Portrait

Interview mit Verena Nussbaumer

Coaching sollte Menschen Klarheit in ihrer Rolle verschaffen, das ist die wichtigste Aufgabe.

„War‘s das?“ oder „Wie weiter?“: Sie stellt Fragen, die in einem alltäglichen Coaching keinen Platz haben. Denn die Klienten, die zu ihr kommen, beschäftigt nicht primär der tägliche Nervenkrieg in der Company. Natürlich muss man damit klarkommen, aber spätestens ab dem vierten Lebensjahrzehnt werden grundsätzliche Fragen formuliert. Das ratternde Räderwerk der Wirtschaft hat es noch nicht wirklich begriffen, aber etliche Top-Performer stellen fundamentale, existenzielle Fragen. Die Coach als Sinnsucher unter Sinnsuchern.

19 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2012 am 16.05.2012

Ein Gespräch mit Thomas Webers

Sie bieten „Das andere Coaching“ an. Ist das nur Marketing oder was liegt dem zugrunde?

Ich merke in der letzten Zeit, dass es immer mehr Leute gibt, die dahinter kommen, dass es mit Tschaka-Tschaka nicht geht. Sie sagen, ich habe das ausprobiert und jenes, aber es hat alles nichts gebracht.

In „Das andere Coaching“ ist mein Credo, dass ich an des Übels Wurzel komme und nicht bloß Symptome bekämpfe. Das hat mit Authentizität zu tun und mit der Bereitschaft, sich ehrlich zu hinterfragen. Das meint Reflexion im Kern: in den Spiegel zu schauen. Das tut – notabene – manchmal auch weh.

Wie hat sich das für Sie biografisch entwickelt?

Meine Biografie ist eher bunt. Ich habe alles Mögliche gemacht, ehe ich an den Punkt kam, dass ich dachte, ich müsste noch ein Zweitstudium drauf setzen: Psychologie und Erziehungswissenschaften. Da hatte ich schon zwei Kinder. Kaum war ich fertig damit, habe ich meinen Mann damit konfrontiert, dass ich eine Ausbildung in Organisationsentwicklung brauche.

Ich wollte nicht mehr in der Lehrerausbildung weiterarbeiten wie zuvor. Ich fand das inzwischen langweilig. Vielleicht lag es auch daran, dass ich einen Mann hatte, der damals stark in der Unternehmensführung engagiert war und auch zuhause oft seine Themen ausbreitete, jedenfalls fand ich solche Themen spannender.

Im Anschluss an die OE-Ausbildung habe ich mich selbstständig gemacht. Das ging – im Schatten eines gut verdienenden Mannes. So hatte ich die Idee, Schule muss qualitativ besser und Lehrer müssen geführt werden. Ich behaupte, eine Schule ist ein Unternehmen wie jedes andere auch, wenn auch mit null Shareholder-Value. Es ergab sich dann die Chance, in Schweizer Schulen in Südamerika zu arbeiten und mit solchen neuen Ansätzen zu experimentieren.

Tatsächlich eingeführt worden sind meine Konzepte und Ideen dort allerdings nie, weil es vor allem am Widerstand der Lehrer scheiterte. Lehrer wollen oft keine Schulentwicklung. Umgesetzt wurden einige meiner Ideen später in der Schweiz selber und zum Teil auch in Deutschland. Und dann kamen immer mehr Anfragen aus der Wirtschaft nach Prozessberatung oder Coaching.

Zu welcher Zeit war das?

Das war so Mitte der 90er-Jahre. Wir haben dann auch unsere Unternehmensberatung cm-p gegründet, mein Mann und ich und weitere Partner. Aber ich war der Exot in der Runde. Denn zu cm-p gehörten nur Personen, die lange Führungserfahrungen mit brachten.

Die hatte ich nur bedingt. Mich interessierten aber Führungsfragen und vor allem Menschen in Führungspositionen. So gingen die Jahre dahin. 2004 habe ich mir dann überlegt, was machst Du eigentlich, wenn Du 65 wirst? Das geht schnell ... Das hat mich sehr umgetrieben. Und da habe ich dann alles Mögliche und auch Unmögliche ausprobiert, um heraus zu finden, wer bin ich und was will ich?

Und wie haben Sie das gemacht?

Ich habe Vorträge, Workshops und allerlei Seminare besucht, bin wieder an die Uni gegangen, habe viele Theorien studiert. Ich war fast nur am Rumrennen und Ausprobieren. Ich habe beispielsweise über Tage dauernde Wanderungen gemacht, auch Reisen in die Wüste.

Ich wollte Grenzerfahrung machen: Wie geht es mir damit, sechs Tage auf dem Kamel und fünf Nächte unter freiem Himmel zu verbringen? Es ist kalt nachts und hart auf dem Boden.

Das sind interessante Naturerfahrungen.

Die Natur ist lediglich das Setting, die Begleitmusik, es geht dabei um mich.

Was passiert, wenn man Nächte auf dem harten Boden liegt oder stundenlang auf dem Kamel sitzt?

Es ist die Angst, es kommt ein wildes Tier, während man da liegt, oder man könne überhaupt nicht schlafen. Dann macht man die Augen auf und sieht die Sterne am Himmel. Das ist mit das Schönste, was ich kenne. Auf der ersten Reise sind mir vor lauter Staunen schließlich die Augen zu gefallen.

Ähnlich ging es mir mit dem Kamel. Ich hatte schnell einen guten Draht zu dem Tier. Später habe ich die Berber einmal gefragt, warum ich genau dieses Kamel bekommen habe. Sie sagten, Du bist ängstlich und das ist ein ganz braves Kamel. Sie haben es mir angesehen. Das hat mich beeindruckt.

Auf diesem Kamel sitzend hatte ich schnell das Gefühl von Loslassenkönnen. Ich kam immer mehr in diese meditative Schaukelbewegung hinein. So habe ich am eigenen Körper gespürt, was Loslassen bedeutet.

Sie bieten nicht nur Reisen in die Wüste an, sondern auch Delphi-Dialoge. Was ist dort anders?

Nichts Gravierendes. Wir machen in Delphi das Gleiche. Es geht auch hier darum, sich selber besser kennen zu lernen. Am ersten Tag gibt es einen fixen Programmpunkt.

Wir gehen immer in die Tempelanlage und ins Museum. Dort steht der Wagenlenker. Er hat ursprünglich acht Pferde gehalten, jetzt steht er alleine dort und hält die Zügel. Er hält sie so, nicht so (dreht den Handrücken nach oben). Die meisten meiner Klienten fotografieren diese Hand, weil sie ihnen auffällt, weil es sie beeindruckt, dass die Hand so offen ist, Sinnbild für das eigene Loslassen.

Ich habe inzwischen viel gelesen über die Tempelanlage und kann Antworten geben, aber sie wirkt von sich aus. Es ist ein Kraftort. Delphi war in der Antike das Zentrum der Welt. Dort findet man den Omphalos, den man den „Nabel der Welt“ nennt.

Im Tempel des Apollon, des Gotts der Erkenntnis und des Lichts, suchten viele unserer Vorfahren Antworten auf ihre Fragen. Doch wer das Orakel um Rat fragen wollte, musste sich zuerst mit seiner eigenen Person auseinandersetzen. Jeder wusste, dass letztlich nicht die Pythia, sondern nur der Ratsuchende selber Antworten auf die gestellten Fragen geben kann.

Wie kamen Sie auf die Idee, Coaching in Delphi anzubieten?

Das hat mit der Geschichte meines Mannes zu tun. Er ist damals, 1994, in seinem Burnout ausgestiegen, hat seinen Rucksack gepackt und ist losgezogen. Ich blieb mit unseren beiden Töchtern zurück. Wir hatten keine Ahnung, was die Zukunft bringen würde, wie lange er wegbleiben würde, ob und wann er zurück kommen würde.

Ich hatte mein Geschäft zu der Zeit schon so weit entwickelt, dass ich für mich und die Kinder sorgen konnte. Er reiste schließlich zum Orakel nach Delphi. Er ist dort gestrandet mit den Grundfragen des Menschseins im Herzen und ist in Galaxidi, unterhalb von Delphi am Meer, geblieben, hat eine griechische Philosophin getroffen, die ein kleines Zentrum aufgebaut hat, das „Ariadnes Faden“ hieß.

Sie ist inzwischen gestorben. Sie hat ihm viele Inputs gegeben. So hat er Antworten erhalten auf die Fragen, die für ihn bislang offen geblieben waren. Er hat nach einer langjährigen, sehr erfolgreichen Managerkarriere gelernt, dass er Mensch sein darf. Da wollte auch ich Delphi kennen lernen.

Ihr Mann unterbricht sein Arbeitsleben ... Es gibt solche Orte, die wichtig sind, an denen passiert etwas, die Leute verändern sich. Was ist bei Ihnen angeklungen in Delphi?

Zu Delphi kommt für mich mit Galaxidi das Meer hinzu. Das ist wichtig. Ich konnte mich in Galaxidi immer extrem schnell erholen. Ich traf eine Schweizerin, die dort lebt und mit der ich mich angefreundet habe.

Seitdem fahre ich jedes Jahr mindestens vier Mal nach Galaxidi zum Auftanken. Wenn ich dort bin, erlebe ich das so als ob ich in eine neue Haut schlüpfe. Ich fühle mich sehr wohl dort und habe das Gefühl, ich brauche es. Es befreit und verändert die Perspektive.

Was haben Sie in Delphi gelernt?

Ich muss Vertrauen ins Leben haben. Es gibt etwas außerhalb von uns, das bereit ist, uns zu helfen, die einen nennen es Gott, die anderen das Universum, wieder andere Energie. Es ist nicht der, der uns auf die Finger schaut, uns kontrolliert und bestraft. Vielleicht finden Sie das jetzt schräg, ich bin keine Kirchgängerin, keine Missionarin, aber es ist genau die Haltung, die wir heute brauchen: Wir müssen uns dafür öffnen, sonst werden wir nicht überleben.

Ich habe viele Klienten aus dem Bankenwesen. Manche kommen jedes Jahr nach Delphi, die sagen: „Ich brauche diese seelische Auszeit, denn in der Arbeit wird es immer schlimmer“. Ich bin Mutter von zwei Töchtern, Großmutter von zwei Enkeln. Ich bin überzeugt, wir haben eine Verantwortung gegenüber unseren Nachkommen und noch viel mehr gegenüber diesem Planeten. Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Stichwort. Alles muss zusammen passen.

Und so kamen Sie auf die Idee, aus dem, was Ihr Mann und auch Sie dort erlebt haben, ein Angebot für andere zu machen?

Ja, so sind eines Tages die Delphi-Dialoge entstanden. Dahinter stand aber die Auseinandersetzung mit dem klassischen Dreieck: Privatperson – Beruf – soziales Umfeld. Ab dem Alter von 30 Jahren stehen meist berufliche Fragen im Fokus. Die persönliche Entwicklung und oft auch die Gestaltung des sozialen Umfeldes sind eng mit der beruflichen Positionierung verbunden.

Dasselbe gilt teilweise auch noch für die 40-Jährigen. Beruflich haben diese einige Bewährungsproben bestanden. Nun drängen jedoch vermehrt private Themen. Sie sehen sich mit der Situation konfrontiert, dass sie sich zwischen Beruf und Karriere sowie der Familie entscheiden müssten. Oder dass es eng wird, weil sie beides möchten und das nicht gelingt.

In meiner Praxis als Coach für Führungskräfte werden die Sinnfragen, „War‘s das?“ und „Wie weiter?“, von Jahr zu Jahr häufiger gestellt. Die Dynamik in unserer Arbeitswelt ist so groß, dass der Einzelne sich sehr oft nur noch als funktionierendes Rädchen in einem riesigen, zusammenhangslosen Getriebe sieht – ganz wie Charly Chaplin es in „ModernTimes“ gezeigt hat. Genau da setzt „Das andere Coaching“ an.

Das meinen Sie also mit: „Das Übel an der Wurzel packen“?

Richtig. Nicht von ungefähr habe ich mir für das aktuelle Jahr das Motto von Einstein gegeben: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“.

Für meine Arbeit ist Galaxidi/Delphi ein Coaching-Atelier, in dem der Klient seine Themen und Aktivitäten selber gestaltet, inszeniert und lebt. Ich unterstütze ihn dabei. Hinter der Intuitionsreise in die Wüste steht das gleiche Modell. An beiden Orten geschehen oder entwickeln sich bei meinen Klienten – und oft auch bei mir – Dinge, ohne erkennbar kausale Zusammenhänge; das nennt man Synchronizität.

In beiden Settings wird Raum und Zeit erlebbar, und es wird möglich, Fragen zu stellen, die in einem alltäglichen Coaching keinen Platz haben.

Hatten Sie das schon zu Beginn dermaßen ausgearbeitet?

Die erste Veranstaltung haben mein Mann und ich gemeinsam konzipiert und durchgeführt. Wir hatten sechs Teilnehmer. Aber ich bemerkte schnell, es gefiel mir nicht. Es war Ferienstimmung, Kolonie. Da finden die Leute nicht zu sich selber, sondern habe viele Gelegenheiten auszuweichen. Das Fazit war, ich biete das inzwischen nur noch einer Person an.

Sie bieten den Delphi-Dialog doch auch Paaren an.

Zu unserem dritten Delphi-Dialog hatte sich niemand angemeldet. Mein Mann wollte die Veranstaltung fallen lassen. Mein Vorschlag war, dann fahren wir hin und beschäftigen uns mit uns selber als Paar. So entstanden die Paar-Dialoge. Auf der 19-stündigen Überfahrt mit dem Boot von Ancona nach Patras hat man viel Zeit. Da habe ich dann geschrieben und geschrieben. So entstand das Konzept, sich als Paar infrage zu stellen. Im Sinne von: „War's das jetzt? Wie wollen wir unsere Zukunft gestalten?“ Eine Standortbestimmung als Paar. Wie im Coaching, nichts Neues. Mein Mann kam mit dem Flugzeug via Athen. Und dann haben wir eine Woche lang geredet und uns Antworten auf die Fragen gegeben, die wir heute noch im Paar-Dialog verwenden.

Was ist die schwierigste Frage für Paare?

Die Frage, an der die meisten Paar hängen bleiben, ist: „Was kannst Du nicht tun, weil es mich gibt?“ Das ist eine fundamentale Frage der Partnerschaft.

Führen Sie mehr Paar- oder Einzeldialoge durch?

Ich führe derzeit etwas mehr Einzel- als Paardialoge durch. Die jeweilige Situation des Klienten steht im Vordergrund – wie sonst im Coaching auch. Und da ist klar, dass da auch immer private Fragen, auch solche der Partnerschaft, hinein spielen. Letztlich geht es um existenzielle Fragen des Einzelnen: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? In welchem Kontext will ich leben? Was gibt meinem Leben Sinn? Ich bin den ganzen Tag über dafür ansprechbar.

Besteht der Delphi-Dialog nur aus Gesprächen?

Wir reden, wir fahren aufs Meer hinaus. Ein Klient hatte einmal das Bedürfnis, alleine auf einer unbewohnten Insel zu übernachten. Dann wandern wir, besuchen das antike Delphi oder die Dionysios-Höhle, in der Platon und Sokrates gehaust haben sollen. Wandern ist eine natürliche, sehr heilsame Intervention.

Natürlich bekommt der Klient auch das Bündel an Fragen zum Leben von mir, das er bearbeiten kann – oder aus dem er sich besondere Fragen heraus picken kann. Oder er will zu bestimmten Themen kreativ arbeiten, malen oder gestalten. Auf einer abendlichen Terrassenrunde reflektieren wir den Tag. Wobei der Klient wiederum bestimmt, wie viel und was er preisgeben will. Dann geht es im Anschluss daran um den nächsten Tag.

Inzwischen mache ich gar keine Vorschriften mehr. Am Anfang habe ich gesagt: „Lassen Sie Ihre Handy und Ihren Computer zuhause“. Doch das ist unrealistisch. Wir leben in einer Welt, in der das einfach dazu gehört. Wenn jemand offline sein will, kann er das tun. Wenn er Schwierigkeiten damit hat, sind das direkt Coaching-Themen, an denen man arbeiten kann.

Ist das nicht furchtbar anstrengend, als Coach einen ganzen Tag mit einem Menschen zu verbringen? Oder sind Sie nur streckenweise mit dem Klienten in Interaktion?

Ich empfinde das schon als anstrengend, aber es ist auch sehr befriedigend. Ich mach's gerne. Was ich anstrengend finde ist, wenn ich Leute vor Ort habe, die nur vom schönen Wetter sprechen und davon, dass sie lieber in der Sonne liegen wollen. Die wollen sich der Herausforderung, eine Woche lang in den Spiegel zu schauen, nicht stellen.

Da habe ich dann im Vorfeld nicht richtig hingeschaut. Doch die meisten Menschen, die kommen, vor allem die, die zum ersten Mal kommen, die brauchen richtig Hilfe und wollen sich intensiv mit sich selber auseinandersetzen

Wer kommt zu Ihnen?

Interessanterweise kommen immer mehr Menschen zu mir, die nicht in erster Linie berufliche Probleme haben, sondern private. Meine Klienten, die ich länger betreue, besprechen fast keine beruflichen Themen mehr mit mir, sondern fast nur noch private. Einige buchen diese Woche jährlich als „Wellness für die Seele“, andere wiederum wollen sich mit Fragen ihrer Weichenstellung auseinandersetzen.

Was erlebt man in der Wüste?

Letztes Jahr haben wir die leeren Schlangen- und Skorpioneneier gesehen. Ergo sind die Tierchen unterwegs. Es kann auch sein, dass uns Sandstürme begleiten. Das alles ist dieses Spannende, Unvorhersehbare. In der Wüste haben wir einen klaren Ablauf. Am Morgen begrüßen wir den Morgen mit einem Ritual. Wie das geschieht, überlasse ich jedem selber. Ich bestimme lediglich den Ort.

Am Mittag begrüßen wir den Mittagsplatz. Die Idee, die dahinter steckt, ist, wir sind Besucher der Wüste, wir sind Fremde. Wir können nicht einfach die Wüste betreten, wir müssen sie um Erlaubnis fragen. Alles, was wir von der Wüste bekommen, ist ein Geschenk. Und dann gibt es noch den Abendplatz in den Dünen. Da stellen die Berber ein Zelt auf für die Küche und eins für uns, falls es notwendig wird, da Schutz zu suchen. Im letzten Jahr war es tatsächlich notwendig.

Jeder suchte sich seinen Schlafplatz im Gelände. Ich lag neben meiner Freundin, wir wollten noch etwas reden. Plötzlich habe ich bemerkt, wie da etwas Feuchtes über mein Ohr streicht. Am anderen Tag habe ich kleine Fuchsspuren gesehen. Es war so nett: Wie im „Kleinen Prinzen“! Eine Stunde später hat es zu regnen begonnen.

Hier zeigen sich mir Parallelen zu religiösen Wallfahrten oder beispielsweise den Exerzitien des Ignatius von Loyola.

Wenn man Exerzitien als geistliche Übung versteht, im Sinne von Hilfe für sich selbst, ja. Bestimmt haben beide Angebote Anteile von kontemplativen Elementen. Einem Vergleich mit Loyola stimme ich ungern zu.

Man mag zu den Konzepten stehen, wie man will, der Umgang mit Symbolen, mit Riten, die Selbsterfahrung in der Natur: Sie greifen hier auf altes Menschheitswissen zurück.

Das Thema beschäftigt mich schon lange. Schon in der Lehrerausbildung hat mich gestört, dass uns heutzutage Initiationsriten oder überhaupt Rituale völlig abgehen. Wir haben kaum mehr Praxis darin. Und die Kirchen haben uns so viel abgenommen, wir müssen nicht mehr selber denken. Lebensübergänge finden von selbst statt. Symbole haben kaum mehr Bedeutung. Der Delphi-Dialog soll uns Gelegenheit geben, das Bewusstsein für solche Dinge wieder zu wecken – ohne dass ich es Ritual nenne.

Wie nennen Sie es denn?

Wir machen es einfach. Wir begrüßen den Tag in der Wüste, wir trommeln. Ich nehme meine Trommel immer mit. Und meinen Mitreisenden sage ich: „Nehmen Sie ein Musikinstrument mit, wenn Sie wollen, Sie brauchen aber nicht.“ Vor Ort können die Teilnehmer auch mit zwei Steinen Lärm machen. Und es geht wunderbar.

Ansonsten benutze ich im Delphi-Dialog immer das Ritual: „Schreib Deine Morning-Pages!“ Der Begriff stammt von Julia Cameron (Der Weg des Künstlers). Sie sagt, jeder kann ein Künstler sein. Aber man müsse sich das beweisen, dass man ein Künstler sei. Also: Schreib Morning-Pages! Schreibe jeden Morgen drei bis vier Seiten, ohne ein Tagebuch zu schreiben – lass es schreiben.

Du gerätst durch das – es ist eine Art Meditation – in tiefere Ebenen hinein. Und wenn Du es geschrieben hast, schlag es zu und schau es nie mehr an. Das wirkt, so meine Erfahrung, reinigend. Vielen, die im Coaching nicht über ihre Probleme hinweg kommen können, rate ich das.

Aber man muss es tun und dran bleiben – das ist mit der Mediation nicht anders.

Disziplin ist etwas ganz Wichtiges. Das sagt auch der Dalai Lama. Im Delphi-Dialog kommen so viele Themen auf den Tisch. Deshalb ziehe ich jeden Tag ein Fazit: Was nimmst Du mit? Für mich ist das nachhaltiges Arbeiten. Das ist repetitiv wie das Einmaleins zu lernen.

Aber sehr intensiv, jeden Tag in der Woche. Das ist etwas anderes, als alle vier Wochen für anderthalb Stunden ins Coaching zu kommen.

Richtig und die Leute wollen und schätzen das. Für manche ist es ein Eintauchen in eine ganz andere Welt.

Doch danach hüpfen sie wieder in ihren Business-Kontext und es kommt dann alles wieder unter die Räder.

Die Gefahr besteht. Ich erarbeite deshalb mit meinen Klienten immer an den Ankern, die sie mit nach Hause nehmen. Oft gebe ich ihnen auch auf sie zugeschnittene Überlebenstipps mit auf den Weg.

Das machen andere auch, in dem Vorgehen sind Sie traditionell. Ist der Unterschied der, dass Sie mit Ihren Klienten sieben oder zehn Tage am Stück arbeiten? Oder soll ich es Exerzitien nennen?

Das würde mich stören. Denn das wäre so sehr mit der christlichen Religion verknüpft.

Gibt es für Sie auch noch den allgemeinen Coaching-Alltag?

Ja, aber ich bekomme inzwischen andere Fragen von meinen Klienten, nicht mehr die klassischen Probleme wie Rollenprobleme als Führungskraft oder schwierige Situationen im Führungsgeschäft. Es geht immer mehr darum, Antworten zu geben auf Fragen wie: Hier stehe ich jetzt, wie geht's weiter? Was will ich noch vom Leben?

Wie kommt das? Ist das eine Alterserscheinung?

Eindeutig. Ich war 58 Jahre alt. Plötzlich kamen die Leute mit ihren Lebensfragen. Und da fragt man sich dann schon einmal, bin ich Coach oder vielmehr Gesprächspartner? Oder Sparringspartner? Ist das dasselbe? Im Gespräch zu sein und gemeinsam eine höhere Ebene zu erreichen, wie Platon das schon beschrieben hat.

Wenn Sie Ihre eigene Entwicklung und Ihren neuen Ansatz mit dem „anderen Coaching“ anschauen und mit den Entwicklungen auf dem Coaching-Markt vergleichen, was denken Sie dann?

Die Wirtschaft braucht das, was auf dem Markt angeboten wird, solange sie so funktioniert wie sie funktioniert. Ich lese sehr aufmerksam die Zeitung und bin sehr politisch, mich interessiert das alles ganz gewaltig. Ich bin auch der Meinung, dass sich etwas ändern muss in unserem Wirtschaften. Die Wirtschaft braucht das Coaching, aber es gibt immer mehr Fälle, da braucht es so jemanden wie mich. Weil es um einen anderen Fokus geht.

Der Coaching-Markt wächst derweil weiter. Zum Teil erhofft sich die Wirtschaft Wunder vom Coaching. Zum Teil erlebt sie auch super gute Leistung im Coaching. Zum Teil funktioniert Coaching aber nicht. Letztlich geht es für mich um die Frage des „Wie?“ in der Führung. Und darum, welche Menschen die Führungsrolle innehaben. Ob ein Coach wirklich nachhaltig etwas erreichen kann, das weiß ich nicht.

Ich habe viele Führungskräfte erlebt, die nicht wirklich ehrlich zu sich selbst waren. Oft hört man von den Klienten: „Mein Chef ...! Wenn der doch so oder so wäre ...“. Etliche sind auch Opfer und Gefangene der Umstände. Wenn Coaching sich darauf spezialisiert, Menschen Klarheit in ihrer Rolle zu verschaffen, dann hat Coaching die wichtigste Aufgabe erfüllt. Manchmal schafft man noch ein wenig mehr, ihnen mehr Verständnis für sich selbst zu verschaffen.

Haben Sie damit Ihre Nische gefunden oder machen Sie High-End-Coaching?

Ich war im High-End-Coaching, jetzt bin ich in der Nische. Dort haben alle Platz. Ich bin eher die Einzelgängerin. Natürlich tausche ich mich mit meinen Berufsfreunden aus, beispielsweise mit Wolfgang Looss oder mit Petra Welz, Joya Aebi, Hans Kuntzemüller oder Malcolm Southwood, alles gestandene Persönlichkeiten. Aber aktiv in einem Verband Mitglied zu sein, das passt nicht zu mir.

Trotz meiner Jahre fühle ich mich fit und hoffe, ich kann lange noch arbeiten. Aber ich möchte den Zeitpunkt nicht verpassen, an dem es genug ist. Einer meiner Professoren, es war der inzwischen verstorbene Dieter Baacke, hat einmal gesagt: „Ich möchte mich weiterentwickeln bis zu meiner Unkenntlichkeit, ohne meine Wurzeln zu verlieren“. Das möchte ich auch gerne. Wir dürfen nicht stehen bleiben, auf keinen Fall …

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