Team-Coaching wird derzeit häufig zugeschrieben, an Bedeutung zu gewinnen. Vertreter dieser These verweisen in der Regel auf VUCA-Herausforderungen wie steigende Komplexität oder Unsicherheit. Im Umgang mit diesen Herausforderungen komme selbstorganisierten und eigenverantwortlich handelnden (agilen) Teams in den Unternehmen eine zentrale Rolle zu. Lenz (2019, S. 1) beschreibt die Begleitung von Teams als ein „wichtiges Entwicklungsfeld für die Professionalisierung von Coaching in disruptiven Zeiten“.
Eine weitere These: Arbeit werde öfter als in der Vergangenheit in netzwerkartigen Strukturen und zeitlich begrenzten Projekten stattfinden. Im Resultat komme es zu häufigen Auflösungen bestehender sowie zu Gründungen neuer Teams – in neuen personellen Zusammensetzungen und mit veränderten Rollen der Teammitglieder. Konflikte sind nur eine von mehreren möglichen Folgen, die Coaching-Bedarf bedingen können (siehe dazu auch Wurth, 2018).
Mit dem hier beschriebenen Praxisfall eines Projekt-Teams in Gründung wird ein Team-Coaching illustriert, das im Sinne von Teamentwicklung zu verstehen ist. Zunächst ist jedoch zu fragen: Worin besteht der Unterschied von Gruppen und Teams? Was ist unter Teamentwicklung zu verstehen?
Als Team bezeichnet man einen Zusammenschluss von mehreren Personen zur Erreichung eines bestimmten und gemeinsamen Ziels. Der Begriff der Gruppe bezeichnet hingegen eine Zusammenkunft von mehreren Personen, wobei die Arbeitsgruppe im arbeitsrechtlichen Sinne Menschen meint, die gemeinsam in einem Betrieb und innerhalb einer Abteilung eine gemeinsame Arbeit ausführen. Teamentwicklung betrifft den allgemeinen Veränderungsprozess in der Zeit der Zusammenarbeit, so dass zwecks des Erhalts eines theoretischen Bezugsrahmens und zur Einordnung einzelner Veränderungsschritte u.a. auf die Teamentwicklungsphasen von Tuckman sowie auf die Teamrollen nach Margerison und McCann zurückgegriffen werden kann (Meier, 2012).
Das Modell der Teamentwicklungsphasen nach Tuckman (1965) soll an dieser Stelle skizziert werden, um den Teamentwicklungsprozess im folgenden Praxisfall besser nachvollziehen zu können. In der (1) Formingphase versuchen die Teammitglieder, sich in Bezug auf interpersonelle sowie aufgabenbezogene Aspekte Orientierung zu verschaffen. Es folgt die (2) Stormingphase, die durch Konflikte und Polarisierung innerhalb des Teams gekennzeichnet ist. Ist diese kritische Phase überstanden und werden neue Standards der Zusammenarbeit etabliert sowie die Rollenverteilung geklärt, so ist die (3) Normingphase erreicht. Diese mündet in die (4) Performingphase, welche dadurch gekennzeichnet ist, dass das Team und seine Struktur in Bezug auf die Aufgabenerledigung funktional werden.
Der im beschriebenen Fall vollzogene Teamentwicklungsprozess verlief in sieben Schritten. Diese wurden durch Coaching begleitet und unterstützt:
Fünf Personen haben eine Aufgabe bekommen, die sie innerhalb von sechs Monaten gemeinsam bestmöglich lösen müssen. Alles ist Neuland, weil sie sich überhaupt nicht kennen und daher nicht wissen, wer welchen Charakter einbringt und wie kompetent jeder in Bezug auf die Aufgabenlösung ist. Nach Tuckman befindet sich das Team in der Formingphase und versucht, Orientierung zu gewinnen – bezüglich der Kollegen und der Aufgabenstellung. Da sich die Fünf freiwillig für die Aufgabe gemeldet haben, ist eine positive Grundhaltung vorhanden. Sie freuen sich, sind neugierig, hoffen zu brillieren. Entsprechend äußern alle, als der Coach sie nach ihren Erwartungen bezüglich der Zusammenarbeit fragt, dass sie keineswegs mit arroganten oder faulen Kollegen zusammenarbeiten wollen, weil das die gemeinsame Arbeit sehr belasten oder gar blockieren würde. Dem Coach wird das Coaching-Thema genannt („Projekt x in Bestleistung“) und kurz von allen erklärt, was jeder darunter versteht und von dem Projekt erwartet. Das ist noch sehr minimalistisch und bedarf der Konkretisierung.
In der Zusammenarbeit mit dem Coach wird den Teammitgliedern zunächst Freiraum geschaffen, um sich sowohl menschlich als auch fachlich kennenzulernen. Erste Sympathiebekundungen, aber auch skeptische Einstellungen sind spürbar, weil alle bisher alleine gearbeitet haben. Sodann wird detaillierter auf die Aufgabe eingegangen und das gemeinsame Verständnis von dieser geklärt. Keiner der Fünf stand bereits vor einer vergleichbaren Aufgabe. Es besteht daher kein fundiertes Fachwissen, stattdessen bringen die Teammitglieder allenfalls Anregungen zur Aufgabenbewältigung ein. Diese Kompetenzlücke müssen sie schließen, um erfolgreich zu sein.
Das Veränderungsthema ist in normaler Zeit dargelegt, der Ist-Zustand erklärt, notiert und bewertet. Nun sind alle beteiligten und betroffenen Personen benannt, die Themen zugeordnet, die Arbeits- und Informationsprozesse sowie Kompetenzdefizite skizziert. Die Erkenntnis ist, dass die Aufgabe komplex und schwierig werden wird, weil alles neu und scheinbar keine aufgabenspezifische Kompetenz vorhanden ist. Alle wirken nervös und betonen, dass sie Struktur und Durchblick benötigen, aber guter Dinge sind. Dieser Hinweis ist eine gute Überleitung zum Sollzustand.
Da in zwei Tagen das Briefing des Auftraggebers stattfindet, müssen sich die Fünf auf das Meeting vorbereiten. Sie müssen sich so präsentieren, dass sie als genau die richtigen Personen für den Auftrag wahrgenommen werden, weil sie …
Eine Präsentation muss erarbeitet, kontrolliert und eingeübt werden. Zur Selbstreflexion und Unterstützung des Teamgefüges stellt der Coach zudem Fragen (hypothetische, offene und geschlossene Fragen), anhand derer sich die Fünf im Vorfeld der Präsentation selber bewerten können („Was lief bisher gut, was ist noch verbesserungswürdig und wie können sie sich verbessern?“).
Während des Meetings ist der Coach anwesend, beobachtet die Beteiligten und fragt die Teammitglieder im unmittelbaren Anschluss, was das Meeting gebracht hat, ob sie an alle Aufgaben und offenen Punkte gedacht haben. Waren die Fünf eine Einheit? War das Verhältnis zum Auftraggeber respektvoll?
Sie sind erleichtert, weil der Auftraggeber klare Vorstellungen hat, sehr sympathisch ist und hilfsbereit seine eigenen Informationen zur Verfügung gestellt hat. Er möchte anhand der Präsentation von Zwischenergebnissen in den weiteren Projektverlauf involviert werden.
Im Zuge der anschließenden Aufgabenverteilung wird erneut deutlich, dass die Fünf noch nicht den Blick für die Details haben. Während der eigentlichen Coaching-Arbeit, der Arbeit mit den Ressourcen zum Thema, verändern sich die Klienten. Sie wirken nachdenklicher, zugleich ideenlos und leicht irritiert, als sie über das eigene Vorgehen und die eigene Organisation reflektieren. Da sie anpackend – und damit etwas unbedarft – an die Sache herangegangen sind, haben sie die Aufgaben schlicht jenen zugewiesen, die sich dafür freiwillig angeboten haben, statt die Aufgabenverteilung anhand der für den jeweiligen Arbeitsschritt notwendigen Kompetenz zuzuweisen. Daher besteht die Aufgabe für die nächsten zwei Wochen darin, zu schauen, ob die Aufgabenverteilung – gemessen an der Teamentwicklung und der Organisation des Projekts – letztlich sinnvoll erfolgt ist, und Recherche zu den Vorstellungen des Auftraggebers zu betreiben. Zugleich deutet sich bereits in dieser frühen Phase Konfliktpotenzial an: Zwei Teammitglieder sind der Meinung, es wäre besser, würden sie die ganze Arbeit alleine machen, zumal sie wüssten, wie gut ihre Arbeit sei – allerdings möchten sie nicht alles alleine machen und meinen, dass sie doch Wert darauf legen, dass alles klappt.
Nach zwei Wochen gibt es das nächste Treffen mit dem Coach, der fragt, wer was ausgearbeitet hat. Es kommt heraus, dass zwei nichts getan haben, weil sie nicht verstanden hätten, was sie zu tun haben. Einer hat alles recherchiert. Einer hat seine Aufgaben nur zu zwei Dritteln erledigt, weil ihm relevante Informationen fehlten. Der Letzte stellt das Gesamtergebnis in Frage, macht lächerliche Kommentare und unterbricht die Teamkollegen. Einer von den Zweien, die nichts getan haben, entschuldigt sich, der andere pöbelt den Gehässigen an, was er sich anmaßen würde, sich so in den Mittelpunkt zu spielen. Die Anspannung ist groß und plötzlich greifen sich alle verbal an, bis der Coach interveniert und Ruhe schafft. Nun darf jeder nacheinander seine Meinung sagen und erklären, wieso das miserable Arbeitsergebnis zustande kam und was zu ändern sei.
Bei Fragen, die das eigene Handeln reflektieren, stoppen die Aggressiveren zunächst, wenden sich minimal mit dem Blick ab, atmen tief ein und aus. Nachdem sie begriffen haben, dass der Coach nicht bewertet, sondern Unterstützung leistet, werden alle ruhiger und hören zu. Nach Tuckman befinden sie sich in der Stormingphase.
Durch die emotionalen Ausbrüche im Team wird deutlich: Die Klienten haben ihren Rubikon erreicht, erkennen durch das eigene Erleben der Situation auf emotionaler Ebene, was ihnen schadet (Abwendungsmotivation). Wenn sie so weitermachen, ist die Zusammenarbeit bald beendet – und zwar erfolglos. Im Unternehmen hätte dies die Konsequenz, dass keiner der Klienten im nächsten Jahr an neuen Aufgaben und Projekten beteiligt würde. Das will keiner, so dass sie in dieser Erkenntnis den Anstoß finden, eine ressourcenorientierte Lösung zu entwickeln, die ihnen guttun wird (Hinwendungsmotivation). Hier wird offensichtlich, dass die Lösung eines Coaching-Anliegens immer von den Klienten ausgehen muss.
Im Einzelnen: Die Klienten bemerken, dass sie gegen Regeln und auch Werte verstoßen haben, die ihnen eigentlich wichtig sind. Gleichzeitig haben sie das Team und die Arbeit respektlos behandelt, weil jeder etwas anderes gemacht hat, als im Team vereinbart war. Keiner hat sich in die anderen vier Teammitglieder hineinversetzt und über die Konsequenz des eigenen Handelns nachgedacht.
Um diesen Erkenntnisgewinn zu erzielen, setzte der Coach sowohl in der individuellen Arbeit als auch in der Teamarbeit mit den einzelnen Teammitgliedern die Maslow’sche Bedürfnispyramide, die Wertesonne von Nina Meier, den Circumplex der Werte nach Shalom H. Schwartz sowie die MotivStrukturAnalyse (MSA) ein. Im Team wurde zudem mit der Teamentwicklungsuhr nach Tuckman sowie mit den Teamrollen nach Margerison und McCann gearbeitet. Zudem setzte der Coach den Perspektivwechsel (zwei Stühle, eine Person) als Reflexionsangebot ein und nutzte die typischen Fragen eines Coachs, nämlich geschlossene, offene, hypothetische und skalierende Fragen.
Die Klienten bemerken, was sie in ihrem Inneren schon fühlten: Der „Aufmüpfige“ hält sich nicht an Regeln und Werte, weil er sich nicht fügen will und keine Autorität „über sich“ mag. Er sieht sich mit den anderen Vier im Wettstreit und strebt nach Macht. Die Zwei, die nichts getan haben, merken, dass sie nicht verbindlich waren, den Ernst der Lage nicht erkannt und keinen Kontakt zu den Anderen aufgenommen haben. Der Eine, der alles erledigt hat, ist sehr sorgfältig, verbindlich, neugierig und braucht Anerkennung, auch er hat keinen Draht zur Teamarbeit. Scheinbar arbeitet er lieber gründlich alleine, als mit den Fehlern und zeitlichen Verzögerungen der Anderen umgehen zu müssen. Die Motive Anerkennung, Wettkampf, Macht und Prinzipientreue sind für die Fünf der Zündstoff des Konflikts. Die mangelnde Beziehungspflege ist auf fehlende Teamfähigkeit zurückzuführen. In Einzel-Coachings wird an diesen Themen gearbeitet.
Orientiert man sich an den Teamrollen, die Margerison und McCann in ihrem Team Management System (TMS) beschreiben (nach Tscheuschner & Wagner, 2008), liegt in jenem Teammitglied, das alles ausgearbeitet hat, die Arbeitspräferenz als informierter Berater, auswählender Entwickler, zielstrebiger Organisator und systematischer Umsetzer. Es fehlen die wichtigen Rollen des kontrollierenden Überwachers und des unterstützenden Stabilisators. In dieser Phase sind die Arbeitspräferenzen der anderen Vier nicht deutlich erkennbar. Der Coach stellt diesen vier Teammitgliedern offene Fragen, um die Reflexion über mögliche Arbeitspräferenzen und -rollen anzuregen: „Worin sind Sie richtig gut? An welchen Stellen können Sie andere konkret unterstützen?“
Vor dem Hintergrund der fehlenden Teamrollen (kontrollierender Überwacher und stabilisierender Unterstützer) und mit dem Ziel, diese zu kompensieren, werden die Teammitglieder zudem gefragt, ob eine wöchentliche Abwechslung sinnvoll oder eine feste Konstellation aus Taskowner und Stellvertreter je Aufgabenbereich besser handhabbar ist. Grundsätzlich übernimmt der Coach als Beobachter zweiter Ordnung im Prozess die Aufgabe des Reflektors, Stabilisators und Überwachers.
Aufgrund dieser diffizilen Perspektivwechsel und Konfrontationen sowie insbesondere angetrieben durch die ausgelöste Abwendungsmotivation, treten die Fünf in die Normingphase ein und organisieren sich neu. Sie legen konkret fest, was allen Fünf wichtig ist (Werte), und definieren Regeln der Zusammenarbeit. Danach werden die Aufgaben gerecht und den Kompetenzen der Mitglieder entsprechend verteilt und jeder Aufgabe ein Hauptverantwortlicher sowie immer auch ein Stellvertreter und Unterstützer zugeordnet, so dass pro Aufgabe zwei Personen betroffen sind.
Was passiert nun? Alle Ideen, die aufgrund der vorhandenen Ressourcen erarbeitet wurden, werden in eine To-do-Liste geschrieben und es wird weiterhin überlegt, welche Ressourcen dem Team helfen, sein Ziel zu erreichen. Wichtig ist, zu erfragen, was jeden von der Umsetzung abhält und wie dies sowohl auf der Ebene des einzelnen Teammitgliedes als auch gemeinsam im ganzen Team vermieden werden kann. Zur besseren zeitlichen Übersicht wird ein Gantt-Chart erarbeitet. Hierbei handelt es sich um die grafische Darstellung eines Ablaufplans (Balkendiagramm auf einer Zeitachse). Darüber hinaus wurden ein gemeinsamer Terminkalender mit Wiedervorlagen und Erinnerungen sowie shared documents für die bisherigen Arbeitsergebnisse erstellt, damit alle jederzeit informiert sind.
Im Laufe der Entwicklungsbegleitung bemerkt der Coach, dass die Klienten sich an die ungewohnte verbindliche Aufgabenverteilung und Termingestaltung gewöhnt haben und in Tuckmans Performingphase übergegangen sind. Von Termin zu Termin werden sie selbstbewusster, fordern sich gegenseitig und haben zunehmend Spaß, weil sie sich mittlerweile vertrauen und Erfolge sehen. Im Rückblick können die ausgelösten Erkenntnisse über gemeinsame Wertvorstellungen der Teammitglieder als zentrale Voraussetzung dieser Entwicklung begriffen werden. Der Coach stellt pro Entwicklungsbegleitungstermin immer dieselben Fragen zur eigenen Bewertung (Feedback) und bemerkt eine stetige Entwicklung zugunsten funktionierender Teamarbeit. Er merkt, dass die Klienten sich mögen. Sie plaudern und gehen mit Humor an die Arbeit.
Die Klienten haben es geschafft, das Projekt sehr gut zu lösen. Der Auftraggeber war begeistert vom Teamspirit und zufrieden mit dem Arbeitsergebnis. Die Fünf haben gelernt, verbindlich und sorgfältig zu arbeiten, sich gegenseitig rechtzeitig über Entwicklungen zu informieren und einfach mit einer sehr lebensfrohen Art und Weise Lockerheit in die Zusammenarbeit zu bringen.
Der Coach gibt Unterstützung bei der Findung einer gemeinsamen Identität und Zukunftshoffnung, bei der Organisation der Zusammenarbeit, Strukturierung der Gedanken und Aufgaben und löst Erkenntnisse über Werte und intrinsische Motivation aus. Ein junges Team braucht Aufmerksamkeit, Hinweise, Freiraum zur Entfaltung und eigenen Findung sowie wiederum stets eine „Leitfigur“, die auf alle Aufgaben hinweist, deren Umsetzung einfordert und sowohl dem Einzelnen als auch dem Team Feedback gibt. Auch diese Rolle sollte ein Team-Coach situationsorientiert ausfüllen können.