Normalerweise würde man davon ausgehen, dass Arbeitnehmende in Zeiten gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Krisen weniger bereit sind, ihren Job zu wechseln. Doch derzeit zeigt sich eine deutlich erhöhte Wechselbereitschaft von Mitarbeitenden (Clementi & Ferrazzi, 2022). Dieser Trend wird auch als „Great Resignation“ bezeichnet und ist eng mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie verbunden (Tessema et al., 2022). Die Krise hat bei vielen Arbeitnehmenden zu einem Umdenken geführt und sie dazu bewegt, ihre beruflichen Ziele sowie ihre Lebensgestaltung allgemein zu reflektieren. Ein Vorgang, der auch weit nach Abklingen der Pandemie fortbesteht. Die daraus resultierende gestiegene Wechselbereitschaft kann für Unternehmen herausfordernd sein, da sie nicht nur dazu führen kann, dass talentierte Mitarbeitende – und mit ihnen Wissen und Kompetenzen – verloren gehen, sondern auch hohe direkte und indirekte Kosten für die Rekrutierung und Einarbeitung neuer Mitarbeitender entstehen.
Auf einen Blick
In Krisenzeiten scheint sich insbesondere der Ansatz des Positiven Coachings anzubieten, um die Stärken von Mitarbeitenden zu aktivieren (Waters et al., 2022) und so Mitarbeiterbindung zu fördern. Beruhend auf einer 2022 an der Hochschule Fresenius durchgeführten wirtschaftspsychologischen Forschungsarbeit wird im Folgenden zunächst auf Gründe für eine Mitarbeiterkündigung eingegangen und das sogenannte „Schwellenmodell“ vorgestellt. Danach wird tiefer auf Positives Coaching eingegangen. Dabei stehen insbesondere die Wirkmechanismen in Bezug auf bindungsfördernde Faktoren im Fokus.
Zur Erklärung sinkender Mitarbeiterbindung sind zwei Kategorien von Faktoren relevant. Die erste umfasst allgemeine Kündigungsmotive wie z.B. eine unzureichende Bezahlung, mangelnde Wertschätzung, Unsicherheit durch Befristung oder fehlende Entwicklungsmöglichkeiten. Die zweite Kategorie besteht aus im Zuge der Pandemie hervorgekommenen Faktoren wie dem Verlust von Kontrolle, entstanden aufgrund sich ständig ändernder Coronamaßnahmen. Die damaligen Einschränkungen im Berufs- und Privatleben können bei Mitarbeitenden zu Strategien zur Wiederherstellung der Handlungskontrolle, z.B. mittels Kündigung, führen (Rösler, 2011). Zu gleichen Reaktionen können Unsicherheiten aufgrund ökonomischer und sozialer Veränderungen beitragen. Die Rückkehr ins Büro nach dem angeordneten Homeoffice kann zu Unzufriedenheit führen, da Mitarbeitende Flexibilität und Lebensqualität verlieren. Ein Mangel an Unterstützung durch den Arbeitgeber und das berufliche Umfeld kann ebenfalls zu psychischer Belastung und Stress führen, was in einer Kündigung resultieren kann, wenn die Hoffnung auf Besserung der Umstände und der eigenen Symptome besteht.
Eine starke Bindung der Mitarbeitenden kann gegenseitiges Vertrauen, Einsatzbereitschaft und eine höhere subjektive Sicherheit fördern. Das sogenannte „Schwellenmodell“ nach Rischke (2021) in der Abbildung (s. unten) beschreibt die Entwicklung von einer stabilen Mitarbeiterbindung zur Fluktuation. Hierbei wird die Unzufriedenheit als Mediator betrachtet und es werden die Toleranz-, die Frustrations- und die Kündigungsbereitschaftsphase mit unterschiedlichem Maß an Unzufriedenheit identifiziert. Schwellen zwischen den drei Phasen verdeutlichen den Übergang: Je höher die Unzufriedenheit, desto niedriger die Mitarbeiterbindung.
Organisationen streben an, dass ihre Mitarbeitenden sich in der Toleranzphase bewegen und nicht in die Frustrations- oder Kündigungsbereitschaftsphase abrutschen. In der Toleranzphase haben die Mitarbeitenden ausreichende Ressourcen, um Rückschläge, Stress und Veränderungen zu bewältigen. Jedoch kann die Zufriedenheit der Mitarbeitenden durch wiederholte negative Erfahrungen sinken, welche Frustration zur Folge haben (ebd.). Frustration resultiert aus der Diskrepanz zwischen den erwarteten und den tatsächlichen Umständen. Mit steigender Unzufriedenheit durchlaufen Mitarbeitende eine Veränderung ihrer Wahrnehmung, kognitiven Verarbeitung und verhaltensmäßigen Reaktion. Die Mitarbeitenden werden weniger empfänglich und zugleich konfliktbereiter. Interventionsmaßnahmen des Unternehmens werden sehr kritisch betrachtet (ebd.).
Dennoch ist es in allen Phasen außer der Kündigungsbereitschaftsphase noch möglich, die Zufriedenheit der Mitarbeitenden wieder zu steigern (ebd.). Längerfristige Strategien zur Verbesserung der Mitarbeiterbindung umfassen einen Wandel der Unternehmenskultur sowie Empowerment, das Stärken der erlebten Selbstwirksamkeit (Conger & Kanungo, 1988). Kurz- und mittelfristige Interventionen wie monetäre Anreize, Weiterentwicklungsmöglichkeiten und Coaching können ebenso dabei helfen, individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen und die Mitarbeiterbindung zu stärken (Bender et al., 2019). Im nächsten Abschnitt liegt der Fokus deshalb auf Positivem Coaching als Maßnahme.
Bei Positivem Coaching handelt es sich um einen wissenschaftlich fundierten, klientenzentrierten und stärkenbetonten Coaching-Ansatz, der auf den Erkenntnissen der Positiven Psychologie basiert und über die aktuelle Problemlage hinaus zum Ziel hat, persönliches Wachstum zu fördern (Mangelsdorf, 2020). Die Positive Psychologie geht auf Martin Seligman zurück, der sich in den 1990er Jahren mit der psychologischen Salutogenese auseinandersetzte. Dabei geht es darum, die Lebensqualität zu verbessern, statt nur psychische Störungen zu behandeln. Der Mensch wird als von Natur aus nach Selbstverwirklichung strebend betrachtet (Seligman, 2015). Im Coaching-Prozess wird daher nicht das Problem, sondern die Lösung in den Fokus gestellt, indem der Klient ermutigt wird, seine Stärken und Ressourcen zu nutzen, um den gewünschten Zustand zu erreichen. Es konnte gezeigt werden, dass Ansätze der Positiven Psychologie sowohl für gesunde als auch traumatisierte bzw. erkrankte Personen eine Verbesserung der Psyche bewirken können. Sogar bei der Behandlung von Krebserkrankten konnten positive Effekte bezogen auf den psychischen und physischen Zustand gezeigt werden (Kim, 2017).
Im Positiven Coaching wird das konkrete Anliegen des Klienten genutzt, um eine umfassende Reflexion anzuregen und persönliche Stärken, Werte und Bedürfnisse zu entdecken und zu entwickeln. Ziel ist es, nicht nur dieses Anliegen zu lösen, sondern auch die persönliche Entfaltung und Weiterentwicklung zu fördern. Positive Emotionen spielen dabei eine wichtige Rolle, da sie den Aufbau neuer Denk- und Handlungsmuster begünstigen und das Erleben negativer Emotionen schwächen („Broaden-and-Build-Theorie“). Der Coach kann positive Emotionen durch Humor, das Einbinden von Werten und Stärken sowie das Bestärken von Ressourcen und Lösungsansätzen fördern. Um unüberlegte Kündigungen zu vermeiden, kann dem Klienten Klarheit über seine Bedürfnisse und Gründe für den erlebten Frust verschafft werden. Dazu können Fragen wie z.B. „Welcher Ihrer Werte wurde verletzt?“ oder „Was wäre ein größeres Lebensthema, das Sie für sich realisieren wollen?“ gestellt werden (Mangelsdorf, 2020, S. 27).
Der Einsatz von Positivem Coaching kann damit eine hilfreiche Perspektive auf die Bewältigung von Krisen wie der „Great Resignation“ bieten. Klienten, die diese Methode anwenden, können ein gesteigertes Selbstwertgefühl, Sinn, positive Emotionen und Handlungskontrolle erleben. Sie können sich ermutigt fühlen, die Veränderung mit ihren individuellen Fähigkeiten mitzugestalten, und verdrängen dadurch Verzweiflung, Perspektivlosigkeit und Unzufriedenheit (Waters et al., 2022).
Es konnte nachgewiesen werden, dass das Erlernen und Anwenden von Strategien der Positiven Psychologie zur Reduzierung von negativen Gedankenspiralen, Steigerung der mentalen Belastbarkeit und Verringerung von Depressions- und Überlastungssymptomen führt (Kamp et al., 2020). Im Rahmen einer Metaanalyse von über 300 Studien mit Erwachsenen unterschiedlicher Nationen (Carr et al., 2021) zeigte sich, dass mit dem Einsatz von Positiver Psychologie im Rahmen eines sechswöchigen Programms mit zehn Sessions eine kleine bis mittlere Steigerung des Wohlbefindens, der Lebensqualität und Resilienz nebst einer Verringerung von Ängsten und depressiven Symptomen erzielt werden kann. Am effektivsten war der Einsatz von individuellen 1:1-Sessions (ebd.). Im Detail lassen sich folgende Wirkmechanismen von Positivem Coaching identifizieren:
Es ist für Unternehmen jedoch zu kostenintensiv, alle unzufriedenen oder belasteten Mitarbeitenden zu coachen. Stattdessen können gezielt diejenigen Mitarbeitenden für das Coaching ausgewählt werden, bei denen der größte Bedarf besteht bzw. die aufgrund ihrer Rollen und ihres Einflusses innerhalb der Organisation als eine Art „Multiplikator“ fungieren können, um dank des sogenannten „Ripple-Effekts“ die positiven Auswirkungen auf das gesamte Unternehmen zu erhöhen.
Der Ripple-Effekt oder Welleneffekt beschreibt die Übertragung von Veränderungen in einem Teil eines Systems auf dessen andere Teile. Durch einen Coaching-Prozess kann dieser Effekt ausgelöst werden, indem Verhaltens- und Denkmuster von Einzelpersonen verändert und somit auch auf andere Kollegen übertragen werden (Barsade, 2002). Diese vereinzelten Coaching-Maßnahmen können das psychologische Kapital („PsyCap“) der Belegschaft verbessern, indem sie Selbstwirksamkeit, Resilienz, Hoffnung und Optimismus stärken (Rose, 2019). Dadurch steigen das Engagement, die Zufriedenheit und die Bindung der Mitarbeitenden an das Unternehmen. Besonders stark wirkt dieser Effekt von oben nach unten, also wenn sich ein Coaching-Effekt von Führungskräften oder Vorbildern auf deren Mitarbeitende überträgt bzw. das infolge des Coachings verbesserte Verhalten dieser „Multiplikatoren“ positive Auswirkungen auf die Organisationskultur entfaltet.
Bevor es zum Einsatz von Coaching kommt, ist es wichtig, dass Arbeitgebende zunächst die Ursachen für die Unzufriedenheit ihrer Mitarbeitenden analysieren, da organisationale Defizite wie z.B. eine unbefriedigende Gehalts- oder Arbeitszeitgestaltung nicht durch Coaching gelöst werden können (Kühl, 2008). Werden organisationale Schwierigkeiten in Coachings Mitarbeitenden zugeschrieben, kann dies der Organisation zwar Entlastung bringen, es besteht jedoch die Gefahr, dass sie selbst gerade deshalb nichts daraus lernt und keine Veränderung stattfindet. Denn organisationale Strukturen wie Entscheidungswege, Geschäftsprozesse, Zielsysteme oder Bereichsstrategien lassen sich durch Coaching nur sehr schwer bis gar nicht ändern (ebd.).
Durch präventive wie auch interventionelle Maßnahmen kann die Zufriedenheit gefestigt und somit die Bindung gestärkt werden (Stempel & Dettmers, 2018). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine wirkungsvolle Prävention sinnvoller ist als eine Intervention (Klaiber, 2018). Diese Unterscheidung nach Einsatzpotenzial wird auf der rechten Seite der Abbildung gezeigt.
Nach Rischke (2021) können Coaching-Maßnahmen bei Mitarbeitenden in der Toleranzphase langfristige und präventive Auswirkungen auf die Resilienz, Zufriedenheit und Performance haben. In Frustrationsphasen und auf der Kündigungsschwelle steigen die Bedeutung und Brisanz von Coaching-Interventionen. Auf der Kündigungsschwelle – wenn den Mitarbeitenden z.B. zum ersten Mal der Gedanke kommt „Ich kann mir vorstellen, das Unternehmen zu verlassen“ – bestehen noch Chancen. Wenn sie allerdings bereits in der Kündigungsbereitschaftsphase sind (z.B. durch „innere Kündigung“), ist ein Coaching-Einsatz, der unter dem Gesichtspunkt der Mitarbeiterbindung erfolgt, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich und somit nicht sinnvoll (ebd.).
Durch Positives Coaching können Mitarbeitende Entlastung, Stabilisierung, Hoffnung und Selbstwirksamkeit erfahren. Es müssen nicht zwingend alle Mitarbeitenden gecoacht werden, da der Ripple-Effekt eine kollektive Verbesserung bewirken kann. Zu empfehlen sind insbesondere 1:1-Sessions für die Führungskräfte und informellen Leader, die die Belegschaft am stärksten beeinflussen. Um Interessenskonflikte zu vermeiden, ist der Einsatz externer Coaches sinnvoll. Eine solche Intervention benötigt jedoch Zeit, um ihre Wirkung entfalten zu können. Insgesamt kann Positives Coaching in Krisenzeiten positive Auswirkungen auf die Mitarbeiterbindung haben, insbesondere durch die Wiedererlangung der individuell erlebten Handlungskontrolle.