Der Coach ist ein Meister seiner Situation, der alles dafür tut, dem Klienten ein Wissen um ein Nichtwissen beizubringen, das dieser Klient erst in dem Moment, in dem die Möglichkeiten des Coachings ökonomisch und politisch, pädagogisch und moralisch voll ausgenutzt sind, auch auf den Coach anwendet. Soll heißen: Dass für den Coach bereits gelten muss, was er dem Klienten erst noch beizubringen versucht, ist offenbar nur selten ein Gedanke, mit dem der Klient auch den Coach zu fassen bekommt.
Nichtwissen steht für den Coach am Anfang und für den Klienten am Ende, doch zwischen diesen beiden Punkten entfaltet sich ein Wissen um die Komplexität der Situation des Coachens ebenso wie der Situation, in der der Klient steckt, das einzigartig ist. Schritt für Schritt werden Möglichkeiten ausgetestet, eine komplexe Situation in Aspekte, Phasen und Brüche aufzulösen, die ebenso viele Schnittstellen freigeben, an denen ein Handeln und Denken so, aber auch anders, ansetzen und sich mit einem Gefühl und Wissen um seine eigenen Alternativen anreichern kann. Schritt für Schritt wird erarbeitet, dass jede noch so komplexe Situation ihrerseits Moment einer Sequenz, eines Möglichkeitenpfades ist, die nicht nur unterschiedlich punktiert werden kann, wie Paul Watzlawick gezeigt hat, sondern die immer wieder mit einer Ambivalenz angereichert ist, die nicht etwa ein Zeichen für die unvollkommene Uneindeutigkeit der Situation ist, sondern ein Zeichen für deren ökologische Intelligenz, ein Zeichen für deren Fähigkeit, Impulse und Gelegenheiten aufzugreifen, auf die man angewiesen ist, ohne sie selbst geben oder produzieren zu können.
Wie macht man das? Es geht darum, ein mögliches Managementwissen für Coachs zu entwickeln, und dies im Rahmen der Vermittlung einer Idee, welches (theoretische) Rüstzeug man braucht, um komplexe organisatorische Zusammenhänge zu verstehen. Ich denke, dass es hilft, Gelassenheit gegenüber Komplexität zu entwickeln, denn Komplexität ist definitionsgemäß ebenso unübersichtlich wie unverständlich. Es macht keinerlei Sinn, die eigenen Bemühungen angesichts von Komplexität, eben weil es so aussichtslos ist, zu verdoppeln, weil man damit zwar die eigene Überforderung steigert, aber nicht das eigene Verstehen.
Komplexe Phänomene sind nicht einfach „schwierige“ Phänomene, sondern sie sind wegen der Anzahl der beteiligten Elemente, wegen der Heterogenität dieser Elemente und wegen der Vielzahl sich auch noch laufend ändernder und natürlich ebenfalls heterogener Beziehungen zwischen diesen Elementen, so die knappe Definition von Niklas Luhmann, prinzipiell vom menschlichen Bewusstsein nicht zu erfassen – so sehr wir uns auch gegen diese Einsicht sträuben mögen. Komplexe Phänomene sind gleichzeitig, das kommt den bisherigen Überlegungen entgegen, Phänomene, die wir zwar nicht verstehen, mit denen wir jedoch gleichwohl interagieren können, und dies mithilfe von Beobachtungen, die darauf hinauslaufen, Erfahrungen mit Erwartungen abzugleichen und diese Erwartungen dementsprechend laufend zu korrigieren. Das jedoch kann man nur, wenn man in der Lage ist, das eigene Wissen im Kontext von Nichtwissen laufend zu reevaluieren und zu diesem Zweck vom eigenen Nichtwissen und nicht vom Wissen auszugehen.
„Kontrolle“ ist der dafür von der Kybernetik vorgeschlagene, hier angelsächsisch und nicht teutonisch zu verstehende Begriff: Man kontrolliere sich selbst, indem man nachträgt, welche Beobachtungen man macht und wie sie mit den eigenen Erwartungen übereinstimmen beziehungsweise von ihnen abweichen, um daraus Schlussfolgerungen für sich erst noch zu bewährende weitere Erwartungen zu ziehen. Aus Komplexität ergibt sich auf dem Umweg über die Kybernetik ein Managementwissen, das in dieser Prozeduralisierung des Vorgehens im Medium der eigenen Ziele seine Pointe hat. Wohlgemerkt: im Medium der eigenen Ziele! Wir sprechen nicht davon, dass Coaching oder gar Management darauf hinausläuft, seine Ziele zu kennen und unbeirrt durch sich selbst und durch andere zu verfolgen. Sondern wir sprechen davon, diese Ziele wie der „Stalker“, der „Pfadfinder“, in Andrej Tarkovskys gleichnamigem Film (UdSSR, 1982) seine Steine immer ein Stück weiter zu werfen, um ihnen nachzugehen und sie dann neu zu werfen. Nur so kann man Zielstrebigkeit und Wachsamkeit miteinander kombinieren. Und genau darauf kommt es an.
Wenn man Ziele zu Formen degenerieren lässt, hat man nur die Wahl zwischen den beiden Möglichkeiten, sie entweder zu erreichen oder zu verfehlen. Das ist eine strukturell eher arme Situation. Wenn man diese Formen jedoch medialisiert, das heißt aus ihrer Verdinglichung in die lose Kopplung zurückübersetzt, aus der sie gewonnen sind, gewinnt man die Möglichkeit, aus dem Verfehlen und aus dem Erreichen der Ziele Schlussfolgerungen abzuleiten, die über die Situation Auskunft geben, in der man sich befindet. Die Situation wird strukturell reich, weil man im Medium der Ziele nicht nur Mittel mit Mittel, sondern auch Ziele mit Zielen vergleicht und so die Situation für unterschiedliche und unvorhergesehene Ausgänge und Fortsetzungen öffnen kann.
Die Wiedereinführung dieser Art eines gelassenen Umgangs mit Komplexität in die komplexe Organisation erreicht der Coach, wenn er ein Meister seines Faches ist, auf drei Wegen, auf dem Wege des Redens, des Führens und des Gestaltens.
Für den ersten Weg ist die Situation des Coachens selbst entscheidend. Coachen heißt im Wesentlichen, miteinander zu reden. Dass durch „bloßes Reden“ überhaupt etwas in Bewegung gesetzt werden kann, gehört zu den Wundern der menschlichen Gesellschaft, über die sich schon Heinz von Foerster anlässlich seiner Beobachtung einer familientherapeutischen Sitzung gebührlich gewundert hat: Er saß hinter einem Einwegspiegel, unsichtbar für die Familie und ihren Therapeuten, und beobachtete bei abgeschaltetem Ton die Pantomime der Körperhaltungen. Es kam zu Anspannungen und Entspannungen, Zuwendungen und Abwendungen, obwohl nichts anderes geschah als Lippenbewegungen, die offensichtlich der Produktion von Geräuschen entsprachen. Die so genannte „Immaterialisierung“ der Gesellschaft, sie musste nicht auf den Film oder den Computer warten, sondern hat bereits in der Sprache ihre ersten Anhaltspunkte, was, nebenbei bemerkt, deutlich macht, wie unsinnig der Begriff der Immaterialisierung ist.
Sigmund Freud hat diese Situation des Redens für seine Psychoanalyse der Traumdeutung präzise beschrieben und in das Zentrum von Therapie und Beratung gerückt: Der Patient wird in eine ruhige Lage gebracht und eingeladen, sich selbst, seine Gedanken, Vorstellungen und Erinnerungen zu beobachten, ohne dabei, wie sonst, seine „wahrgenommenen Gedankenbildungen“ einer mitlaufenden Kritik zu unterziehen und nur diejenigen ernst zu nehmen und auszusprechen, die die Zensur passieren. Der entscheidende Punkt dabei ist eine Art parallel laufende Zerstreuung und Sammlung von Aufmerksamkeit, die durch die körperliche Abwendung vom Therapeuten und das Schließen der Augen unterstützt wird.
Paul Watzlawick vermutet, dass mit Hilfe dieser Methode nicht nur die Aufmerksamkeit des Patienten auf sich selbst, sondern auch seine Aufmerksamkeit auf minimale Signale des Therapeuten gesteigert wird, auf die Geräusche des Stifts auf dem Notizblock, Änderungen der Sitzhaltung und schließlich die tiefen Atemzüge des eingeschlafenen Therapeuten. Wir können mit dieser Technik des Wandernlassens einer schwebenden Aufmerksamkeit mittlerweile so gut umgehen, dass der Coach auf die Couch verzichten kann und man sich von Angesicht zu Angesicht unterhalten kann, wäh rend die Situationen eruiert werden, in denen der Klient steckt und zu denen er den Rat des Coachs sucht.
Es geht jedoch nach wie vor um ein therapeutisches Reden, in dem thematisiert werden kann, was weder mit Kollegen, noch mit Freunden und Familienmitgliedern thematisiert werden kann, und in dem die jetzt direkt beobachtbaren Reaktionen und Nicht-Reaktionen des Coachs einen Teil der Lebendigkeit und Undurchschaubarkeit der Situation simulieren, mit denen es der Klient draußen zu tun hat. Mit Kollegen, Freunden und Familienmitgliedern ist Selbiges nicht zu besprechen, weil es hier immer schon darum geht, sich in Positur zu setzen und seine eigenen Netzwerkidentitäten so zu pflegen, dass Kraft und Mut für Weiteres gefunden werden kann, aber auch ein Image aufgebaut werden kann, das vor Angriffen schützt beziehungsweise bestimmte Angriffsflächen anbietet und andere dem Blick entzieht.
Ich will damit nicht sagen, dass man sich dem Blick des Coachs schutzlos offenbart. Eher ist das Gegenteil der Fall. Hier wird erst recht geübt, wie man sich draußen bewähren kann. In der Situation des Coachens gehen jedoch alle Beteiligten von Vorneherein davon aus, dass es um diese Übung geht, in der man sich dabei zuschauen kann, wie man Schutz sucht und aufbaut, und schauen sich deswegen gemeinsam an, über welche Techniken und Mechanismen der „Presentation of Self in Everyday Life“ (Erving Goffman) der Klient verfügt und über welche möglicherweise hilfreichen noch nicht. Man konzediert sich seine Tricks und schaut sich an, unter welchen Umständen sie funktionieren und unter welchen anderen Umständen man besser auf sie verzichten und sie durch andere ersetzen sollte.
Das Reden ist hier vor allem dazu erforderlich, vom Handlungsdruck entlastet die Zeit zu nutzen, sich Situationen nicht nur aus der Perspektive des Klienten, sondern auch aus der Perspektive anderer Beteiligter anzuschauen. Dem Klienten wird so eine Dynamik der Beobachtung zweiter Ordnung, der Imitation und Abweichung, der rivali sierenden Imitation bewusst, die für ihn unbewusst immer schon maßgebend ist, die ihn jedoch, solange ihm nicht klar ist, inwieweit er ihr immer wieder auf den Leim geht, zu Reaktionen und Reaktionsmustern verleitet, die er anschließend nur Anlass hat, zu bedauern. Man müsste sich genauer anschauen, wie Coach und Klient in ihrer jeweiligen Gesprächssituation und -haltung Erfahrungen mit und Techniken für Strukturaufstellungen nutzen, um sich jeweils die Dynamik der sozialen Strukturen vor Augen zu führen, die sie zu thematisieren versuchen.
An einer solchen Herangehensweise ist nichts selbstverständlich, es müsste im Rahmen einer ausgearbeiteten Theorie des Coachens alles untersucht werden. Vor allem wäre es interessant zu wissen, wann welche Formen der zeitlichen Beschleunigung und Verzögerung, des Wechsels der sozialen Perspektive und der sachlichen Vertiefung und Verflachung sich bewähren. Ich glaube nicht, dass es hier Standardformen und entsprechende Rezepte gibt. Aber ich denke, dass es sich lohnen würde, einmal genauer hinzuschauen, um vor diesem Hintergrund dann herauszufinden, wie der individuelle Coach sein Vorgehen variiert und profiliert. – Aber wie soll man hinschauen und Antworten auf diese Fragen finden, wenn wohl kaum eine Situation empfindlicher auf die Beobachtung durch Dritte reagiert als die des Coachens?
Aber nicht auf das Reden kommt es dem Coach an, sondern auf das Führen und Gestalten. Unter präziser Ausnutzung des Prinzips der Selbstähnlichkeit (Fraktalität), dem gemäß in der Situation des Coachens strukturell dieselbe Dynamik der Beobachtung zweiter Ordnung herrscht wie in allen anderen sozialen Situationen auch, loten Coach und Klient gemeinsam aus, mit welchen Chancen des Führens und Gestaltens man es in welchen Situationen zu tun hat. Dabei werden wiederum beide Perspektiven eingenommen, die des Führenden und die des Geführten, wo bei jeder einzelne Beteiligte grundsätzlich, und so lange man es mit organisiertem sozialen Handeln zu tun hat, immer in beiden Rollen vorzustellen ist, in der Rolle des Geführten gegenüber seinen Vorgesetzten und in der Rolle des Führenden gegenüber seinen Mitarbeitern.
Unter dem Gesichtspunkt des Führens wird die soziale Situation der Beteiligung unterschiedlicher Perspektiven in Augenschein genommen, unter dem Gesichtspunkt des Gestaltens die sachliche Situation der jeweiligen Arbeits- und/oder Projektaufgabe. Beide Gesichtspunkte werden temporal rekonstruiert, und hier kommt jene prozedurale Form des Umgangs mit Komplexität zum Zuge, die wir eingangs geschildert haben. Mit anderen Worten, die als Gespräch und Beratung gerahmte Situation des Coachings wird genutzt, um jenes Nichtwissen zu mobilisieren, das in einer komplexen Situation weiterhilft, indem es diese Situation in einzelne Elemente, vor allem aber Schritte und Phasen auflöst (Analyse) und wieder zusammensetzt (Synthese).
Das Nichtwissen ist die Einsatzbedingung für die Analyse der Entwicklung einer Situation, weil diese Einsatzbedingung es ermöglicht, sich jedes einzelne Ereignis innerhalb dieser Entwicklung in seiner Ambivalenz, in seiner Riskanz, vor allem jedoch in seiner Offenheit und Unvorhersehbarkeit anzuschauen. Nur deswegen ist Führen ja nötig und Gestalten möglich: Jedes einzelne Ereignis kombiniert Bestimmtheit im Hinblick auf seine Herkunft mit Unbestimmtheit im Hinblick auf seine Zukunft. Wer diese Kombination von Bestimmtheit und Unbestimmtheit nicht nachvollziehen kann, wird weder für die Kombination von Vorwegorientiertheit und Orientierungsbedarf aller Beteiligten noch für die Kombination von Pfadabhängigkeit und Inspiration in jeder sachlich motivierten Entscheidung Verständnis aufbringen und daher weder führen und sich führen lassen noch gestalten und sich gestalten lassen können.
Das Ziel allen Coachens ist daher die Öffnung der thematisierten Situationen für einen Blick auf die zum Teil durchschauten und bewusst genutzten, zum Teil undurchschauten und dennoch ausgenutzten Verfahren der Selbstherstellung, Identitätsbestätigung und Weiterentwicklung, die für komplexe Situationen typisch sind. Der Klient wird in die Lage versetzt, sich seine Rolle in der Interaktion mit der Black Box der komplexen Situation vor Augen zu führen und diese Interaktion hinfort sowohl in ihren überraschenden Qualitäten besser nutzen als auch für sich selbst besser abschätzen zu lernen.
Die Moral dessen, worum es dem Coaching geht, lehrt uns bereits die Quantenmechanik, mit der die Systemtheorie, auf deren Überlegungen ich mich hier weit gehend bezogen habe, mehr gemeinsam hat, als vielfach angenommen wird. Die Quantenmechanik löst die klassische, Newtonsche Welt der Kräfte und Elemente durch die postklassische, Einsteinsche Welt der Ereignisse und Operationen ab. Ausgehend von der prinzipiellen Unentscheidbarkeit jeder einzelnen aktuellen Situation spricht sie von Formen der Selbstorganisation, in denen schwache Voraussetzungen (die „Umwelt“) in starke Restriktionen (das „System“) umgesetzt und von diesen ausgenutzt werden.
Interessanterweise korreliert dies mit einer liberalistischen Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft, die vom Individuum die Stärke zur freien Definition seiner Situation verlangt, während sie gleichzeitig dessen Blick für die nur schwache, aber nichtsdestotrotz vorhandene ökologische Determination seiner Situation öffnet. Seither bewegen wir uns in einer frei konstruierten Welt, die nicht nach unserer, sondern nach ihrer Pfeife tanzt und in der unsere Freiheit identisch ist mit unserer Verantwortung. Und mehr kann der Coach dem Klienten gar nicht vor Augen führen.
Aber die Begründung für die Rolle des Coaching im gegenwärtigen Prozess der Umstellung von einer institutionellen Welt formaler Organisationen auf eine fließende Welt der Netzwerkorganisation kommt auch ohne die Emphase aus, die mit Begriffen wie Freiheit und Verantwortung angedeutet wird. Der Mathematiker Louis H. Kauffman hat schon vor über zwanzig Jahren unter Rückgriff auf die Mathematik von George Spencer-Brown und in der Auseinandersetzung mit Ideen der Quantenmechanik gezeigt, dass man eine unbestimmte Gleichung in eine bestimmte umformen kann, indem man Beobachter einführt, die dort Entscheidungen treffen, wo die Verhältnisse selbst unentscheidbar sind. Coaching in komplexen Organisationen heißt dann, dem einzelnen Mitarbeiter die Augen dafür zu öffnen, dass er oder sie und niemand anderer dieser Beobachter ist. Damit wird der im Begriff schlichte, doch in der Praxis dramatische Organisationswandel vom beobachteten Mitarbeiter zum beobachtenden Mitarbeiter zu vollziehen. Komplexität ist nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Einsatzbedingung dieses Mitarbeiterverständnisses.
Eine systemisch gestimmte Organisationsberatung kommt mit diesem Selbstverständnis des Coachens an neuartiger Stelle auf eine ihrer historischen Ausgangsformen zurück. Hatte man im Zweiten Weltkrieg entdeckt, dass die Gruppentherapie wirksamer als die Einzelfallpsychoanalyse ist, und hatte man sich anschließend darauf konzentriert, Organisationen aller Art beizubringen, dass sie nicht kausal-mechanische, sondern sozial-kommunizierende Systeme sind, gleichsam um sie auf diese Art aktiv und passiv therapiefähig zu machen (das nennt sich „Organisationsentwicklung“), so geht es dem jüngeren Interesse an Coaching darum, das Individuum wieder aus der Organisation herauszulösen, um ihm erfahrbar zu machen, an welcher Stelle es für diese Organisation unverzichtbar ist.
Mit dieser Stelle haben die klassische Organisationstheorie und Betriebswirtschaftslehre nicht gerechnet. Dank der Komplexitätstheorie im Allgemeinen und der Quantenmechanik im Besonderen weiß man jedoch, dass man mit dieser Stelle nicht nur rechnen kann, sondern auch rechnen muss. Eine der wenigen Voraussetzungen dazu ist die Transformation von Komplexität in Verfahren. Denn in Verfahren bringt sich der Beobachter zur Geltung, der von der Komplexität überfordert ist.
Diese Transformation kann in Coaching-Sitzungen geübt werden. In der Coaching-Sitzung fließen und schweben die Aufmerksamkeit des Klienten und des Coachs so frei, wie es der unbestimmten Komplexität der Situation der Organisation angemessen ist. Nimmt man hinzu, dass die Coaching-Sitzung nicht in Gefahr gerät, mit einer Situation verwechselt zu werden, in der bereits Entscheidungen getroffen werden könnten, versteht man, warum wir es gegenwärtig mit einem Coaching-Boom zu tun haben: Die klassische systemische Organisationsberatung musste mit einem hohen Kommunikationsaufwand dafür sorgen, dass Workshops und andere Gruppenformate der Reflexion von Organisationsentwicklungsmaßnahmen zum einen als Voraussetzung der Organisationsentwicklung erkannt wurden, zum anderen jedoch noch nicht mit dieser verwechselt wurden.
Beim Coaching liegen der Schnitt und Unterschied zwischen einer Coaching-Sitzung einerseits und dem Agieren und Kommunizieren in der Organisation andererseits auf der Hand. Das Transmissionsproblem jeder eventuell gewonnenen Einsicht in die Komplexität der Organisation für das Treffen einer Entscheidung innerhalb der Organisation steht allen Beteiligten deutlich vor Auge. Es kann daher zu einem Fokus des Nachdenkens und Besprechens gemacht werden, der seinerseits ein weiteres Mal absichert, dass diese Komplexität nicht unterschätzt, sondern als Terrain des eigenen Handelns eingeschätzt wird.
Coaching ist daher die Form, der Organisation in der Form des Mitarbeiters eine selbstbestimmungsfähige Unbestimmtheit zur Verfügung zu stellen, die die Voraussetzung dafür ist, dass die Organisation beginnen kann, ihre eigene Komplexität nachhaltig fruchtbar werden zu lassen.
Der Rest ist eine Frage der Form. Coaching bedeutet, die Persönlichkeit, das heißt die Selbstbestimmungsfähigkeit eines Managers und Mitarbeiters so sich entfalten zu lassen, dass er oder sie sich im Unterschied zur eigenen Mitgliedschaftsrolle, diese im Unterschied zum Führungsverhalten, dieses im Unterschied zur Karriere, diese im Unterschied zur Organisation, diese im Unterschied zur Gesellschaft und diese im Unterschied zum unmarkedstate zu beobachten. Mithilfe der von George Spencer-Brown (s. Kasten) entwickelten Notation kann man dies in eine Formel bringen, die die kommunikative Abhängigkeit der für das Coaching entscheidenden Variablen auf einen Blick sichtbar macht. Die kommunikative Abhängigkeit bedeutet, dass die Werte der Variablen nicht deduziert, nicht kausal abgeleitet, nicht in Handbüchern nachgeschlagen werden können, sondern in der Situation selber, das heißt im Gespräch zwischen Coach und Klient gesucht, erörtert, erprobt und bestimmt werden müssen.
George Spencer-Brown, geb. 1923, ist ein britischer Mathematiker, der in den 1960er Jahren für British Railways eine Zählmaschine konstruierte, die rückwärts und vorwärts zählen konnte, um beim Rangieren sicher sein zu können, dass Waggons, die in einen Tunnel hineingefahren waren, auch wieder herausgekommen sind. Dabei verwendete er, wie unter Ingenieuren selbstverständlich, imaginäre Zahlen, die das Ergebnis der Wurzel aus -1 sind.
Sein 1969 publiziertes Buch The Laws of Form, das zahlreiche Neuauflagen erlebte und seit 1997 auch in einer deutschen Übersetzung (ISBN: 978-3-89094-321-3) vorliegt, ist dann der Versuch, die Möglichkeit dieses Rechnens mit imaginären Zahlen innerhalb der Booleschen Algebra logikfähig zu machen. Dabei gelang Spencer-Brown zur Begeisterung von Bertrand Russell und Heinz von Foerster die Konstruktion eines Kalküls, das sowohl die Selbstreferenz als auch die Zeit rechenfähig macht und dazu wenig mehr benötigt als die explizite Einführung – besser gesagt: die Selbstentdeckung – des Beobachters.
Man kann die Formel von links nach rechts, aber auch von rechts nach links lesen. Von links nach rechts liest man Variablen, die in Kontexten stehen, die ihrerseits variabel sind und deren letzter keine Antwort auf alle etwa noch offenen Fragen ist, sondern auf eine Gesellschaft verweist, die durch bestimmte Strukturen ebenso wie durch unbestimmte Entwicklungen gekennzeichnet ist. Wem das zu wenig ist, der rückt ein weitere Stelle nach rechts – und entdeckt dort die unmarkierte Außenseite der Form, die die einen mit Geistern, Teufeln und Göttern bevölkern, die anderen mit dem Schicksal, dem Zufall, den glücklichen Umständen oder auch nur der unbekannten Zukunft.
Mehr braucht man nicht zu wissen: Sechs Variablen, konfiguriert durch sieben Konstanten, nämlich ihre jeweilige Unterscheidung, genügen, um die Komplexität der Situationen, die das Coachen veranlassen, zu beschreiben. Aber jede dieser Variablen ist eine Variable, die nur auf dem Umweg über die Bestimmung aller anderen Variablen bestimmt werden kann. Und keine der Variablen steht in einer kausal eindeutigen Beziehung zu allen anderen. Stattdessen ist ihr Verhältnis ein kommunikatives, ein Verhältnis der Abhängigkeit zwischen unabhängigen Elementen. Aber immerhin ist die Situation, auf die das Coaching reagiert, dadurch nicht nur komplex, sondern auch wiedererkennbar. Dass das eine mit dem anderen zusammen geht, erkennt man jedoch erst, seit man sich traut, postklassisch, das heißt auf der Grundlage von Unbestimmtheit und daher Bestimmbarkeit und von Unentscheidbarkeit und daher der Möglichkeit der Entscheidung zu denken. Das Coaching rückt den Mitarbeiter in einer komplexen Situation dort ein, wo sich bislang nur wagemutige Mathematiker tummelten und keine Logiker hintrauten. Das macht es so spannend.