Methoden

Projektive Methoden im Coaching

Wie Bildkarten Klienten zum Sprechen bringen

In Veränderungsprozessen wird häufig mit Bildern gearbeitet. Die meisten Menschen denken und erinnern in Bildern, Bilder nehmen Einfluss auf unsere Gefühle und unsere Wahrnehmung. Da Bilder einen hohen Aufforderungscharakter haben, eignen sie sich hervorragend als Gesprächseinstieg und zum Anstoßen von Reflexionsprozessen, wie im folgenden Beitrag ausgeführt wird.

6 Min.

Coaching-Magazin Online, 19.11.2021

Zwei Männer sitzen auf dem Boden und betrachten Bildkarten.

„Bevor ich sterbe, möchte ich ...”

„Angenommen, Du müsstest diesen Satz vervollständigen – was würdest Du sagen?“
 

Das Foto zeigt die Wand eines Hauses mit der Beschriftung Before I die

© Foto: Megan Bucknall/Unsplash

Diese Sätze stammen von dem faszinierenden öffentlichen Kunstwerk „Before I die“, das zuerst 2011 von der US-amerikanischen Künstlerin Candy Chang in New Orleans ins Leben gerufen wurde (siehe beforeidieproject.com). 

Auf großen, öffentlich ausgestellten Tafelwänden setzen sich Menschen mit dem Gedanken auseinander, was sie vor ihrem eigenen Tod noch verwirklichen oder erleben wollen. Das interaktive Kunstprojekt entwickelte sich zu einem globalen Phänomen, das weltweit in 78 Ländern und 36 Sprachen durchgeführt wurde. 

Das Erstaunliche daran ist, dass Menschen aus aller Welt offenbar dazu bereit sind, ihre innersten Wünsche der Öffentlichkeit preiszugeben, wie die folgenden Zitate exemplarisch zeigen (siehe Chang, 2021):

„Bevor ich sterbe, möchte ich meiner Mutter sagen, dass es mir leid tut, dass ich ihre Hand losgelassen habe.“ – New York, USA

„Bevor ich sterbe, möchte ich lieben und geliebt werden.“ – Teheran, Iran

„Bevor ich sterbe, möchte ich helfen, Mädchen auszubilden.“ – Chennai, Indien
 

Wie kann es gelingen, mit einer simplen Aufforderung („Vervollständige den Satz“), einigen Tafeln und farbigen Kreiden ein so kraftvolles Beispiel für unsere universelle Verbundenheit als menschliche Wesen zu schaffen? Wie können diese scheinbar einfachen Werkzeuge Menschen dazu befähigen, sich zu öffnen und ihre tiefsten Sehnsüchte zu teilen?

Projektive Methoden als Aktivierungstechniken

Die Technik der Satzvervollständigung ist eine projektive Methode, die es Menschen ermöglicht, zu erforschen, was ihnen wichtig ist. Klinische Psychologen verwenden diese Methode z.B., um die Einstellungen, Motive und Konflikte einer Person beurteilen zu können.

Die Interpretation und Bedeutung, die die Person bei der Beantwortung einer solchen Aufgabe wählt, können wichtige Dinge über sie offenbaren. Denn die Tatsache, dass sie aus all den Wahlmöglichkeiten und Alternativen eine bestimmte Sache herausgegriffen hat, lässt darauf schließen, dass diese zentral für ihr Leben oder ihren Geisteszustand ist. Diese relative Mehrdeutigkeit und unstrukturierte Herangehensweise an die Aufgaben, die in projektiven Methoden verwendet werden, ist ihr markantestes Merkmal. (siehe Lindzey & Thorpe, 2021)

Projektive Methoden können definiert werden als die Verwendung von Techniken und Reizen in einfachen, unstrukturierten Aufgaben zur Aufdeckung der Motivationen hinter Verhaltensweisen und unbewussten Einstellungen. Projektive Methoden entstanden aus dem Austausch zwischen verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen – psychoanalytische Theorie, klinische Psychologie, Sozialpsychologie und Kulturanthropologie. (ebd.)

Obwohl projektive Techniken gemeinhin mit der Diagnose von psychischen Störungen oder psychotischen Tendenzen in Verbindung gebracht werden, finden sie auch in der Markt- und Konsumforschung (siehe Parry, 2018), der Persönlichkeitsforschung und in interkulturellen Studien breite Anwendung (siehe Lindzey & Thorpe, 2021).

Bekannte projektive Methoden

Projektive Methoden werden oft in Gruppen eingeteilt, je nach Art und Charakteristik. Eine der bekanntesten projektiven Methoden ist der Rorschach-Tintenklecks-Test. Dieser arbeitet mit einem Bild, das aus zehn Tintenklecksen besteht. Die Testperson soll dieses interpretieren und beschreiben, was sie sieht. Tintenkleckstechniken und die Wortassoziationstechnik können in der Kategorie „Assoziation“ zusammengefasst werden, da sie sich auf die Unmittelbarkeit der Antwort der Person konzentrieren (ebd.): Die Person äußert das Erste, was ihr ohne viel Nachdenken in den Sinn kommt.

Das Bild zeigt das Ergebnis eines Rorschach-Tests.

Rorschach-Test © Foto: pixabay

Eine weitere weit verbreitete projektive Methode ist der Thematische Apperzeptionstest (TAT), auch Bildinterpretationstechnik genannt, da er vom Probanden verlangt, eine Reihe von mehrdeutigen Bildern mit Geschichten und Erzählungen zu interpretieren. Projektive Verfahren wie der TAT können unter „Konstruktion“ kategorisiert werden, da sie die Erstellung eines aufwendigeren Outputs wie einer Geschichte oder eines Bildes erfordern (siehe Murray, 1943).

Auf der anderen Seite des Spektrums konzentrieren sich projektive Methoden, die als „Ausdrucksverfahren“ klassifiziert werden, eher auf den Prozess als auf das Endergebnis. Zusätzlich zu ihrer diagnostischen Funktion werden expressive Methoden oft auch als therapeutisch angesehen, da das Ausführen der Aufgabe selbst Erleichterung von dem verschaffen soll, was die Person gerade durchmacht. Spielen, Zeichnen und Malen gehören zu den am häufigsten verwendeten expressiven Techniken (siehe Sears et al., 1953).

Einige projektive Methoden wie Photo Elicitation („Fotoerzählung“) und Photolanguage („Fotosprache“) nutzen Fotos als Werkzeuge, um die Perspektiven und Erfahrungen der Menschen zu eruieren. Obwohl Ursprung und Zweck dieser beiden Techniken unterschiedlich sind, ist die zugrunde liegende Annahme die gleiche: Fotografien (und visuelle Bilder im Allgemeinen) sind Ankerpunkte oder Zugangswege, die es Menschen ermöglichen, über ihre inneren Welten zu sprechen.

Das Medium der Fotografie (und visueller Bilder) zu nutzen, um Subjektivitäten und latente Wahrheiten aufzudecken, ist keine zufällige Idee, sondern basiert auf einer evolutionären Grundlage: „Die Teile des Gehirns, die visuelle Informationen verarbeiten, sind evolutionär älter als die Teile, die verbale Informationen verarbeiten. [...] Bilder rufen tiefere Elemente des menschlichen Bewusstseins hervor [als] Worte.“ (Harper, 2002, S.13)

Das bedeutet, dass Fotos und Bilder uns nicht nur dabei helfen können, unsere Erinnerungen und Erfahrungen genauer anzuzapfen, sondern auch einen anderen Teil unseres Bewusstseins zu erreichen. Und wenn wir dies in Verbindung mit verbaler Sprache nutzen, sind wir in der Lage, auf mehr Teile unseres Geistes zuzugreifen und zu einem umfassenderen Verständnis von uns selbst zu gelangen.

Projektive Methoden in der Coaching-Praxis

Projektive Methoden können auch für die Coaching-Praxis angepasst und verwendet werden. Natürlich dienen sie im Coaching nicht der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen oder psychischen Problemen. Vielmehr können sie als Hilfsmittel genutzt werden, um das Selbstverständnis des Klienten zu bereichern oder Möglichkeiten in sich selbst zu entdecken. Z.B. kann die Aufforderung „Bevor ich sterbe, möchte ich ...“ in einer Coaching-Session verwendet werden, um dem Klienten zu helfen, über Ziel und Werte nachzudenken, die ihm wichtig sind. Der Coach kann dabei unterstützen.

Coaching-Tools, die projektive Methoden verwenden, sind ebenfalls eine gute Ergänzung des Coaching-Repertoires. So werden z.B. Kartensets mit satzweisen Aufforderungen oder Fragen (oder einer Kombination aus beidem) angeboten, die sich auf Themen wie Emotionen, Stoizismus und Therapie konzentrieren.

Das Foto zeigt den Einsatz von Bildkarten im Coaching.

Arbeiten mit Bildkarten im Coaching © Foto: privat

Bilder sind einfache, aber mächtige Werkzeuge, die man als visuelle Auslöser im Coaching nutzen kann. Der Coach kann seine eigene Sammlung von visuellen Auslösern erstellen oder fertige Tool-Sets verwenden. Bildkarten können dem Klienten helfen, auf Assoziationen zuzugreifen, die er bei bestimmten Gedanken, Erinnerungen, Emotionen und persönlichen Erfahrungen hat. Dadurch kann er Einsichten und Erkenntnisse über sich selbst gewinnen, denen er sich vorher nicht bewusst war.

Die Verwendung von Bildern als visuelle Anregung erleichtert es dem Klienten zudem, seine Geschichten offener zu erzählen und auszudrücken, was er fühlt. Der Coach kann Bilder mit reflektierenden Fragen kombinieren, mit deren Hilfe der Klient tief in seine innere Welt eintauchen kann.

Dies sind nur einige Beispiele, wie man projektive Methoden in der Coaching-Praxis einsetzen kann. Für welche Methoden, Techniken oder Werkzeuge man sich als Coach auch entscheidet – das zentrale Anliegen bleibt, geeignete Wege zu finden, um dem Klienten zu helfen, sein Potenzial auszuschöpfen und seine Ziele im Leben zu erreichen.

Literatur

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