Beruf Coach

Coachs brauchen die „Diversity-Brille“

Über den Umgang mit Vielfältigkeit

Den meisten Menschen ist nicht bewusst, wie ihre Erlebnisweisen und Verhaltensmuster von der eigenen Kultur geprägt sind. Viele Menschen gehen unreflektiert von der Annahme aus, die Welt sei so, wie sie ihnen erscheint. Diese Haltung erschwert es außerordentlich, mit Menschen umzugehen, die „anders“ sind. Eine Herausforderung auch für Coachs – und das Coaching.

12 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 3 | 2010 am 13.07.2010

„Wissen Sie, die Frauen in meinem Team sind einfach stutenbissig“, erläuterte im Coaching eine junge, sehr intelligente Frau in einer Führungsposition, als sie versuchte, mir ihre schwierige Situation am Arbeitsplatz zu beschreiben. Sie war überzeugt, dass sie an ihrer Situation wenig ändern könne, weil „Frauen eben so sind“. Eingeschränkt durch ihre Vorurteile, erklärte sie sich ihre Arbeitswelt – und mir ihre Sicht auf sich selbst.

Es gibt viele ähnliche Beispiele, wie Führungskräfte sich erklären, warum Probleme auftauchen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „kommen aus dem Osten“, sie sind wahrscheinlich „zu alt oder jung“, haben „türkische Wurzeln“, sind eben „Männer“ oder „Frauen“ und so weiter. Oft geben Führungskräfte dabei nur ihre Stereotype über die Gruppen wieder, denen sie ihre Beschäftigten „zurechnen“. Sie denken dann auch nicht mehr darüber nach, dass in ihren Stereotypen ein Teil des Problems stecken könnte. Schließlich begrüßen Wenige heterogen zusammengesetzte Teams und sehen sie als Bereicherung und Chance. Ein bewusst konstruktiver Umgang mit Vielfalt und Andersartigkeit ist wohl noch seltener.

Was ist Diversity?

Diversity kann mit Vielfalt, Mannigfaltigkeit oder Verschiedenheit ins Deutsche übersetzt werden. Interkulturelle Aspekte sind daher ein Teil von Diversity. Diversity Management zielt darauf ab, mit der Vielfalt von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Kundinnen und Kunden sowie anderen Stakeholdern einer Organisation produktiv und konstruktiv umzugehen. Merkmale oder Kategorien der Vielfalt können nicht nur sichtbare – wie Geschlecht, Alter, Herkunft – sondern auch weniger sichtbare – wie Werte oder Überzeugungen, Berufserfahrung oder sexuelle Orientierung – sein. Diversity-Management ist daher ein Konzept oder sogar eine Strategie, um negative Auswirkungen, die durch Stigmatisierungs- und Ausgrenzungsprozesse und Anpassungsdruck gegenüber nicht dominanten Gruppen entstehen, entgegen zu wirken.

Denn diese negativen Auswirkungen mindern oft die Leistungsbereitschaft der Beschäftigten, ihre Loyalität zum Unternehmen und ihr Engagement. In Unternehmen werden Strukturen, Strategien und Kultur in der Regel von einer Gruppe dominiert, unabhängig davon, ob sie insgesamt in der Mehrzahl ist oder nicht. Allerdings besetzt diese Gruppe (oft weiße, heterosexuelle, christliche Männer aus bürgerlichen Schichten, die als Hauptverdiener ihre Familien ernähren) die entscheidenden Positionen.

Entscheidend ist die Erkenntnis, dass innerhalb einer Gruppe ebenso viel Diversity, also beispielsweise Meinungen und Verhaltensweisen existieren können, wie zwischen verschiedenen Gruppen. Das heißt: Wenn Vorstellungen, dass Frauen eher familienorientiert und Männer eher karriereorientiert seien, Entscheidungen bei Personalrekrutierung beeinflussen, kann dieses zu fatalen und teuren Fehlentscheidungen führen.

Wichtig für erfolgreiches Managing of Diversity ist es, die vielfältigen Bedürfnisse und Interessen der Zielgruppe zu erkennen – ohne diese wiederum zu stereotypisieren. Solcherlei tun wir allerdings zumeist, um uns effektiv und angemessen verhalten zu können. Zum Beispiel gehen Menschen davon aus, dass sie „wissen“, wie sie auf eine Frau oder einen Mann am besten reagieren. Wenn jemand das Geschlecht seines Gegenübers nicht kennt, verunsichert das die Meisten. Daher fragen fast alle als Erstes die Mutter oder den Vater, wenn sie sich über den Kinderwagen beugen: „Was ist es denn – ein Mädchen oder ein Junge?“

Unsere Stereotype beziehen sich nicht nur auf die Geschlechter, sondern auch oft auf andere Kategorien, die in unserer Umwelt wichtig gemacht werden. Das sind beispielsweise die ethnische und soziale Herkunft, die Religion oder Weltanschauung, die körperliche Konstitution, die sexuelle Orientierung, der Bildungsgrad, das Alter, im beruflichen Kontext auch die Organisationseinheit, die Position, die inhaltliche Zuständigkeit und vieles mehr. Während in Europa bei der ersten Begegnung zuerst das Geschlecht registriert wird, wird in den USA dagegen, das zeigen Studien, die „Rasse“, die Hautfarbe und an zweiter Stelle das Geschlecht wahrgenommen.

Dass uns unsere Stereotype als Einstellungen steuern, hat wichtige positive Funktionen, das muss zunächst festgehalten werden: Wir können uns blitzschnell orientieren und erleben unsere Welt als geordnet, strukturiert und sinnvoll. Diese Einstellungen helfen uns zudem, uns aktiv in der Welt zu positionieren. Wir drücken damit unsere eigenen Werte aus, markieren unseren Lebensstil, definieren unsere Identität. Das hilft uns auch, uns abzugrenzen – von anderen, aber auch vor eigenen, vielleicht nicht immer so eindeutigen inneren Gefühlen. Die eigenen Stereotype sind oft tief verankert und werden häufig automatisch aktiviert – wenn wir nicht genau hinschauen (s. Kasten).

Implizite Einstellungen

Explizite Einstellungen sind die, die uns bewusst sind und die wir offen äußern. Diese Äußerungen werden aber oft von sogenannter „sozialer Erwünschtheit“ überlagert: Wer möchte sich schon mit seiner Einstellung bewusst ins soziale Abseits stellen? So sagen Konsumenten häufig, wenn man sie befragt, welchen Kaffee sie kaufen würden, sie würden Markenkaffee kaufen oder sogar fair gehandelten. Der Blick ins Einkaufskörbchen verrät dann oft, dass doch die Billigmarke gekauft wurde.

Die Psychologie forscht deshalb seit einigen Jahren zum Konzept der impliziten Einstellungen. Und die Ergebnisse haben einige Furore gemacht. Implizite Einstellungen sind spontane affektive Bewertungen eines Einstellungsobjekts. Sie werden automatisch aktiviert, wenn wir mit einem Einstellungsobjekt konfrontiert werden. Sie lösen ein (positives oder negatives) Gefühl bei uns aus, und wir können nicht genau sagen, woher dieses Gefühl kommt.

Der Implizite-Assoziations-Test (IAT) ist ein neues Verfahren, um solche Einstellungen zu messen. Probieren Sie es einmal selber aus! Sie werden womöglich die eine oder andere Überraschung erleben. Das Online-Testprogramm in deutscher Sprache wird von der Harvard University gehostet und von Dr. Konrad Schnabel, Asendorpf Lab der Humboldt-Universität in Berlin, betreut. Es werden zu Forschungszwecken Angaben zur Person erfragt, die Beantwortung dieser Fragen ist selbstverständlich freiwillig. Je mehr Angaben zur Person man allerdings macht, desto besser kann man sich im Ergebnisreport benchmarken. (tw/ah)

https://implicit.harvard.edu/implicit/germany/index.jsp

Ein wachsendes Interesse an Diversity Management gibt es in Deutschland erst, seit neue Antidiskriminierungsvorgaben wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) 2006 eingeführt wurden. Langsam spricht sich auch im deutschsprachigen Raum herum, dass „diverse“ Teams langfristig innovativer und nachhaltiger arbeiten als homogen besetzte. Ein Abteilungsleiter in einem sehr großen Unternehmen zeigte sich in einer Coaching-Sitzung mir gegenüber überzeugt davon, dass ein Team mit Älteren und Jüngeren, mit Frauen und Männern besetzt sein sollte. Die unterschiedlichen Sichtweisen würden zu mehr Lösungsmöglichkeiten führen, erklärte er seine strategischen Überlegungen. Er hat recht. Inzwischen geht die Forschung davon aus, dass dies so ist.

Hingegen dauert es durchaus länger, bis „diverse“ Teams Lösungen finden, diese sind in der Regel dann aber nachhaltiger. Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter allerdings nicht gleichberechtigt und ihren Interessen gemäß arbeiten können, bergen „divers“ besetzte Teams erstmal eher mehr Konfliktpotenzial als Chancen. Daher sind ein umfassendes Wissen über Diversity, das heißt auch über die Bedingungen, mit denen Menschen individuell (Mikro-), in einer Organisation (Meso-) und in der Gesellschaft (Makro-Ebene) konfrontiert sind, sowie Kompetenzen des Diversity-Managements unerlässlich.

Diversity und der Coaching-Prozess

Der Deutsche Bundesverband Coaching (DBVC) definiert Coaching als „professionelle Beratung, Begleitung und Unterstützung von Personen mit Führungs-/Steuerungsfunktionen und von Experten in Unternehmen/Organisationen. (…) Ein grundsätzliches Merkmal des professionellen Coaching ist die Förderung der Selbstreflexion.“

Beim Coaching sind unterschiedliche Perspektiven der Beobachtung und (Selbst-) Reflexion zu beachten. Ich konzentriere mich hier vor allem auf die folgende erste Perspektive, weil sie der Ausgangspunkt ist, um Diversity ins Coaching zu integrieren.

Der oder die Coach

Die Selbstreflexion des Coachs und die Beobachtung der eigenen Person im Coaching-Prozess sind nicht nur für ein Coaching unter Diversity-Perspektive erforderlich. Eigene kulturelle Prägungen zu kennen, zu wissen, welche Werte und Haltungen beispielsweise durch die Hautfarbe, durch das zugewiesene Geschlecht, durch die eigene sexuelle Orientierung beeinflusst sind, sich seiner Stereotypen bewusst zu sein, die eigenen Vorurteile zu kennen und mit ihnen konstruktiv und kritisch umzugehen, sind für einen erfolgreichen Coach unerlässlich. Wenn eine Klientin beispielsweise überzeugt ist, dass „Frauen nicht miteinander arbeiten können“ – weil sie aufgrund ihrer „Natur nicht dazu in der Lage sind“ –, schränkt das die Effektivität in ihrer Arbeit als Führungskraft immens ein. Einem Coach kann es allerdings nur gelingen, seinem/ihrem Klienten bewusst zu machen, dass noch andere Perspektiven und Sichtweisen existieren, wenn er oder sie selbst sich mit den eigenen Annahmen (Stereotypen und Vorurteilen) auseinandersetzt.

Ein breites Wissen über Theorie und Forschung zu Diversität ist daher notwendig. Wenn Coachs nicht wissen, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die die gleichen Leistungen wie Menschen ohne Migrationshintergrund bringen, sehr viel schlechtere Chancen haben, einen Arbeitsplatz oder eine Führungsposition zu bekommen, dann können sie nicht angemessen auf Führungskräfte eingehen, die selber einen Migrationshintergrund haben oder ein entsprechend „diverses“ Team leiten.

Es ist richtig, dass nur etwas veränderbar ist, wenn wir selbst Verantwortung übernehmen – aber die Erkenntnis, dass es gesellschaftliche Einflüsse, Diskriminierung, Macht und Hierarchien gibt, oder diese bestimmte Wahrnehmungen produzieren, entlastet die Beteiligten auch wiederum. Deswegen ist es für einen Coach notwendig, gesellschaftliche Dimensionen und Bedingungen zu kennen.

Der Coaching-Prozess

Coachs sollten sich im Coaching permanent folgende Fragen stellen:

  • Was passiert dort?
  • Wie verhalte ich mich selbst als Coach?
  • Welche Kategorien werden von wem wichtig gemacht?
  • Was passiert in der Interaktion zwischen Coach und Klient?

Hier ist vor allem die aktive Beobachtung gefordert. Klienten haben im Prozess ebenfalls die Chance, ihre eigenen Stereotype und Prägungen zu reflektieren. Die Grundlage bildet Selbstreflexion und Wissen des Coachs.

Die Klientinnen und Klienten

Der oder die Klient/in und die eigene Rolle als Führungskraft spielen auf dieser Ebene die wichtigste Rolle. Für die gecoachte Führungskraft ist es ebenfalls unerlässlich, sich auch mit den sozio-kulturellen und gesellschaftspolitischen Dimensionen zu befassen, die Einfluss auf das eigene (Führungs-) Verhalten haben (können). Die Selbstreflexion im Kontext von Diversity steht im Mittelpunkt. Es geht hier allerdings nicht darum, Diversity-Management zu vermitteln, sondern entsprechend des Anliegens der gecoachten Person die Perspektiven und Sichtweisen auf sich selbst und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erweitern.

Was sind die Ziele von Diversity-Coaching?

Das Ziel des hier skizzierten „Diversity-Coaching“ verliert selbstverständlich nicht aus dem Blick, die Ziele des Kunden oder der Kundin zu erreichen. Es soll nicht eine neue Variante des „Genitiv-Coaching“ (Wolfgang Looss) präsentiert werden, sondern ein Ansatz, der Diversity im Coaching explizit berücksichtigt und es somit ermöglicht, die Zielerreichung noch besser umzusetzen. Außerdem trägt dieses Coaching unter Diversity-Perspektive dazu bei, Prozesse und Zugänge zu Ressourcen gerechter und effektiver zu gestalten. Denn die kritische Beobachtungsrolle wird geschult – von sich selbst und von anderen. Das gilt für den Coach wie die Klientin.

Zusätzlich eröffnet Diversity-Coaching allen – auch den indirekt Beteiligten wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klientinnen und Klienten – mehr Möglichkeiten und weitere Perspektiven. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, wie sehr ihre Erlebnisweisen und Verhaltensmuster von der eigenen Kultur geprägt sind. Doch diese unreflektierte Haltung erschwert es außerordentlich, mit Menschen umzugehen, die „anders“ scheinen. Zum Teil führt diese Annahme zu Konflikten, Reibungen und erschwert eine Zusammenarbeit. Deutlich wird dies besonders in multikulturellen, globalen und internationalen Kontexten. „Divers“ zusammengesetzt sind heute sehr viele Arbeitszusammenhänge, wenn nicht sogar – je nach Definition – alle. Die Nachfrage nach interkulturellen Kompetenzen findet sich heute in fast jeder Stellenausschreibung, wenn auch oft nebulös bleibt, was damit gemeint ist. Diversity-Coaching beinhaltet also die Chance, Führungskräfte in ihren „diversen“ Zusammenarbeitsszenarien zu unterstützen, effektiv und konstruktiv zu führen.

Konsequenzen für die Praxis

Diversity-Management muss Bestandteil von Ausbildungen und Fortbildungen für Coachs werden. Wichtig ist es, klar zu sehen, in welchen Bereichen für den/die Coach Veränderungen notwendig sind, um die „Diversity-Brille“ im Coaching anzuwenden.

In der Phase des Kennenlernens frage ich mich, welche Kategorien für den Klienten/die Klientin wichtig sein können, aber vor allem, was das für meine Position als Coach in dem zukünftigen Prozess heißt. Welche Haltung nehme ich dazu ein? Ich beobachte mich.

Bei der Suche nach dem konkreten Ziel frage ich nach, ob beispielsweise das eigene Geschlecht, die Herkunft oder anderes Einfluss haben, das Ziel zu formulieren.

Besonders in der Phase der Lösungsentwicklung biete ich dem Klienten/der Klientin an zu reflektieren, welche Bedeutung möglicherweise Diversity-Kategorien haben können. Kann es etwa sein, dass aufgrund der (sozialen) Herkunft, des Geschlechtes et cetera bestimmte Perspektiven nicht eingenommen werden? Wie können neue Sichtweisen bei der Lösungssuche oder -umsetzung helfen? Dabei geht es zum einen um den Klienten/die Klientin selbst. Und zum Anderen kann es auch um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen. Wenn beispielsweise eine Führungskraft glaubt, dass jüngere Mitarbeiter immer eher unzuverlässig sind, ist es für sie sehr schwierig, an diese zu delegieren. Auch in dieser Phase beobachte ich mich selbst und reflektiere über meine eigenen Stereotype und Vorurteile in der Interaktion, um meine eigene Perspektive zu erweitern.

In der Abschlussphase geht es dann vor allem um den Transfer in den zukünftigen beruflichen Alltag. Wichtige Fragen sind nach der weiteren kontinuierlichen Bereitschaft des Klienten/der Klientin, die eigene Position und Haltung zu reflektieren, um das eigene Team/die Beschäftigten nicht zu stereotypisieren und eigene Ziele zu verfehlen.

Nach dem Ende des Coaching-Prozesses evaluiere ich meine eigene Rolle in diesem Prozess. Ich frage mich abschließend noch einmal, inwieweit meine eigenen Prägungen durch mein Geschlecht, meine Herkunft, meine Hautfarbe, meine Weltanschauung et cetera den Prozess beeinflusst haben. Die Ergebnisse fließen dann wieder in die zu Anfang skizzierte erste Perspektive des Diversity-Coaching ein, um so noch effektiver coachen zu können.

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