Portrait

Interview mit Kirsten Dierolf

„Wir suchen das Ziel hinter dem Ziel“ – Lösungsfokussierung im Coaching

Als Antwort auf die Frage, weshalb sie die Präsidentschaft der ICF-D übernahm, verweist Kirsten Dierolf u.a. auf eine von Lebendigkeit und Vielfalt geprägte Verbandskultur. Diversität lernte die Theologin insbesondere während ihres Studiums in Kalifornien nachhaltig zu schätzen. Es mag Ausdruck dieser Haltung sein, dass Dierolf die Existenz unterschiedlicher Coaching-Ansätze als Chance beschreibt, voneinander zu lernen. Sie selbst praktiziert den Ansatz der Lösungsfokussierung. Welche Vorteile dies z.B. im Team-Coaching biete, erklärt Dierolf im Interview mit dem Coaching-Magazin.

19 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2021 am 19.05.2021

Ein Gespräch mit David Ebermann

2020 haben Sie den Coachingtag der International Coach Federation Deutschland  (ICF-D)  erstmals virtuell durchgeführt. Welche Erfahrungen haben Sie damit gesammelt?

Es war viel einfacher, als wir vermutet hatten. Anfangs dachten wir uns: Die Leute sind jetzt sicher alle „zoomed out“. Finden wir überhaupt ausreichend Teilnehmende? Aber weit gefehlt, es war ein sehr erfolgreicher Tag. Es kamen sehr gute Gespräche und interaktive Vorträge zustande, was man von einem virtuellen Event vielleicht gar nicht erwarten würde. Die Befürchtung, dass das, was Konferenzen so wertvoll macht, im Online-Format unter den Tisch fallen könnte, stellte sich demnach als unbegründet heraus. Unsere Erfahrungen sind durchweg positiv.

Das virtuelle Format kann Hürden auch herabsetzen …

Ja, wir hatten einen Teilnehmer aus Brasilien. Der wäre natürlich nicht dabei gewesen, hätte er anreisen müssen. Meine eigenen Coaching-Weiterbildungen finden seit 2015 online statt. Hier sammle ich vergleichbare Erfahrungen: Sobald man sich an das Format gewöhnt hat, geht es wunderbar und man merkt, dass eine virtuelle Veranstaltung kein langweiliges Webinar sein muss, in dem eine Person spricht und alle anderen zuhören. Sofern man die mittlerweile gegebenen technischen Möglichkeiten – beispielsweise die Breakout-Rooms – nutzt, muss eine virtuelle nicht schlechter sein als eine Präsenzveranstaltung. Meines persönlichen Erachtens nach kann das Online-Format sogar besser sein, auch wenn wir das aktuell vermutlich nicht mehr hören können und gerne mal wieder jemanden in den Arm nehmen würden. (lacht)

In diesem Jahr soll der Coachingtag dennoch, falls die Umstände es zulassen, wieder im Präsenzformat stattfinden.

Gemeinsam mit unserem Vorstandsmitglied Barbara Klinke, die für den Coachingtag federführend ist, haben wir entschieden, die Veranstaltung in diesem Jahr wieder in Präsenz abhalten zu wollen. Wir hoffen sehr, dass das möglich sein wird, weil wir uns einfach alle danach sehnen. Natürlich ist das Format damit nicht auf alle Zeiten festgelegt und wir werden sehen, wie sich der Coachingtag weiterentwickelt. Hier verstehen wir uns als agiler Verband.

 In der ICF-Deutschland bieten wir aber ohnehin viele virtuelle Veranstaltungen an. Jede Woche finden zwei bis drei Weiterbildungsangebote mit nationalen und internationalen Speakern zu unterschiedlichsten coaching-relevanten Themen statt. Ich denke daher, dass wir das Virtuelle bereits sehr gut abdecken. Was unsere Vorstandsmitglieder Anne Schweppenhäußer und Peter Tschötschel sowie das ganze Team im Rahmen unserer „Virtual Education“ leisten und ehrenamtlich auf die Beine stellen, kann man gar nicht fassen. Wenn man in Deutschland den Begriff „Verband“ hört, denkt man vermutlich eher an Vereinsmeierei. Ich bin sehr froh, dass die ICF-Deutschland davon weit entfernt ist. Wir sind ein „Mitgestalt-Verband“, eine lebendige Community, in die die Beteiligten viel Herzblut investieren.

Hat Sie dies dazu bewogen, die Präsidentschaft der ICF-Deutschland zu übernehmen, die Sie seit November 2020 inne haben?

Ja. Meine Weiterbildung ist ICF-akkreditiert und ich bin seit 2004 Mitglied im Verband, daher besteht ohnehin eine große Nähe. Was mir an der ICF zudem gut gefällt, ist die Lockerheit, die Internationalität, der Umstand, dass wir uns momentan möglichst agil organisieren, und der Spirit von: „Machen wir halt mal und gucken, was dabei rauskommt.“ Das entspricht meinem Wesen und harmoniert auch mit meiner Ausrichtung am lösungsfokussierten Ansatz. Ich mag es, Dinge auszuprobieren und daraus wachstumsorientiert zu lernen. Natürlich erfolgt dies immer auf Basis hoher Ansprüche an Qualität und Ethik. Die Ethikstandards der ICF und die Coaching-Kernkompetenzen, die der Verband definiert hat und die aus meiner Sicht Hand und Fuß haben, sind für mich weitere wichtige Überzeugungsmerkmale und fachliche Beweggründe.

Ihre ICF-Präsidentschaft fällt in eine besonders herausfordernde Zeit. Mit welchem Gefühl werden Sie das Amt im November an Antje Brügmann, Ihre bereits gewählte Nachfolgerin, übergeben? 

Als wir im Vorstand unsere Strategie entwickelt haben, fragten wir uns: Wenn wir, unsere Mitglieder und alle Stakeholder im November 2021 hochzufrieden sind, was müssen wir dann in der zurückliegenden Zeit erreicht haben? Ich glaube, die Antwort hierauf hat verschiedene Ebenen. Ein Aspekt besteht darin, dass die Mitglieder auch in dieser schwierigen Zeit gut betreut wurden, dass der Verband ihnen Möglichkeiten geboten hat, sich weiterzuentwickeln und Weiterbildungsangebote wahrzunehmen, dass wir untereinander in Kontakt geblieben sind. 

Als die Pandemie anfing, haben wir eine große Checkliste herausgegeben: Wie kann ich als Einzelunternehmer überleben? Welche Hilfsmaßnahmen stehen mir zur Verfügung? Wir haben virtuelle Open Spaces und World Cafés veranstaltet, um in der Corona-Situation zu helfen und bei Fragen zur Verfügung zu stehen. Damit sind wir ganz konkret unserer Aufgabe als Berufsverband nachgegangen. Zudem haben wir einen Podcast gegründet und jede Woche eine interessante Folge veröffentlicht. Wir haben uns auch viel um interne Prozesse gekümmert und uns das Thema Agilität und Organisation auf die Fahnen geschrieben. Die Vorstands- und Verbandsarbeit haben wir nochmals transparenter gestaltet, sodass die Mitglieder hoffentlich immer wussten, wo wir stehen. Auch mit anderen Verbänden sind wir im Austausch geblieben. 

Mein persönliches Ziel ist es, im November ein aufgeräumtes, gut funktionierendes Haus mit einfachen und agilen Prozessen zu übergeben, das den Mitgliedern nützt und ihnen zudem Optionen bietet, mit Coaching einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Wenn das gelingt, bin ich sehr zufrieden. Ich bin früher wahnsinnig viel gereist und hatte irgendwann die Nase voll davon. Daher arbeite ich schon seit Jahren hauptsächlich online, was mir und dem Verband in der aktuellen Situation sicherlich entgegenkommt.

Wie bewerten Sie Vorbehalte, die gegenüber dem Online-Coaching bestehen?

Bei vielen technischen Setups fehlt der Augenkontakt. Man sieht zudem nicht den ganzen Körper. Alle nonverbalen Signale ins Coaching einzubeziehen, ist im Online-Setting schwierig. Dass der Beziehungsaufbau eingeschränkt sein soll, stimmt meiner Meinung nach aber nicht. Auch die Annahme, online könne man beispielsweise keine Aufstellungen vornehmen, liegt meines Erachtens darin begründet, dass die technischen Möglichkeiten nicht ausreichend bekannt sind. Es gibt inzwischen viele Anwendungen, anhand derer man Online-Aufstellungen durchführen oder Bewegungen im Raum simulieren kann. Ich denke, die Hürde besteht oft eher darin, dass sich die Leute das nicht vorstellen können. Eine Anekdote: An der Evangelischen Hochschule Freiburg habe ich ein Online-Treffen für Lehrsupervisorinnen und -supervisoren angeboten, das zunächst sehr zögerlich angenommen wurde. Diese ganze „Online-Welt“ war nicht so bekannt. Nach der ersten Veranstaltung, die ich moderierte, waren aus der Ablehnung schon Spielfreude und Neugierde geworden, weil die Hemmnis genommen wurde. Ich bot dann noch zwei weitere Treffen für denselben Personenkreis an und die anfängliche Zögerlichkeit wich einem: „Okay, das kriegen wir hin, das geht!“
 

Kirsten Dierolf © Kristina Karaičić

Kirsten Dierolf © Kristina Karaičić

Ihren Master in Theologie absolvierten Sie in Berkeley. Weshalb entschieden Sie sich für die Theologie? 

Ich studierte zunächst Theologie in Frankfurt und Heidelberg, ging dann nach Berkeley und studierte anschließend Englisch, Theologie und Deutsch in Freiburg und Tübingen und absolvierte die Prüfung für das Lehramt an Gymnasien. Über den eigenen Werdegang erzählt man sich gerne Geschichten, die halt Geschichten sind. Warum ich mich für die Theologie entschied, weiß ich heute nicht mehr im Detail. Mich hat damals vieles interessiert, sodass für mich schwer herauszufinden war, was ich wollte. Eine Überlegung – daran kann ich mich erinnern – bestand z.B. darin, Informatik zu studieren. Ich dachte dann aber, wenn ich Informatik studiere, bin ich zu 90 Prozent mit pickeligen Jungs im Kurs. (lacht) 

Die Theologie ist ein unheimlich breitgefächertes Studium und reicht von Linguistik, über Analyse alt- und neutestamentarischer Texte in ihrem Umfeld, Textkritik, Pastoralpsychologie und systematische Theologie, die sehr nah an der Philosophie ist, bis hin zu den Sprachen, die man lernt. Das ist ein geisteswissenschaftlicher Rundumschlag und das hat mir sehr gefallen.

Wie kam es zu dem Schritt, nach Kalifornien zu gehen?

Ich studierte an der Pacific School of Religion, die mit der University of California affiliiert ist. Aufgrund der Trennung von Kirche und Staat in den USA darf letztere als staatliche Universität kein eigenes theologisches Institut unterhalten. Ich ging nach Berkeley, weil mein damaliger Freund und erster Ehemann in Stanford studierte. Außerdem handelt es sich um ein sehr renommiertes Institut, wie ich damals bei meiner Recherche herausfand. Ich bewarb mich und wurde angenommen. Ursprünglich wollte ich nur für ein Jahr in Berkeley studieren, aber es gefiel mir dort so gut, dass ich ein weiteres halbes Jahr blieb und den Master abschloss. Eigentlich dauert das Studium zweieinhalb Jahre, aber sie rechneten mir vorherige Leistungen an. 

Wenn man – im positiven Sinne – merkwürdige Menschen kennen- und lieben lernen möchte, ist Berkeley der perfekte Ort. Ich habe dort Kurse belegt, die ich in Deutschland nicht hätte wählen können, z.B. ein Seminar namens „Spirituality and Sexuality“, das von einem schwulen Sextherapeuten aus San Francisco geleitet wurde. Berkeley ist ein sehr bunter Ort, was mir die Augen für Diversität geöffnet und meine Wertschätzung für Menschen unterschiedlichster Hintergründe nachhaltig gefestigt hat. Um das Thema Diversität kümmern wir uns in diesem Jahr auch in der ICF-Deutschland verstärkt. Ich merkte in Berkeley, dass Unterschiede etwas Interessantes sind und meine Neugierde wecken.

Ist es der Neugierde geschuldet, dass Sie – mit Ausnahme der Antarktis – auf jedem Kontinent beruflich tätig waren und diverse Sprachen sprechen?

Durchaus. Ich bin sehr neugierig auf Menschen und Sprache ist meiner Ansicht nach der Schlüssel zur Seele einer Person. Vielleicht hätte ich auch Anthropologie studieren können. (lacht) Zudem liebe ich Sprachen einfach und es macht mir großen Spaß, sie zu erlernen. Ich kann auf sieben Sprachen kommunizieren. Hinzu kommen mehrere alte Sprachen wie z.B. Latein, Altgriechisch oder Hebräisch und „Exoten“ wie Esperanto, Ivrit und Jiddisch, die ich gelernt habe. 

Wie kamen Sie von der Theologie zum Coaching?

Ich weiß, dass das mitunter anders gesehen wird, aber ich empfinde diese Verknüpfung als stringent und logisch. (lacht) In der Theologie geht es sehr viel darum, zu verstehen. Ich scherze gerne: Was macht ein Theologe, wenn er ein Gedankengerüst sieht? Er wirft es in die Luft und schießt Löcher hinein. Dies mag eher einen kritischen Geist spiegeln. Man kann es aber auch in Neugierde übersetzen: Hey Du, mein Gegenüber, wie baust Du Dir eigentlich Deine Welt und wie können wir gemeinsam etwas Neues erschaffen? Dahinter steht das theologisch-anthropologische Interesse an dem, was anderen Menschen wichtig ist, was sie wirklich umtreibt und welche Unterstützung sie gebrauchen können, wenn sie an Wendepunkten im Leben sind. Das leisten Coaching und Theologie gleichermaßen. 

Als ich damals, vor etwa 30 Jahren, aus den USA zurückkam, konnte niemand etwas mit meinem amerikanischen Master anfangen. Ich gab dann zunächst Kurse in Business-Englisch für Executives – einen Abschluss in Englisch hatte ich ja auch. Die Firma, für die ich arbeitete, wurde gerade von Amerikanern gekauft. Als ich feststellte und äußerte, dass die Executives bereits sehr gut Englisch sprechen und mich eigentlich gar nicht benötigen, sagte einer von ihnen: „Ich spreche nicht mit Ihnen, um Grammatik zu lernen, sondern weil Sie mir interessante Perspektiven eröffnen, wie ich mit meinen neuen amerikanischen Kollegen umgehen kann, und weil Sie spannende Fragen stellen. Sie sind eigentlich mein Coach.“ Ich fragte mich: Coach? Was ist denn das? 

Ich machte mich dann schlau und fand heraus, dass ich, wenn ich ein Coaching anbiete, das Fünffache von dem verdiene, was ein Englischkurs einbringt. Ich dachte also: Okay, ich mache eine Coaching-Weiterbildung. Die absolvierte ich dann in Freiburg und fand das sehr interessant und spannend. Es ging um Inner Game Coaching. Dessen Begründer, Timothy Gallwey, sprach auf einer Konferenz in der Schweiz. Ich wollte dort teilnehmen, was aber sehr teuer war. Ich rief also den Veranstalter, Peter Szabó, an und fragte, ob ich auf der Konferenz nicht als Übersetzerin arbeiten könnte. Ich war nämlich auch staatlich geprüfte und beeidigte Urkundenübersetzerin für die englische Sprache. Peter Szabó erwiderte, dass er eine Übersetzerin für jemanden namens Insoo Kim Berg gebrauchen könnte. So kam ich mit der Lösungsfokussierung in Kontakt, habe die Passung sofort bemerkt und dachte mir: Hier ist mein Zuhause. 

Ich übersetzte dann zwischen 2001 bis 2007 unzählige Workshops mit Steve de Shazer und Insoo Kim Berg, die den Ansatz begründeten. Später absolvierte ich bei ihnen an der University of Michigan eine Weiterbildung zur Supervisorin.

Wie definieren Sie Lösungsfokussierung im Kontext Ihrer Arbeit?

Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal lösungsfokussierter Arbeit gegenüber anderen Coaching- und Beratungsansätzen besteht darin, dass die Lösungsfokussierung konsequent auf eine Problemanalyse, auf eine Einordnung des Gegenübers in eine Theorie des Coachs oder auf einen Außenblick auf die Klientin bzw. den Klienten verzichtet. Das ist ein radikal ko-konstruktiver Ansatz. Ich konzentriere mich auf die Kooperation mit dem Klienten im Beratungssystem. Ich brauche keine Einordnung meiner Klientinnen und Klienten in eine Theorie. Das ist etwas, was im deutschen Markt wenig verstanden wird. 

Viele denken, Lösungsfokussierung sei eine Art Subsystem systemischer Ansätze. Es gibt systemische Ansätze, die auf Beobachtungen zweiter Ordnung setzen. Da passt es. Es gibt aber auch Systemiker, die das System von außen analysieren und auf Basis ihrer eigenen Sichtweisen Hypothesen bilden. Das würde man in der Lösungsfokussierung nicht machen. Wir arbeiten mit den Klientinnen und Klienten an deren Vorstellungen sowie Wünschen und beziehen ihre Umgebung ein. Das ist zwar ein „systemischer Moment“, aber ein anderer. 

Ein weiterer Punkt, der oft nicht gesehen wird, besteht darin, dass Lösungsfokussierung zwar auf eine Problemanalyse verzichtet, aber nicht problemphobisch ist. Manchmal höre ich Fragen wie: Darf man denn gar nicht mehr über das Problem sprechen? Das ist – mit Verlaub – Quatsch! Wenn ein Klient oder eine Klientin das Problem beschreiben möchte, ist das natürlich erlaubt. Wir hören gut zu. Nur fragen wir nicht, wie das Problem entstanden ist, denn diese Fakten gehören zum Problem und tragen nicht zur Weiterentwicklung bei. Wir denken nicht, dass eine Problemanalyse dem Finden von Entwicklungsmöglichkeiten dienlich ist.

Der Verzicht auf eine Problemanalyse wird oft kritisch gesehen und mitunter gar als gefährlich eingestuft, weil sich hinter einem vordergründigen Anliegen auch etwas Anderes verbergen kann – ein Problem hinter dem Problem. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Anstatt das Problem hinter dem Problem zu suchen, suchen wir in der Lösungsfokussierung das Ziel hinter dem Ziel. Aus der Denkweise heraus, dass es innere psychische Mechanismen gibt, die auf Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen beruhen, verstehe ich die Kritik. Das ist aber eine völlig andere Sichtweise als die sozialkonstruktionistische, die in der Lösungsfokussierung gelebt wird. Was mich manchmal etwas traurig stimmt, ist, dass Kritiker einen Strohmann von der Lösungsfokussierung aufbauen, sie sich von außen angucken und dann meinen: Die werkeln da ein bisschen an den Symptomen herum, ohne das eigentlich wichtige Problem zu verstehen. 

Stattdessen sollte man versuchen, Lösungsfokussierung als sozialkonstruktionistischen Ansatz zu begreifen, der nicht davon ausgeht, dass es „inner states“ gibt, sondern höchstens „intentional states“. Wir differenzieren nicht zwischen innen und außen. Wir gehen davon aus, dass Gefühle, Werte etc. immer in der Interaktion mit anderen Menschen entstehen, sozial konstruiert sind und ohne die Interaktion nicht verstanden werden können. Wer von außen auf ein Problem guckt und es einordnet, der konstruiert aus Sicht der Lösungsfokussierung eine Kausalität. 

Allerdings ist auch dies der Blick eines Ansatzes auf einen anderen und es ist nicht meine Absicht, selber einen Strohmann zu errichten. Mir ist wichtig, dass wir trotz aller Kritik schauen: Was können wir voneinander lernen und wie können wir einander verstehen? Künstliches Abgrenzen von Coaching-Ansätzen empfinde ich als vertane Chance. Es gibt unterschiedliche Wahrheiten und Arten von Wissen aus unterschiedlichen Kontexten. Es sollte daher die Möglichkeit gesehen werden, voneinander zu lernen, anstatt zu fragen, wer recht hat. Letzteres kann ohnehin niemand sagen.

Sie haben ein Buch zum Thema des lösungsfokussierten Team-Coachings publiziert. Ist der lösungsfokussierte Ansatz im Team-Coaching besonders anschlussfähig? 

Wenn ich mit einer Analysebrille auf ein Team blicke, bin ich in zwei Jahren noch nicht fertig. Es ist schon schwierig, einzelne Menschen zu analysieren und in ein System einzuordnen. Als lösungsfokussierter Coach würde ich das ohnehin nicht machen. Wäre ich anders ausgerichtet, würde ich z.B. ein Assessment mit der Person durchführen, um daraus etwas zu lernen. Wenn ich das mit zehn Teammitgliedern machen und die Ergebnisse anschließend in eine Form bringen muss, die es dem ganzen Team erlaubt, unabhängig von den Einzelpersonen etwas über sich als Gruppe zu lernen, wird das sehr kompliziert. 

Viele Team-Coaches, die ich im Rahmen meiner Arbeit als Subject Matter Expert für die Team-Coaching-Zertifizierung der ICF kennengelernt habe, empfinden Team-Coaching als unheimlich komplex. Führe ich das Coaching lösungsfokussiert durch, finde ich es hingegen gar nicht komplex, weil ich jedes Teammitglied nur fragen muss: „Nehmen wir an, Sie kämen jeden Tag fröhlich zur Arbeit und wären gewillt, Ihr Bestes zu geben. Wie sehe das aus? Woran würden Sie das merken?“ Die geäußerten Visionen kann ich dem Team additiv zur Verfügung stellen. Dabei handelt es sich um Umschreibungen wie: „Ich würde es daran merken, dass wir besser miteinander umgingen und klarere Zuständigkeiten hätten.“ Damit kann man dann arbeiten und z.B. weiterführend fragen: „Wenn Sie nun den nächsten Schritt machen würden, wie sehe das aus? Was ist davon schon vorhanden? Was müssten Ihre Führungskraft und Sie alle gemeinsam tun, um dies noch zu fördern?“ Selbst dann, wenn es im Team Konflikte gibt, komme ich mit der Frage, wie es wäre, wenn es besser wäre, einfacher voran als mit der Frage, wer wann was gemacht oder gesagt hat. Brainstorming statt Blamestorming.

Demnach liegt der Vorteil der Lösungsfokussierung in der Reduzierung von Komplexität?

Das Gute an der Lösungsfokussierung ist, dass sie komplexitätsreduzierend wirkt, ohne falsch zu liegen, weil wir niemanden in ein System einordnen. Wir stellen keine Teamrollen oder Konzepte vor und sagen dem Team dann, dass es sich unserem komplexitätsreduzierten Modell anpassen muss. Modelle reduzieren ebenfalls Komplexität. Wir arbeiten ohne Modelle und reduzieren Komplexität, indem wir die Leute in ihrer Realität fragen, was sie gerne anders gestalten würden und was darauf hinweist, dass sie das können.

Kirsten Dierolf © Kristina Karaičić

Kirsten Dierolf © Kristina Karaičić

Wer sind Ihre Coaching-Klienten und welche Themen bringen diese ins Coaching mit?

In der letzten Zeit kommen überwiegend Executives mit Entwicklungsthemen und Teams aus verschiedensten Industrien in mein Coaching. In der Führungskräfteentwicklung gehe ich folgendermaßen vor: Zum Start führe ich meistens ein verbales 360-Grad-Feedback durch. Ich interviewe Vorgesetzte, Peers sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Führungskraft. Auf dieser Basis eruiere ich, an welchen Themen die Führungskraft arbeiten könnte. Gemeinsam legen wir dann fest, welche Anliegen im folgenden Coaching-Prozess behandelt werden sollen. Diese sind sehr unterschiedlich und können z.B. den Umgang mit originellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreffen. Häufig geht es auch um politische Fragen bzw. um den Umgang mit unternehmensinterner Politik. Wie kann ich – unter Aufrechterhaltung meiner Integrität und zum größtmöglichen Nutzen möglichst vieler Menschen – Themen so platzieren, dass sie in einem großen Unternehmen interkulturell und global gehört werden? Wie schaffe ich es, im Unternehmen eine gute Atmosphäre zu schaffen? Es können ebenso Anliegen aus dem Bereich Team-, Abteilungs- oder Unternehmensführung sein, die in Richtung psychological safety oder Innovation gehen.

An der SolutionsAcademy, deren Gründerin und Inhaberin Sie sind, bieten Sie Aus- und Weiterbildungen im Bereich Coaching an. Was sollen die Absolventen mitnehmen?

Sie nehmen zunächst einmal die Voraussetzungen zur Zertifizierung durch die ICF mit. Was wir sehen ist, dass die Absolventinnen und Absolventen unserer grundlegenden Ausbildung nach 60 Stunden zum Großteil schon dazu in der Lage sind, Coaching-Prozesse lösungsorientiert und fundiert zu begleiten. Natürlich fehlt es ihnen noch an Erfahrung, aber sie sind auf einem guten Lernweg. Als aufbauende Weiterbildung bieten wir „Coaching in Organizations“ an. Hier lernen die Teilnehmenden, was man als Business-Coach braucht: Team-, Führungskräfte- und Konflikt-Coaching sowie Coaching im Organisationskontext. Bei der Coaching-Masterclass geht es nochmals intensiver um Coaching im 1:1-Bereich, sprich darum, z.B. Executives im Einzel-Setting zu begleiten.

Welche spezifischen Fähigkeiten vermitteln Sie Team-Coaches?

In der Lösungsfokussierung ist der Übergang vom Einzel- zum Team-Coaching nicht so schwer. Es wird zunächst behandelt, wie eine gute Auftragsklärung vorgenommen wird und wie mittels Einzelinterviews mit den Mitgliedern additive Ziele für das ganze Team erhoben werden. Dann vermitteln wir Techniken für die Arbeit mit Gruppen und Teams, die z.B. den Zugang zu Ressourcen und vergangenen Erfolgen eröffnen, Moderationsmöglichkeiten für die Erstellung eines Wunderbildes bzw. einer Vision, für die Ergebnissicherung und für Follow-ups. Wir thematisieren zudem den Umgang mit schwierigen Situationen und Konflikten im Team. Auch das Thema psychological safety spielt eine Rolle: Wie coache ich Teams dahingehend, dass jede und jeder sich gut aufgehoben fühlt und den eigenen Standpunkt stets angstfrei vertreten kann, sodass sich die Mitglieder gemeinsam auf den Weg machen können?

Sie lehren zudem im Studiengang Supervision an der Evangelischen Hochschule Freiburg. Wie wichtig ist Supervision im Coaching?

Ich würde mir sehr wünschen, dass Supervision häufiger vorkäme. Jede Person, die mit Menschen arbeitet, kann von Supervision profitieren. Hat man einen Reflexionspartner, mit dem man ergründen kann, was es über die eigene Person und die eigene Identität als Coach zu lernen gibt oder wie man mit schwierigen Situationen umgehen kann, ist das sehr hilfreich – sowohl für die eigene Selbstfürsorge als auch hinsichtlich der Qualitätssicherung im Coaching und mit Blick auf den guten Umgang mit den Klientinnen und Klienten. Das muss nicht jede Woche sein, aber ich finde es sehr sinnvoll, sich für 35 durchgeführte Coaching-Stunden eine Stunde in Supervision zu begeben, wie es der European Mentoring and Coaching Council (EMCC) empfiehlt.

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