Wenn Klienten im Coaching darüber klagen, dass ihnen „alles zu viel“ wird, sie sich dauerhaft überlastet fühlen, kann sich dahinter ein ernstzunehmendes psychologisches Problem verbergen. Bei einer Depression, Burnout oder psychosomatischen Erkrankungen ist kein Coaching gefragt, sondern eine psychotherapeutische Behandlung. Doch selbst wenn energiegeladene Klienten ihre „Work-Life-Balance“ oder ihr Zeitmanagement verbessern wollen, um die an sie gestellten Anforderungen besser bewältigen zu können, kann sich dahinter eine weniger bekannte Problematik verbergen: die Arbeitssucht.
Arbeitssucht ist keine Modekrankheit, sondern eine ernstzunehmende, substanz-ungebundene Verhaltenssucht. Auch wenn sie noch nicht in den offiziellen Kanon der psychischen Störungen aufgenommen wurde, erfüllt sie alle Kriterien, welche die Weltgesundheitsorganisation in der „International Classification of Deseases“ (ICD 10) als „Abhängigkeitssyndrom“ definiert:
Erste Studien zur Verbreitung von Arbeitssucht im deutschsprachigen Raum legen nahe, dass schätzungsweise 200.000 bis 300.000 Deutsche arbeitssüchtig sind. Die steigende Zahl von Selbsthilfegruppen der „Anonymen Arbeitssüchtigen“ und spezielle Programme in psychosomatischen Rehabilitationskliniken unterstreichen die wachsende Verbreitung von Arbeitssucht (Städele & Poppelreuter, 2009).
Wie können Coaches klären, ob sich hinter der geschilderten Überlastungsproblematik eines Klienten eine Depression, Burnout oder klinisch relevante Arbeitssucht verbirgt? Um im Coaching-Prozess verantwortungsvoll auf die Situation des Klienten eingehen zu können, sollte in der Kennenlernphase bei der Auftragsklärung zunächst erfragt werden, inwieweit (psycho-)somatische Symptome auftreten. Gegebenenfalls ist die Konsultation eines Spezialisten für psychosomatische Medizin zu empfehlen. Gesundheitspsychologische Inventare wie das Beck-Depressions-Inventar (BDI) und das Maslach-Burnout-Inventar (MBI) geben Aufschluss darüber, ob Überlastungen ein Zeichen einer Depression oder eines Burnouts darstellen.
Ist nach diesem Schritt nicht von einer klinisch relevanten Symptomatik auszugehen, sollten psychologisch geschulte Coaches im nächsten Schritt die Einstellung zur Arbeit sowie das Arbeitsverhalten und die Erlebensweise des exzessiv arbeitenden Klienten erkunden. Eine klare Trennung zwischen einer psychotherapeutisch zu behandelnden Arbeitssucht und Arbeitssuchtgefährdung, welche im Coaching adressiert werden kann, ist (noch) nicht möglich, da noch keine psychometrischen Tests oder medizinischen Klassifikationssysteme zu dieser Thematik entwickelt wurden. Das Inventar in Rademacher (2017) gibt jedoch eine Orientierung, ob und inwieweit Menschen von Arbeitssucht gefährdet oder betroffen sind.
Auch wenn die numerische Größe der geleisteten Überstunden kein geeigneter Indikator für eine (drohende) Arbeitssucht ist, kann sie eine erste Einordnung über die Häufigkeit exzessiven Arbeitens (Rademacher, 2017) ermöglichen und den Prozess der Selbstreflexion anregen. Zudem werden die Strategien der Selbstregulation und mögliche Ressourcen transparent:
Um die einstellungsprägenden Werte aufdecken zu können, können Coaching-Tools wie das Wertequadrat von Schulz von Thun (Patrzek, 2009) gewinnbringend systemische Fragen ergänzen und offenbaren, inwieweit eine „protestantische“ Werthaltung des Klienten es erschwert, für Genussmomente, Regeneration und Ausgleich zu den beruflichen Leistungen zu sorgen (Rademacher, 2013). Kritisch wird es, wenn Klienten in ihrem Leben generell stark auf die Arbeit ausgerichtet sind. Bezieht sich ihr Denken, Planen und Streben vor allem auf die Arbeit und werden Familie und Freundschaften „um die Arbeit herum“ organisiert, sind Hinweise auf eine (drohende) Arbeitssucht gegeben.
Wenn Klienten von einem inneren Drang, ständig aktiv zu sein, berichten, ist auch dies ein Indikator von Arbeitssucht. Arbeitssüchtige erleben Zeiten der Untätigkeit am Wochenende oder im Urlaub als unbefriedigend. Sie können nervös oder gereizt reagieren, weil sie Nichtstun als unangenehme Leere empfinden, die bei ihnen mit einem schlechten Gewissen und Gefühlen von Minderwertigkeit, Scham oder Schuld einhergeht.
Durch diese Fragen und Reflexionen können die Klienten zu der Einsicht gelangen, dass sie von Arbeitssucht bedroht oder bereits arbeitssüchtig sind. Die Krankheitseinsicht ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für erfolgreiche Interventionen. Denn Experten betonen eindringlich, dass ohne ein Einsehen darin, dass die eigene Einstellung zum Arbeiten und das Arbeitsverhalten problematisch für einen selbst, die Kolleginnen und Kollegen sowie das Unternehmen sind, alle Versuche fehlschlagen, Betroffene zur Änderung ihrer Einstellung und ihres Verhaltens zu motivieren. Denn Phasen intensiver Konzentration und die erfolgreiche Bewältigung von knappen Deadlines und fachlichen Herausforderungen führen zur Ausschüttung von Hormonen, die das Erleben von Schmerzen und Ermüdung mindern oder gar Glücksgefühle auslösen. Sich von diesen selbst produzierten „Highs“ zu verabschieden, stellt gerade in den Anfangsphasen von Arbeitssucht keine einfache Aufgabe dar.
Der Coach sollte einen von Arbeitssucht bedrohten Klienten auf empathische und respektvolle Weise mit kritischen Aspekten des überzogenen Arbeitsengagements konfrontieren: die fachlichen Risiken von Alleingängen, das fehlende Vertrauen in die anderen Teammitglieder, das steigende Risiko von Fehlern und Leistungseinbußen sowie die gesundheitlichen Schäden. Wenn diese Irritationen greifen, stehen die Chancen besser, dass von Arbeitssucht Gefährdete die eigene Arbeitshaltung und die Rolle der Arbeit in ihrem Leben kritisch beleuchten. Die Reflexion der eigenen Ziele und die Ursachen, welche für die Notwendigkeit der regelmäßigen Mehrarbeit herangezogen werden (Attributionsmuster), können dann nach und nach zu einer allmählichen Änderung der Einstellung zur Arbeit führen.
Damit diese geänderte Einstellung auch zu einer Verhaltensänderung führt, ist emotionale Selbstregulation erforderlich. Kurz gesagt müssen von Arbeitssucht Gefährdete erlernen, nicht zu arbeiten und sich dabei gut zu fühlen. Die starke Kopplung positiver Emotionen mit exzessiver Mehrarbeit macht es diesen Menschen schwer, inaktiv zu sein, ohne negative Emotionen wie Langeweile, Scham, Wertlosigkeit oder Leere zu empfinden. Der Einsatz von Coaching-Tools wie Peter Schröders (2012) „Schlüsselsituationen“ oder Gunther Schmidts (2012) Ansatz der zieldienlichen Komptenezaktivierung können den Prozess unterstützen, positive Gefühle wie Freude, Stolz und Gelassenheit in Momenten des Nichtstuns zu erleben. Ermunterndes und ermutigendes Feedback vom Coach kann den Prozess des „Umlernens“ unterstützen.
Klienten können dieses Erleben durch ein entsprechendes Ändern ihres Arbeitsverhaltens mehr und mehr im beruflichen Alltag verankern. In dieser Phase des Coaching-Prozesses gilt es, Möglichkeiten zu konkretisieren, wie Klienten anders auf die typischen „Fallen“ reagieren können: der Sonderwunsch des Kunden am Freitagnachmittag, die E-Mail des Vorgesetzten mit einem dringenden Anliegen. Was braucht der Klient, um Arbeit abzulehnen oder an andere abgeben zu können, ohne sich dabei schlecht zu fühlen? Welches andere Arbeitsverhalten führt zu ausreichend guten Zielen, erfordert aber weniger exzessive Arbeitsphasen? Je spezifischere Alternativen zu den gewohnten Reaktionsweisen formuliert werden und je akzeptabler sich diese für die Betroffenen anfühlen, desto größer sind die Chancen dafür, dass diese ausprobiert und umgesetzt werden.
Ganz zentral ist es, diese Gehversuche in neuem Terrain im Coaching positiv zu verstärken. Und selbst wenn es Klienten (noch) nicht gelingt, sich ganz von alten Handlungsmustern zu verabschieden, sollte der Coach Anerkennung dafür geben, sich ernsthaft darum zu bemühen. Nur so gewinnen Klienten die Kraft und Motivation dafür, es beim nächsten Mal erneut zu versuchen und peux à peux auf diese Weise neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Eine Übersicht über die hier beschriebenen und weitere Präventions- und Interventionsmaßnahmen sowie einen Selbsttest zur Arbeitssucht sind in Rademacher (2017) zu finden.