„Können Sie mich unterstützen? Ich würde gern meinen Ausstieg planen.“ Es gibt bislang noch keinen Wikipedia-Eintrag zu dem Phänomen. Aber es beginnt gewöhnlich mit solchen oder ähnlichen Anfragen: „Es hat Umstrukturierungen gegeben. Wenn ich ehrlich bin, ist mir jemand vor die Nase gesetzt worden – ich muss mich neu orientieren.“ Wir nennen es inzwischen Career-Coaching. Denn darum geht es immer: um die gezielte Gestaltung der eigenen Karriere.
Manchmal wird es auch weniger dramatisch vorgetragen, aber eben – im Gegensatz zu früher – als Beratungsmandat formuliert: „Ich arbeite seit 20 Jahren in diesem Metier, habe alles erreicht, was hier möglich ist. Ich fange an, mich zu langweilen. Wie soll es die nächsten 15 Jahre weitergehen?“ Der Career-Coaching-Klient will seine Fragen nicht mit sich selber ausmachen – oder an die Abteilung Personalentwicklung delegieren. Wir erleben einen grundsätzlichen Wandel in der Art und Weise, das Berufsleben als gestaltbar zu erleben und gezielt und professionell zu steuern.
Die typischen Fragestellungen, mit denen ein Career-Coaching beginnt, ergeben sich häufig im Rahmen einer Outplacement-Beratung. Outplacement ist eine – in der Regel von Unternehmen finanzierte – Dienstleistung für ausscheidende Mitarbeiter, die als professionelle Hilfe zur beruflichen Neuorientierung angeboten wird. Ziel ist der Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags oder eine Existenzneugründung.
Insofern sind an dieser Stelle auch die Unternehmen betroffen und eingebunden. Doch egal, ob durch externe Faktoren bewirkt oder durch eigene Planung, Career-Coaching ist für den Einzelnen stets substanziell: Er will sich sowohl beruflich als auch privat neu definieren. Und das ist eine Situation, die Wolfgang Looss als „Teachable Moment“ bezeichnet hat: Der Klient ist besonders offen für ein Coaching. Er ist motiviert, sich grundlegend in allen Lebens-, Verhaltens- und Motivationsaspekten zu reflektieren und Veränderungen einzuleiten.
Career-Coaching ist besonders für Arbeitnehmer relevant – jedoch nicht ausschließlich. Laut einer Studie des Bundesverbands deutscher Unternehmensberater (BDU) aus dem Jahr 2008 wächst der Markt stetig. Denn immer mehr Unternehmen lassen ihre Mitarbeiter an einem Career-Coaching teilnehmen. Ihre Strategie: Mit Career-Coaching wollen sie gezielt Fluktuation über Hierarchieebenen hinweg managen.
Diese Vorgehensweise findet sich vor allem bei Unternehmen mit pyramidalen Organisationsstrukturen. Dazu gehören etwa Professional Services Firms, allen voran Strategieberatungen wie McKinsey und die Boston Consulting Group, oder auch internationale Rechtsanwaltskanzleien wie Allen Overy, Clifford Chance, Freshfields und Linklaters. Das Geschäftsmodell dieser Organisationen basiert auf kontinuierlichem Wachstum, sowohl den Umsatz als auch die Zahl der neu einzustellenden Mitarbeiter, insbesondere Berufsanfänger, betreffend. Anwaltskanzleien etwa praktizieren häufig das Lockstep-Verfahren: Je länger ein Mitarbeiter in dem Unternehmen arbeitet, desto mehr Gehalt erhält er. Berufsanfänger können also mit einer regelmäßigen Beförderung und Gehaltserhöhung rechnen.
Dies ist wirtschaftlich nur dann möglich, wenn das Unternehmen tatsächlich seine finanziellen Wachstumsziele erreicht. Wenn nicht – wie es krisenbedingt in den vergangenen Jahren durchaus vorkam – kann das Unternehmen die Beförderungen nicht realisieren, ohne in einen wirtschaftlichen Engpass zu geraten. Die Folge: Das Unternehmen gestaltet die Mitarbeiterfluktuation aktiv und plant mit einer deutlich über dem Durchschnitt anderer Unternehmen liegenden Zahl von Kündigungen. Eine ungewöhnliche Strategie, denn üblicherweise ist eine hohe Fluktuation bei einem Unternehmen Ausdruck einer Schieflage oder eines Problems. Und vermehrte Kündigungen von Unternehmensseite sorgen nicht unbedingt für ein gutes Mitarbeiterklima. Wie also gelingt es Unternehmen wie den genannten, diese Vorgehensweise ohne Widerstand zu praktizieren?
Die Antwort ist einfach: Das Unternehmen bietet dem Arbeitnehmer zum Ausgleich genügend andere Anreize. Den Mitarbeiter locken nicht nur Umfeld, Position, Art und Inhalt der Tätigkeit, sondern vor allem auch die potenzielle Lernkurve, die vom Unternehmen gefördert wird. Ein über dem Durchschnitt liegendes Einstiegsgehalt, verbunden mit persönlicher Entwicklung und zügiger Beförderung, trägt zum positiven Image bei. Und die Unternehmen gehen noch einen Schritt weiter: Sie versprechen nicht nur, dass der Mitarbeiter stetig dazulernt und sich persönlich weiterentwickelt, solange er im Unternehmen ist, sondern auch darüber hinaus. Denn der Beratungseinsteiger erhält automatisch das Gütesiegel der Strategieberatungsmarke „has made it“ – „er hat es geschafft“. Von nun an geht es karrieretechnisch aufwärts, und zwar entweder „up-in“, also innerbetrieblich, oder „up-out“, also bei einem anderen Unternehmen – und jede Option wird in gleichem Maße vom Unternehmen unterstützt.
An diesem Punkt kommt Career-Coaching zum Einsatz: Der Human Resources (HR) Prozess umfasst normalerweise nur die Entwicklung und Beurteilung des Mitarbeiters und endet im Falle der Kündigung mit der Abwicklung derselben. Career-Coaching jedoch setzt bereits während der aktiven Zeit als Mitarbeiter im Unternehmen ein, öffnet beim Klienten das Verständnis für langfristige Optionen, entwickelt seine Ziele und unterstützt ihn in der Realisierung (s. Abb.). Die Loyalität zum früheren Arbeitgeber wird über die aktive Zeit hinaus gestärkt – es entsteht auf diese Weise ein von Unternehmen wie Mitarbeitern gleichermaßen geschätztes, tragfähiges Netzwerk.
Auf diese Weise wird Akzeptanz für ein kurioses Vorgehen geschaffen: Angenommen die Fluktuation liegt bei jährlich 20 Prozent – dann schafft es nur jeder fünfte Mitarbeiter zum Partner! Dem Rest wird nicht etwa gekündigt, wenn die Leistung nicht (mehr) stimmt, sondern schon vorher. Nämlich dann, wenn die Leistung auf der aktuellen Karrierestufe noch völlig in Ordnung ist, aber das Unternehmen kein Potenzial sieht, dass der Mitarbeiter auf der nächsten Stufe erfolgreich sein wird. Anders ausgedrückt: Die Kündigung erfolgt für Non-Performance in einem Job, den man noch gar nicht hat … Für pyramidal organisierte Unternehmen ist Career-Coaching also ein wesentliches HR-Vehikel, um ihr Geschäftsmodell in der Balance zu halten.
Die steigende Nachfrage nach Career-Coaching hat noch andere Gründe. „The Financial Times Guide to Business Coaching“ erläutert: Arbeitnehmer erleben verstärkt finanziellen Druck. Denn sie leben immer länger, die Renten jedoch sinken. Zudem haben sie immer später Kinder, die sie länger finanzieren müssen. Hinzu kommen oft noch durch Finanzkrisen entstandene Systemschulden. Um das Finanzierungsproblem zu lösen, bleiben folgende Möglichkeiten: Mehr sparen, weniger konsumieren, länger arbeiten oder früher sterben. Die Vermutung liegt nahe, dass Entscheidungen zugunsten längerer Lebensarbeitszeit fallen werden.
Das hat Folgen. Berufstätige Menschen durchlaufen bereits heute während ihrer Lebensarbeitszeit durchschnittlich drei Karrieren. Diese können völlig unterschiedlich sein. Ein Akademiker mag beispielsweise zehn Jahre als Strategieberater arbeiten, dann eine Industrielaufbahn einschlagen und operative Führungsverantwortung übernehmen, bevor er sich für eine weitere Etappe etwa als professioneller Bergsteiger, Politiker oder Investor engagiert. Ein Marketing-Manager durchläuft eine erfolgreiche Karriere bis hin zu globaler Markenführung in einem Großkonzern, bevor er eine Professur übernimmt. Oder ein Ingenieur verkauft sein Unternehmen, um anschließend ohne große Verpflichtung und Verantwortung als Freelancer zu beraten.
Auch das Bedürfnis der Generation „Y“ nach einem ausgeglichenen Leben, der sogenannten Work-Life-Balance, bringt neue Karriereformen hervor. Arbeitgeber und -nehmer akzep tieren zunehmend die „Portfolio-Karriere“, die es ermöglicht, eine Teilzeitanstellung mit freiberuflicher oder anderer beruflich orientierter Aktivität zu verbinden. Als Beispiel dienen die Coachs selbst: Ein Großteil übt diese Tätigkeit nicht haupt-, sondern nebenberuflich aus. Nicht nur im englischen Sprachraum finden sich zahlreiche Beispiele von Professoren, die nebenberuflich beraten, oder Coachs, die mit einem Teil ihrer Zeit fest bei einem Unternehmen engagiert sind und darüber hinaus in spezifischen Themenfeldern agieren.
Ein Berufsanfänger legt sich also mit seinem Eintritt in die Arbeitswelt nicht einmalig auf das gewählte Berufsfeld fest. Die Situation, sich für eine Arbeit zu entscheiden und zu bewerben, kehrt im Laufe des Lebens immer wieder und stellt den Betroffenen vor die Wahl. Umschulung, Weiterbildung und lebenslanges Lernen sind alltägliche Begriffe geworden – Veränderungsresistenz ist vor diesem Hintergrund negativ belegt. Die Konsequenz: Die Nachfrage nach Beratung wird größer – nicht nur bei der Berufsfindung, sondern auch bei der „Neuerfindung“ des eigenen beruflichen Plans.
Career-Coaching ist also besonders relevant für die ökomische Balance des oben beschriebenen Geschäftsmodells sowie gleichermaßen für die Lebensplanung des Arbeitnehmers. Daher – und auch allein des Namens wegen – wäre es naheliegend, Career-Coaching als Teil des Business-Coachings zu sehen.
Die Praxis sieht jedoch anders aus: Die Coaching-Branche empfindet das Career-Coaching als nachrangig und siedelt es außerhalb des Business-Coachings an. Die World Association of Business Coaches (WABC) etwa ordnet das Career-Coaching unter dem im anglo-amerikanischen Sprachraum üblichen Begriff „Career Counseling“ ein. Counseling impliziert – wiederum nach Definition des WABC – eine psychologische Dysfunktionalität, bisweilen sogar ein zu behandelndes Defizit zur Grundlage und erscheint damit der Therapie näher als dem Business.
Allerdings unterscheiden sich die Definitionen im anglo-amerikanischen und im deutschsprachigen Raum. Im Gegensatz zur WABC-Position befasst sich Counseling im deutschsprachigen Raum mit dem mental gesunden Menschen und entwickelt Stärken. In diesem Sinne gibt es eine klare Abgrenzung zur Psychotherapie – im Besonderen auch beim Career-Counseling. Hier wird es zukünftig auch Aufgabe sein, durch Erarbeitung von Definitionen Klarheit zu verschaffen.
Eine grundlegende Definition ist in der Coaching-Literatur bislang nicht zu finden. Selbst Wikipedia liefert (noch) keinen Artikel darüber. Hilfreich ist zunächst die Abgrenzung von der klassischen Outplacement-Beratung: Unter Outplacement versteht man eine stark strukturierte Beratungsleistung, die zu 95 Prozent vom Unternehmen finanziert wird. Sie soll Mitarbeitern, von denen das Unternehmen sich trennen will, helfen, sich neu zu orientieren.
Das Outplacement ist Teil des Career-Coachings, was aber noch mehr umfasst. Denn Career-Coaching kommt nicht nur bei Kündigungen zum Einsatz, sondern kann durchaus auch als Instrument dienen, High Potentials langfristig an das Unternehmen zu binden oder Führungskräfte zu halten.
Beim Career-Management etwa, also der Karriereplanung, besteht die Option, im Unternehmen zu bleiben. Hier geht es beispielsweise darum, langfristig befriedigende Inhalte zu definieren, seine Rolle in unterschiedlichen Konstellationen zu finden oder sich zu positionieren. Dieser Themenbereich steht in engem Bezug zum C-Level-Coaching, also dem Coaching auf Führungsebene. In der Regel sind alle Coaching-Themen, die sich um Positionierung in Führungsgremien, Post Merger-Integration, Machtspielen oder „Hardball“-Situationen eng mit persönlicher Positionierung, den daraus entstehenden Konsequenzen und in der Folge eben auch beruflicher Neuorientierung verbunden; zumindest aber mit der Klarheit darüber, welche Optionen vorhanden sind.
Beim Career-Coaching aufgrund von „forced transition“ – wie etwa dem Outplacement – hat der Klient hingegen keine Wahl. Hier zwingen Unternehmensentscheidungen oder Lebensumstände den Betroffenen dazu, sich beruflich neu zu orientieren.
Methodisch setzt Career-Coaching entweder die Ausbildung und Erfahrung in der klassischen Laufbahnberatung oder als Coach voraus. Laufbahnberatung, Career-Counseling, ist als akademische Ausbildung im anglo-amerikanischen Umfeld und der Schweiz schon lange etabliert – in Deutschland hingegen gibt es so gut wie keine Ausbildungsmöglichkeiten an Universitäten.
Eine Ausnahme stellt beispielsweise das Institut für strategisches Personalmanagement an der Leuphana-Universität in Lüneburg dar, an dem ein Lehrstuhl für Karriereforschung integriert ist. Die Ausbildung als Coach mag notwendig sein, allein ist sie jedoch nicht hinreichend. Typischerweise wird auch Rat erfragt, was die Realisierbarkeit von Ideen, Einstiegsvoraussetzungen in bestimmte Industrien und Einkommensbandbreiten angeht. Kenntnisse über verschiedene Industrien, typische Karriereverläufe und das Wissen darum, welche Tätigkeitsinhalte sich hinter bestimmten Titeln verbergen, sind für einen Career-Coach unabdinglich.
Letztlich hilft es, wenn der Coach schlichtweg Lebenserfahrung mitbringt, um sich in die Situation einfühlen zu können und zu verstehen, woher der Druck kommt. Auch eigene Erfahrung in Unternehmen, idealerweise auch in Führungsfunktionen, ermöglicht realitätsnahe Gespräche. Man muss einfach „Hardball“ mal erlebt haben, sonst fällt es schwer, sich vorzustellen, was faktisch im Führungsalltag passieren kann. Die Fähigkeit, sich als Advocatus Diaboli in unterschiedliche Personen einer im Machtkampf befindlichen Konstellation zu versetzen, wird nur dann hilfreich sein, wenn Realitätsnähe besteht. Diese Voraussetzungen, Lebens- und Berufserfahrung in Kombination mit der Ausbildung, legen letztlich auch das Segment fest, in dem der Career-Coach agieren kann und Akzeptanz findet.
Der Prozess und die Instrumente orientieren sich am klassischen Coaching. Sie unterscheiden sich je nachdem, ob die Career-Ausgangslage „Transition“ oder „Management“ ist. Über die bekannten Instrumente des Outplacements und des klassischen Coachings hinaus hat jedoch die Auflösung von Dilemmata und die Fähigkeit des Coachs, das Potenzial des Klienten zum Netzwerken zu aktivieren, besondere Bedeutung.
Der Career-Coach geht also zu etwa 20 Prozent seiner Tätigkeit aus der klassischen, non-direktiven Rolle heraus und wird zum Gesprächspartner auf Augenhöhe. Meine Erfahrung zeigt: Je höher der Klient in einer Hierarchie angesiedelt ist, desto mehr erwartet er diese Expertenrolle – oder zumindest die Rolle als Sparringpartner, der aktiv und nachhaltig Sichtweisen, geplante Handlungen und Interpretationen auf den Prüfstand stellen kann. Das Tempo der Beratung wird dadurch erhöht, die Coaching-Zeit mithin effizienter genutzt.
Die steigende Nachfrage nach Career-Coaching ist einerseits bedingt durch die Tatsache, dass sich die Anzahl der Situationen, in denen ein Mensch seine berufliche Situation überdenken und gegebenenfalls neu ausrichten muss, im Lebensdurchschnitt erhöht. Andererseits erhöht sie sich dadurch, dass Arbeitgeberwechsel per se häufiger werden. Dies führt also eher zu einer „Assignment-Mentalität“. Der Arbeitnehmer ist sich von vornherein bewusst, dass er nicht für immer bei einem Arbeitgeber bleibt, sondern nur, solange seine persönliche Lernkurve steigt. Portfolio-Karrieren werfen immer wieder Fragen auf, die Career-Coaching sinnvoll und notwendig erscheinen lassen.
Im deutschsprachigen Raum tragen Ausbildungsinstitute für Coachs dieser Entwicklung bislang noch keine Rechnung. In England hingegen sind erste Institute dabei, konkrete Angebote zur Ausbildung von Coachs speziell im Thema Career-Coaching zu entwickeln. Auch die Nachfrage seitens der in Unternehmen beschäftigten Personalverantwortlichen nach Aufbau von Kompetenz in diesem Feld dürfte zunehmen.
Career-Coaching wird sich als enorm wachsender Markt etablieren. Die Nähe zum C-Level-Coaching sowie die wirtschaftliche Relevanz für Unternehmen werden dazu führen, dass Career-Coaching volle Akzeptanz in der Welt des Business-Coachings findet. Spannend bleibt, wann sich die ersten Coaching-Verbände zu dieser Entwicklung positionieren – und wann der erste Eintrag auf Wikipedia erscheint.