Warum es auch in Zukunft professionelles Coaching und Coaching-Weiterbildungen geben wird. Eine Reflexion aus der Sicht des psychodynamischen Coachings
Das Ranking der wertvollsten Marken der Welt wird 2014 von Google, Apple, IBM und Microsoft angeführt (Statistika, 2014). Unter den 20 führenden Unternehmen sind mit McDonalds, Coca-Cola und Marlboro nur drei Unternehmen vertreten, deren Geschäftsmodell nicht primär auf IT- und internetbasierten Technologien aufbaut. Der technische Fortschritt geht immer weiter, die virtuelle Welt erfasst alle Märkte. In dieser Welt, die auf immer neuem Wissen aufbaut, wird altes Wissen scheinbar weniger gebraucht, oder sogar als hinderlich empfunden. Klare Strukturen und planvolles Vorgehen sind nicht länger gefragt.
Interviewaussagen von Managern aus diesen Märkten belegen dies eindrucksvoll: "We do everything on the fly ... I’m not comfortable with the lack of structure, but I hesitate to mess with what is working", beschreibt ein Manager sein Arbeitsumfeld (Eisenhardt & Martin, 2000, 1114). Noch deutlicher drückt es eine andere Führungskraft aus: "We have the best research process in the industry, but we don’t know why." (ebd.).
Auch die Strukturen der Organisationen im Profit-Bereich sind den aus der Organisationslehre bekannten Idealtypen häufig nicht länger zuzuordnen. Die Grenzen der Firmen verschieben sich und manchmal kann man gar nicht mehr sagen, wo das eine Unternehmen anfängt und das andere aufhört. In den meisten Branchen haben wir es mit informellen Zusammenschlüssen von Unternehmen zu tun, die gemeinsam an dem Wertschöpfungsprozess beteiligt sind. Die Fähigkeit, Partnerschaften zu anderen Unternehmen einzugehen, aufrechtzuerhalten und für das eigene Unternehmen vorteilhaft zu nutzen, wird zu einer der wichtigsten Kompetenzen von Unternehmen. Dieses "Next Generation Business" betrifft auch und gerade den Mittelstand.
In Folge wachsen Komplexität und Vernetzungsbedarfe im Arbeitsalltag. Und es entstehen erhöhte Anforderung an Mobilität und Flexibilität, Anforderungen, die einen ebenfalls erhöhten Beratungsbedarf nach sich ziehen. Hierzu ein kritischer Kommentar aus dem Jahr 2000 (Geissler, 2000):
Beratung wird in solchen Situationen, in denen "Sinn und Unsinn innig geknetet beieinander" liegen (Heinrich von Kleist), zum schnell verfügbaren Medium des verlorenen Sinns. Beratung ist ein Konzept das immer wieder neuen Sinn zugänglich macht, insbesondere in der heutigen, von Mobilität und Schnelllebigkeit geprägten Welt. So wird Beratenwerden das beliebteste Medium, um "Erlösung" wahrscheinlicher zu machen.
Die Komplexität der Aufgaben und die Anforderungen an Mobilität und Flexibilität sind heute, im Jahr 2015, noch weiter gewachsen, und "Sinn und Unsinn des eigenen Tuns" sind tatsächlich so innig miteinander verknotet, dass es schwer fällt, sie voneinander zu trennen.
Bei all dieser Undurchsichtigkeit sind Führungskräfte als eigenverantwortliche, selbstgesteuerte Individuen permanent gefordert. Sie müssen allzeit bereit und fähig zu selbständigen Entscheidungen sein, mit der dazugehörenden emotionalen Kompetenz und Risikofreudigkeit. Dabei wird es immer schwerer, sich zurecht zu finden, weil das Wegbrechen der äußeren Strukturen, und die Veränderungen der Unternehmenskulturen häufig nicht zu den inneren Strukturen der beteiligten Menschen passen will. Stärken und Schwächen der Person wirken sich stärker aus als früher, als ein exaktes Erfüllen von Erwartungen gefordert war.
Die "Psychodynamik", d.h. die innerseelische Bewegung, spielt sich bei uns allen zwischen zwei gleichzeitig wirksamen, aber widersprüchlichen Strebungen ab. Da sind einmal die "älteren" Kräfte in uns, die der "Anpassung" an Traditionen und Regeln und Normen gehorchen wollen, und dies auch von anderen erwarten. Diese älteren Kräfte sind über Generationen anerzogen, weitergegeben, bestärkt und belohnt worden. Was wir manchmal vielleicht nicht wahrhaben wollen: Sie achten tief in jeder Person darauf, dass diese sich nicht zu weit von übernommenen und überkommenen Traditionen entfernen. Sollte es doch passieren, erfasst sie ein Unbehagen, welches sich als Zurückschrecken vor Neuem äußern kann.
Auf der anderen Seite stehen die "jüngeren" Kräfte, die sich emanzipieren, und nach Werten wie Selbststeuerung und Selbstverantwortung leben wollen (West-Leuer & Sies, 2003).
Diese inneren Konflikte, gepaart mit äußeren Umbrüchen, führen zu einem wachsenden Beratungsbedarf, wenn Führungskräfte "Sinn und Unsinn des eigenen Tuns" nicht länger voneinander zu trennen wissen. Dies merken die Entscheidungsträger. Und sie merken, dass traditionelle Schulungen und Trainings an ihren Grenzen stoßen. Deshalb werden sie immer mehr - statt weniger - Coachings nachfragen. Gleichzeitig werden die Anfragen kleinteiliger, firmenspezifischer und personenorientierter.
In dieser Situation wird sich der heute unübersichtlich erscheinende Coaching-Markt klären müssen. Coaching ist kein Feld, in dem Berater mit einigen Tools und standardisierten Methoden nachhaltig erfolgreich sein können. Denn sie müssen Führungskräfte in einem Umfeld beraten, in dem es zwar noch eine Aufbaustruktur gibt, die tatsächlichen Entscheidungen aber letztlich nicht nach vorhersehbaren Mustern getroffen werden. In der Organisationslehre sprechen wir von einem "anarchischen" Entscheidungsverhalten innerhalb einer festgelegten Struktur. Gerade in wissensintensiven Arbeitsbereichen können Entscheidungswege gar nicht mehr vorgegeben werden. Bei aller Kompetenz und Intelligenz der Führungskräfte werden sie sich in solchen Situationen durch professionelle Beratung von Extern entlastet fühlen.
Als Konsequenz wird es im Coaching zunehmend darum gehen, in authentischen Einlassungen und Auseinandersetzungen mit dem Klienten Orientierung zu geben, um eine Integration emanzipativer Werte voranzutreiben, auch und besonders in technikbasierten Feldern, die "Big Data" und "Social Networking" einsetzen.
Anders als im oben zitierten Kommentar suggeriert, geht es im Coaching eben nicht um die Suche nach "Erlösung", d.h. um eine pseudo-religiöse Entastung von Eigenverantwortung. Coaching ist ein durch und durch säkulares Beratungsverfahren, der Emanzipation der Person verpflichtet (DBVC, 2012). Damit Emanzipation gelingen kann, müssen sich Führungskräfte des Spannungsfeldes zwischen "Anpassungsstrebungen und Autonomiewünschen" bewusst werden, dass sich im eigenen Selbst, in ihren Teams, sowie in der gesamten Organisation entfaltet. Erst dann können sie die kreative und innovative Seite ihrer Mitarbeiter fördern, bedienen und zur Entfaltung zu bringen.
Das Stichwort heißt Anregen von Innovation (West-Leuer & Sies, 2003). In diesem Sinne sind Führungskräfte heute "Koordinator", "Moderator" und "Coach" ihrer Mitarbeiter. Gleichzeitig stehen sie, gleich auf welcher Hierarchieebene, immer häufiger auch von "oben" unter Druck - und sei es, weil der Shareholder eines mittelständischen deutschen Unternehmens eine amerikanische Risikokapital-Gesellschaft ist, deren Vertreter sich dominant in das Tagesgeschäft einmischen.
Die Führungskräfte von heute und morgen brauchen andere, menschliche Kompetenzen als von oben zu führen. Von allen Seiten treffen Ideen und Impulse bei ihnen ein. Ihre Aufgabe ist es, Vorschläge zu sortieren, zu bewerten und abzuwägen, wie die Hierarchie der Ideen sein soll. Sie vergleichen diese dann mit größeren Einheiten in Betrieb und Markt und lassen die von ihnen so geordneten Impulse in Zielvorstellungen für ihr Unternehmen einmünden. Sicherheit gibt es dabei nicht. Die wichtigsten Eigenschaften, die Führungskräfte dabei brauchen, sind Ambiguitätstoleranz und Konfliktfähigkeit, auch "soziale Kompetenz" genannt.
Es gilt sich zu erinnern: Die gegenwärtigen wirtschaftlichen Veränderungen sind keinesfalls Ereignisse, die über uns hinwegfegen wie ein Orkan. Sie sind von Menschen gemacht. Und Menschen wollen die Richtung mitbestimmen. Dazu müssen sie erkennen, dass es Vorteile bringt, die tradierten Strukturen und die tradierten Werte ein Stück weit aufzugeben und sich der "eigenen" Initiative und Kreativität anzuvertrauen (West-Leuer & Sies, 2003). Damit aber Initiative und Kreativität sowie Intuition und Flexibilität zu Werten werden können, bedarf es auch der Wertschätzung des traditionell Erreichten.
Mit der Aussage "Our industry does not respect tradition, it only respects innovation" (Jaeger, 2014), legt Satya Nadella, CEO von Microsoft, den Finger in die Wunde. Der Markt versagt den Unternehmen immer öfter die Anerkennung des bisher Erreichten. Nadella will provozieren, vielleicht auch aufrütteln und erreicht bei vielen Mitarbeitern äußere Zustimmung - und inneren Widerstand. Nur wenn ein Unternehmen seinen Weg in einer - zugegeben schwierigen - Balance von Tradition und Innovation findet, wird sich nachhaltiger Erfolg einstellen.
Professionelle Coaches werden mit der Entwicklung mitgehen und sich den Unsicherheiten, der Diffusität von "Sinn und Unsinn" stellen. Sie werden Angebot und Setting an die jeweilige Anfrage anpassen und dabei eigene Vorstellungen ins Spiel bringen. Vielleicht müssen sie flexibler werden, was ihre eigenen Einsätze angeht. Und doch ist es gerade für den Coach wichtig, sich selbst treu zu bleiben, um bei aller Flexibilität auch Stabilität zu verkörpern.
Das gelingt vor dem Hintergrund vielfältiger Konzepte. Ein solches Konzept ist das "psychodynamische Coaching".
Der Begriff der Psychodynamik kommt aus der Theorie der Psychoanalyse. Diese hat von Beginn an auch einen kulturreflektierenden, emanzipativen Ansatz entwickelt, der das Verhalten in Gruppen, Institutionen und Gesellschaften beleuchtet. Im ursprünglichen Sinne bezeichnet "Psychodynamik" die Beziehung zwischen den verschiedenen inneren Instanzen und Strebungen einer Person. Der Begriff weist auch darauf hin, dass ein Teil dieser Abläufe für die Person selbst unbewusst bleibt - was die Wirksamkeit dieser Abläufe erhöht, da sie sich der Kontrolle des bewussten Erlebens entziehen.
Dies gilt nicht nur für einzelne Personen, sondern genauso für Gruppen und Organisationen. Selbst im Einzel-Coaching werden sich nicht nur die unbewussten Instanzen und Strebungen einer Person reinszenieren, sondern auch die unbewussten Dynamiken des Teams, in dem der Einzelne arbeitet, und die der Organisation, von der das Team ein Teil ist. Jede Reinszenierung ist dabei sowohl vom Klienten als auch vom Coach geprägt. Und jeder Coaching-Prozess ist daher nicht nur Entwicklung einer einzelnen Führungskraft, sondern immer auch Team- und Organisationsentwicklung. Einfache Lösungen, oder gar "Erlösung" ist nicht in Sicht.
Die Erfahrung zeigt, dass in Lern- und Lehrprozessen zwei Vermittlungsarten gleichzeitig nebeneinander existieren: die "instruierende" und die "emanzipative". Dabei entspricht die instruierende Vermittlungsart unseren traditionellen Strebungen nach Anpassung, die emanzipative nach Selbststeuerung und Selbstverantwortung.
Obwohl Weiterbildner wie Teilnehmer genau wissen, dass emanzipative Methoden notwendige Voraussetzung sind, um Führungskräfte in ihrem Ringen um "Sinn und Unsinn" in ihren komplexen Beratungsanliegen zu unterstützen: Wünsche an die instruierende Vermittlungsart liegen direkt unter der Oberfläche bereit. Schon bei leichtem Stress werden sie wirksam. Dann soll der Weiterbildner sagen, wo es lang geht. Dieser Wunsch beinhaltet als Grundannahme und Hoffnung:
Damit emanzipatives Lernen klappen kann, gilt es, einen Raum zu schaffen, in dem die Teilnehmer Vielfalt akzeptieren und ihren eigenen Lösungen trauen lernen, auch wenn sich diese Lösungen zunächst als nicht perfekt, holprig, und schwierig erweisen.
Erst wenn der zukünftige Coach die Erfahrung macht: "Fehler sind nicht "das Ende der Welt", sie sind zwar unangenehm, aber nicht vernichtend", wird er aus seinen Fehlern lernen können. Dies führt - in vielen Lern- und Übungsschleifen - ganz allmählich zur Herausbildung einer eigenen, ganz persönlichen Coaching-Kompetenz. Auch er wird nicht versuchen, Führungskräfte zu instruieren, sondern sie als authentisches Gegenüber dabei begleiten, "Sinn und Unsinn" ihres professionellen Tuns zu untersuchen und unterscheiden zu lernen. Wenn es uns gelingt, der Versuchung der Instruktion in Balance zu widerstehen, wird sich professionelles Coaching als "das" maßgebliche Beratungsformat der Zukunft etablieren.