Scham für Fehler stellte, konnte er im Anschluss seine Probleme lösen. Seine Wünsche mussten nicht mehr auf den Ruhestand warten. Er setzte sie um. Und siehe da, auch die Arbeit machte ihm wieder Freude.
Meine Perspektive auf M. im Umgang mit seinen Wünschen war aus dessen Sicht fehlerhaft. Aus meiner Sicht war sie „normal“; eine Sichtweise innerhalb meines psychologischen Bezugsrahmens eben. Die Lösung ergab sich jedoch weder aus seiner noch aus meiner Sicht. Sie folgte aus der Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Perspektive. Das Neue ergab sich im gegenseitigen Verständnis. Ich verstand nun: Der Schutz der Wünsche, damit sie ihren Glanz behielten, hatte Vorrang vor der Verwirklichung der Wünsche. M. verstand und erlebte, dass er auch und gerade in der Verwirklichung für das „Glänzen“ seiner Wünsche sorgen konnte. Durch die Verbindung beider Handlungen – Schutz und Verwirklichung – gelang es M., seine privaten Wünsche umzusetzen und seinen Arbeitseinsatz zu entkrampfen.
Dieses Beispiel zeigt, wie sich das komplexe Gewohnheitswissen ungefragt einmischt. Ich spreche absichtlich nicht von Gegenübertragung. Denn es handelt sich nicht um den Hinweis auf eine Störung. Im Gegenteil: Ich sehe solche scheiternden Interaktionen als Aufforderung zur Erweiterung des eigenen Bezugsrahmens als Coach. Im Beispiel: anzuerkennen, dass Wünsche beschützt werden müssen. Darüber hinaus weisen sie auf eine Lösungssuche beim Klienten hin. Denn ein für die Lösung noch fehlender Teil tritt aus dem Hintergrund ins Offensichtliche. In meinem Beispiel in Form einer Kränkung des Klienten und als Kritik und Scham bei der Coach.
Wie lässt sich nun die Verstrickung des Coachs im Deutungsangebot erkennen? Im genannten Beispiel machte der Klient seine Coach aufmerksam auf ihr – seiner Meinung nach – falsches Urteil. Wir können eher nicht davon ausgehen, dass unsere Klienten unsere Ansicht, die wir aus unserem Hintergrundwissen ableiten, übernehmen. Daher sind wir Coachs als Professionelle gefragt, uns selbst für die Hintergrundprozesse im Coaching zu sensibilisieren; sodass wir Verstrickungen frühzeitig erkennen. Vermeiden können wir sie nicht. Das wäre zudem der falsche Weg: Denn Verstrickung ist Teil jeder Beziehung. Sie ist eine Art „Wegweiser“, der sich durch Verständigung „lesen“ lässt. Perfektionismus und digitale Lösungen stünde dem Prozess der Verständigung im Wege.
Neugier weist auf das noch nicht bekannte Neue hin. Alles wissen und alles schon kennen, kann im Coaching schnell in die Sackgasse führen. Um Neues zu entdecken, um sich einzulassen auf das (vermeintlich) Fremde, vielleicht sogar Ängstigende, braucht es neben der Eigenschaft, neugierig zu sein, die Fähigkeit zu gleichschwebender Aufmerksamkeit, Selbsterfahrung und Reflexion.
Grundlegend für Erkenntnis ist die Wahrnehmung. Durch Fokussierung kommt es zu selektiver Wahrnehmung. Ereignisse werden betrachtet, Fakten und Erklärungen gesucht. Das Denken ist mit dem eigenen Gedächtnis, dem eigenen Wissen verwoben. Doch wer seinen Voreingenommenheiten folgt, läuft Gefahr, „niemals etwas anderes zu finden, als man schon weiß“, war bereits Siegmund Freud überzeugt.
Über das Eintauchen in gleichschwebende Aufmerksamkeit entwickelt sich eine Dezentrierung; Prozesse im Hintergrund werden bewusst. Das geht mit Entspannung einher: Die Muskeln lockern sich, das Denken verlangsamt sich, Gedanken werden flüchtig, die Atemfrequenz sinkt. In diesem Prozess können Gefühle, Bilder oder Körpersensationen auftauchen, die im angespannten, hektischen Alltagsgeschäft keinen Platz fanden. Gleichschwebende Aufmerksamkeit widerspricht dem Zeitgeist. Sie verlangt einen angemessenen Zeit-Raum; Zeitdruck zerstört sie.
Geeignete Methoden, gleichschwebende Aufmerksamkeit zu entwicklen, gibt es mehrere. Hier kann jede ihren oder jeder seinen eigenen Weg finden (s. Kasten). Solche Techniken begünstigen eine ganzheitliche, leibgebundene Wahrnehmung und sind geeignet, ein „Abdriften“ in nur eine Perspektive (wie beispielsweise nur zu denken oder nur zu fühlen) zu verhindern. Innere Haltungen, die ich als gegeben hinnehme – und über die ich normalerweise nicht nachdenke, gelangen ins Bewusstsein. Scheuklappen können abgelegt werden.
Um zu unterscheiden zwischen meinem eigenen Gewohnheitswissen und dem des Klienten, brauche ich als Coach auch Erfahrung mit mir selbst im Kontakt mit anderen: Selbsterfahrung. In vielen Coaching-Ausbildungen nimmt sie bereits einen Teil des Trainings ein. Auch ein Lehr-Coaching unterstützt den (angehenden) Coach, sich selbst zu erfahren. Selbsterfahrung hört aber nicht auf, wenn die Weiterbildung endet! Im Coaching werden wir mit immer neuen Herausforderungen an unser (Gewohnheits-) Wissen konfrontiert.
Zudem hat jeder Coach seine eigenen blinden Flecken, deren Ausmaß sich oft erst im Laufe eines Coach-Lebens ermessen lassen. Bei mir war solches das psychische Trauma, das mich immer wieder aufs Neue und in neuer Weise ins Fehlbare führte. Vor Jahren begleitete ich eine Mitarbeiterin im öffentlichen Dienst, die durch eine Messerattacke im Dienst lebensgefährlich verletzt wurde. Ich folgte nicht meinem ersten Impuls, sie zu unterstützten, schnellstmöglich wieder zur Arbeit zu gehen. Wie die anderen Berater der Berufsgenossenschaft und Opferhilfe ließ ich mich von meinem Mitleid leiten, packte sie „in Watte“ und konfrontierte sie allenfalls „daunenweich“. Als sie nach einem Jahr wieder arbeiten ging, wurde sie gemobbt. Ihr wurde vorgeworfen, sie wäre selbst schuld gewesen; sie hätte die Attacke vorhersehen müssen. Sie verbitterte und ließ sich schließlich versetzen.
Mitleid ist die natürliche Reaktion auf Trauma-Opfer. Weil Mitleid in solchen Fällen meist mit Hilflosigkeit und Verzweiflung einhergeht, ist es schwer auszuhalten und verleitet zu vorschnellen Handlungen in Form unreflektierten und ungefragten Helfens. Doch damit lässt sich im Grunde nur die eigene verzweifelte Hilflosigkeit angesichts des Unfassbaren abschwächen.
Meinen zentralen blinden Fleck, den angemessenen Umgang mit dem Psychotrauma, habe ich inzwischen umfassend ergründet. Doch kann ich mich darauf verlassen, ihn ausgeleuchtet zu haben? Was geschieht, wenn ich neuem, bisher unbekannten und erschreckenden, Unfassbaren begegne? Mich immer wieder damit auseinanderzusetzen, dazu zwingen mich nicht nur meine Klienten. Es ist zudem eine Frage meiner eigenen Glaubwürdigkeit als Coach – und auch meiner Neugier. Daher stelle ich mir von Zeit zu Zeit selbst Fragen (s. Kasten). Antworte ich mit „nein“ oder „eventuell“, forsche ich weiter, in Form von Selbsterfahrung.
Sie ist die dritte wichtige Ebene, um (die Gefahr von) Verstrickung zu erkennen. Das übliche Setting dafür ist die (kollegiale) Supervision. Hier werden Dilemmata von den Kollegen aus deren Perspektiven konfrontiert. In gemeinsamer Reflexion werden Lösungen erarbeitet.
Der Anfang jeder Reflexion einer Coaching-Sitzung ist für mich die differenzierende Verschriftlichung. In diesen Protokollen differenziere ich zwischen meiner sinnlichen Wahrnehmung (hören, sehen und so weiter), meinen Gefühlen und Körpersensationen sowie meinen Fantasien und Ad-hoc-Reflexionen oder auch nachträglichen Gedanken. Mein Erleben aus diesen verschiedenen Perspektiven – wahrnehmen, was geschieht und gesagt wird, mein eigenes Unbehagen oder Behagen spüren, mir bei Bedarf meine unreflektierte Reaktion (beispielsweise ein spontaner Helferimpuls) eingestehen – zu betrachten, unterstützt die professionelle Haltung durch Perspektivenwechsel, Distanzierung und reflektiertem Mitleid (s. Kasten).
Reflexion in-praxi umfasst die Reflexion der Wahrnehmung direkt im Coaching-Prozess. Vor der Sitzung nehme ich meine Stimmung, Emotionen, Themen und Gedanken wahr und ordne sie zu. Bei der Begegnung mit der Klientin nehme ich dann wahr, was sich wie verändert und reflektiere das – oft ein erster Hinweis auf Relevantes. Im weiteren Prozess lehne ich mich innerlich immer wieder zurück, reflektiere, was geschieht, und wähle aus, worauf ich eingehe, worüber ich mit dem Klienten gemeinsam nachdenken will. Leiten lasse ich mich von meiner Neugier. Tritt beispielsweise „Leistung wollen“ auf, ist das ein Hinweis auf … Vermeidung? Angst? Machtkampf? Oder etwas anderes?
Coaching will eine etablierte und anerkannte Profession werden, mit einem rechtlich gesicherten Berufsbild. Narzisstische Konkurrenz- und Versagensängste können auf unserem Weg dahin die Lebendigkeit des Coaching, die Vielfalt der Ansätze und die Neugier auf Neues und die Lust am Coachen verdrängen. Ich plädiere dafür, dass wir uns in den Ausbildungen, den Supervisionen, auf den Kongressen und in unseren Arbeitsgruppen mit Neugier und Leidenschaft dem Reichtum und der Vielfalt unserer Coaching-Aufgaben widmen – sowie unserer Fehlbarkeit.
Denn: Menschen können irren. Und Coachs auch, weil sie eben auch Menschen sind – und keine Halbgötter, Supermänner oder -frauen. Auch wenn Klienten mit Fremdhilfewunsch das gelegentlich gerne so hätten. Oder Coachs angesichts der Versuchung, sich für bewunderungswürdig zu halten, gelegentlich schwach werden können. Aber unsere Fehlbarkeit ist nicht nur Fakt. Sie ist mitnichten ein Makel, sondern unsere kostbarste Ressource.