Selbstorganisation ist ein grundlegendes wie auch ganz alltägliches Phänomen. Der rhythmische Applaus eines Konzertpublikums lässt sich durch sie ebenso erklären wie die konsistente Gestalt einer Fischschule im Ozean, einer Menge von Jungfischen, die als Kollektiv eine Gestalt bildet und damit potentiellen Räubern die Botschaft vermittelt: Wir sind ein großer Fisch. Diese Muster unterliegen keiner externen ordnenden Hand, sondern entstehen „von selbst“. Der vorliegende Artikel will in einige theoretische Grundlagen der Selbstorganisation einführen, Bedingungen nennen, die solche Prozesse im Kontext von Coaching ermöglichen, und das „Synergetische Prozessmanagement“ hinsichtlich der Konzeption, Interventionsplanung und Evaluation im Kontext Coaching beschreiben sowie anhand eines praktischen Coaching-Falls veranschaulichen.
Die Synergetik als Strukturtheorie der Selbstorganisation wurde von dem deutschen Physiker Hermann Haken begründet und als interdisziplinäres Forschungsfeld etabliert (Haken et al., 2016; Stadler & Kruse, 1994; Haken, 1982). Die Synergetik geht der Frage nach: „Wie entsteht spontan etwas Neues? Und zwar aus dem jeweiligen ‚Objekt‘ […] selbst heraus – ohne eine ordnende Hand, […] also durch Selbstorganisation“ (Haken et al., 2016, S. 52). Unterschiedlichste Systemelemente können der Selbstorganisation unterliegen wie z.B. Atome, Moleküle, biologische Zellen, Menschen(gruppen) in Gesellschaft oder Organisationen (Haken et al., 2016).
Selbstorganisation vollzieht sich systemisch betrachtet auf einer Mikro- und auf einer Makroebene (Haken & Schiepek, 2010; Schiepek, 2019). Auf der Mikroebene befinden sich Elemente, die fixen Randbedingungen und variablen Kontrollparametern ausgesetzt sind. So erzeugt das System unter der „Energetisierung“ eines Kontrollparameters ein kohärentes Verhalten. Die Elemente bringen auf der Makroebene nichtlineare Dynamiken, Strukturen und Muster hervor (Emergenz). Stabilisiert sich eine Dynamik in Mustern, spricht die Synergetik von Ordnern. Bevor ein Ordner entsteht, kann ein Wettbewerb zwischen mehreren möglichen Realisationsformen auftreten, welcher von einem Ordner gewonnen wird. In solchen Phasen der Symmetrie, der Gleichwahrscheinlichkeit mehrerer Ordner, entscheiden kritische Fluktuationen über die Realisierung eines Ordners. Dieser wird zu einer Funktion der Elemente, und die Elemente werden in ihrem Verhalten eine Funktion des Ordners. Letztere Dynamik wird als Komplettierung beschrieben, wenn die Elemente sich in das Verhalten des Ordners einbinden und somit den Ordner wiederum stabilisieren. Mikroebene und Makroebene stehen so in einer kreiskausalen Wechselbeziehung in Form einer Bottom-up-Emergenz und einer Top-down-Komplettierung. Des Weiteren wirkt der Ordner wiederum auf das System zurück, welches im Zeitverlauf eine geronnene Systemgeschichte ausbildet und mittels wirksamer Constraints (Rahmen- und Randbedingungen) wiederum auf die Elemente zurückwirkt. Jedes System verfügt über ein Spektrum von Verhaltensmöglichkeiten, wobei Änderungen der Bedingungen (Kontrollparameter, Randbedingungen) in der Regel nicht zum Kollaps des Systems, sondern zum Übergang in einen neuen Zustand (Ordner) führen. Solche Zustandsänderungen beschreibt die Synergetik als Ordnungsübergang.
Im Beispiel des eingangs erwähnten Konzertapplauses könnte z.B. die Begeisterung des Publikums im Raum als ein Kontrollparameter fungieren, der energetisierend auf das System Publikum einwirkt. Während dem zufälligen Klatschen des Konzertpublikums in Phasen der Instabilität entstehen (Emergenz) leichte Klatschrhythmen (Muster) einzelner Konzertbesucher, welche von umliegenden Besuchern aufgenommen (Komplettierung) und damit verstärkt werden. Je deutlicher der Rhythmus hervortritt (Emergenz), desto schneller fallen die restlichen Besucher in denselben Rhythmus ein (Komplettierung). Der Klatschrhythmus ist der realisierte Ordner, der anhand der Frequenz oder der Lautstärke als Muster im Einzelnen beschreibbar ist. So lässt sich der Übergang von zufälligem hin zu rhythmischem Klatschen als Ordnungsübergang verstehen. Die eingeführten Begriffe der Synergetik beschreiben anschaulich und präzise viele typische Veränderungsprozesse (Ordnungsübergänge) im Erleben und Verhalten von Menschen und Unternehmen (Manteufel et al., 1998).
Die Wesens- und Wirkungsmerkmale der Synergetik haben im deutschsprachigen Raum insbesondere Jürgen Kriz mit der „Personzentrierten Systemtheorie“ (Kriz, 2017), Wolfgang Tschacher mit umfangreichen Beiträgen u.a. im Bereich der Kognitions- und aktuell der Embodimentforschung (Tschacher & Storch, 2010; Tschacher & Schreier, 1999) sowie Günter Schiepek u.a. mit Beiträgen zur Systemkompetenz und des Synergetischen Prozessmanagements für psychologische und vornehmlich psychotherapeutische Fragestellungen fruchtbar gemacht. Als Psychotherapieforscher hat Schiepek in Anlehnung an die Forschung zu (unspezifischen) Wirkfaktoren acht generische Prinzipien (gP; siehe Tabelle) formuliert, deren Realisierung Bedingungen für Selbstorganisation „erzeugen“ soll (Haken & Schiepek, 2010). Für den Kontext des Coachings lassen sie sich wie folgt skizzieren:
Ordnungsübergänge und Veränderungen gehen mit Unsicherheiten einher. Gerade wenn sich alte unerwünschte Verhaltensmuster destabilisieren sollen und die neuen noch nicht absehbar sind, benötigt es stabile Randbedingungen: Stabilität in Form der Struktur der Beratung (Setting, Vorgehensweise, Verstehbarkeit und Transparenz des Vorgehens), der Beziehung zwischen Klient und Coach (Vertrauen, Glaubwürdigkeit, emotionale Standfestigkeit) sowie der Selbststabilität des Klienten (Selbstwirksamkeit, Kontrollierbarkeit, Handhabbarkeit, Zugang zu eigenen Ressourcen).
Der Klient im Coaching kann als bio-psycho-soziales System aufgefasst werden. Als solches formt er in seinem Erleben und Verhalten kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Muster (KEV-Muster) aus. Viele dieser Muster als stabile Ordner ermöglichen dem Klienten konsistentes Erfüllen seiner Bedürfnisse. Ändern sich jedoch Umweltanforderungen, z.B. im Beruf, so können sich ehemals bewährte Muster eher dysfunktional auf das Erleben des Klienten auswirken. Coaching könnte so die Aufgabe haben, den Klienten darin zu unterstützen, neue, gewünschte KEV-Muster zu beschreiben und den Weg vom alten zum neuen Muster als Ordnungsübergang zu begleiten.
Die neuen angestrebten Muster sowie auch der Weg dorthin sollten von den Klienten als sinnvoll erlebt werden. Sinn könnte so als Kontrollparameter aufgefasst werden. Je besser er realisiert ist, desto höher fällt die Wahrscheinlichkeit aus, dass sich der Klient aus der Komfortzone (alte Muster) herausbewegt und auch bei Rückschlägen (Rückfall in alte Muster) wieder den Weg nach vorne aufnimmt – eben, weil es Sinn ergibt.
Kontrollparameter „energetisieren“ ein System. Im Coaching handelt es sich um das Herstellen motivationsfördernder Bedingungen für den Klienten, um die Aktivierung von Ressourcen und um die emotionale und motivationale Bedeutungszuschreibung von Zielen oder Anliegen. Ordnungsübergänge im Coaching brauchen konsistente Ziele, welche Kontrollparameter (z.B. intrinsische Motivation oder Selbstwirksamkeitserwartung) aktivieren und damit Lern- und Veränderungsbereitschaft erzeugen.
Der Klient exploriert im Rahmen des Coaching-Prozesses neue Erfahrungsmöglichkeiten. So kann und soll es zur Destabilisierung bestehender KEV-Muster und dem Auftreten von Inkongruenzen kommen, die auch irritierend wirken können. Stabile Rahmenbedingungen (siehe gP1) kompensieren dies. Der Coach hat die Aufgabe, unterstützend und verstärkend den Klienten zu begleiten. Interventionen wie z.B. Rollenspiele, Übungen oder die Fokussierung auf Ausnahmen zielen auf die beabsichtigte Destabilisierung oder Unterbrechung bestehender Muster.
Coaching, welches Bedingungen für Selbstorganisation schaffen will, ist nicht auf das „Durchziehen von Tools“ konzentriert, sondern lässt sich ganz auf den Klienten ein. Die zeitliche Passung (Zeitpunkt – Kairos) und Koordination der Interventionen und des Kommunikationsstils orientieren sich von Moment zu Moment an dem aktuellen kognitiv-emotionalen Zustand („State of Mind“) des Klienten. Gerade die Aufnahmebereitschaft und emotionale Verarbeitungstiefe des Klienten bestimmen die Wirkung einer Intervention. In der Sitzung können das Merkmale wie Körperhaltung, Sprechgeschwindigkeit, Pausen, Blickkontakt oder das Aufgreifen von Metaphern oder idiosynkratischer (vom Klienten verwendete und zu verstehende) Begriffe sein. Im weiteren Prozessgeschehen sind das Merkmale wie u.a. Sitzungsabstände oder Passung der Intervention zur Phase im Coaching-Prozess.
Während eines Ordnungsübergangs sorgt die Gleichwahrscheinlichkeit mehrerer Ordner für maximale Freiheitsgrade der Systemelemente. Die nun in Symmetrie realisierten Ordner würden wie die Heuhaufen wirken, zwischen denen Buridans Esel verhungerte, sorgten nicht zufällige, stets präsente Fluktuationen für das Brechen der Symmetrie zugunsten eines Ordners. Im Umgang mit komplexen Systemen – hier dem Klienten – gilt es, zum richtigen Zeitpunkt in Resonanz mit dem System achtsam neue günstige Muster zuzulassen oder anzustoßen.
Nach einem Ordnungsübergang begünstigen Maßnahmen wie stabilisierendes Feedback oder konkrete Vereinbarungen und Spielregeln die „Verfestigung“ (Lewin, 2012) und damit die Restabilisierung, sodass das in der Symmetrie frei fluktuierende Systemverhalten in konsistente Pfade (Muster) überführt wird.
Die generischen Prinzipien dienen dem Zweck, die Auswahl spezieller Techniken und Methoden zu organisieren und zu begründen. So lässt sich mit Hilfe dieser Prinzipien eine theoretische Fundierung des praktischen Tuns ermöglichen und eine adäquate Organisation des Coaching-Prozesses sowie eine Komplexitätsreduktion der Praxis erreichen, indem die Vielzahl möglicher Situationen vor dem Hintergrund weniger Kriterien beurteilt werden kann. Dies soll nachfolgend anhand des Synergetischen Prozessmanagements erläutert werden.
Das Synergetische Prozessmanagement will einen Handlungsrahmen beschreiben für das Konzipieren, Gestalten und Evaluieren von Selbstorganisation fördernden Prozessen personen- oder organisationsbezogener Beratung.
Nach erfolgter Auftragsklärung erarbeiten Klient und Coach in einem Erstgespräch u.a. die Ziele des Klienten und die dem Klienten zur Verfügung stehenden Ressourcen. Anhand der Ziele und Ressourcen wird eine Checkliste erstellt. Diese dient der wöchentlichen Reflexion des Klienten, um den Fortschritt der Zielerreichung sichtbar zu machen und „lessons learned“ aus der Woche festzuhalten. Die Klientin, in diesem Beispiel eine angestellte Entwicklungsingenieurin und Teamleiterin in einem Maschinenbauunternehmen, wählt sich drei Zielbeschreibungen: Sie will in Teamleiterbesprechungen wirksamer auftreten, welche sonst eher von den männlichen Kollegen bestimmt werden. Sie will des Weiteren die aktuelle Version einer Produktplanungssoftware in ihrem Team einführen. Ein Vorhaben, welches nicht ganz unproblematisch ist, weshalb sie es schon lange vor sich herschiebt. Als drittes Ziel will sie sich systematischer Zeit nehmen für persönlichen Ausgleich und mehr Sport unter der Woche. Diese Ziele werden in der Checkliste als Reflexionssätze festgehalten: „Diese Woche ist es mir gelungen, (1) … wirksam für meine Belange in der Teamleitersitzung einzustehen, (2) … das Projekt „Software-Update“ einen Schritt weiterzubringen und (3) … Zeit für Bewegung und Entspannung einzuräumen.“ Diese Checkliste wird auf einer (online kostenpflichtig nutzbaren) Coaching-Plattform, dem Synergetischen Navigationssystem (SNS), hinterlegt. Die Klientin erhält nun einmal die Woche eine Einladung per E-Mail zur persönlichen Reflexion ihrer Coaching-Ziele.
Der Coach wählt Setting, Interventionen und Kommunikationsstil unter Rückgriff auf das eigene „Theorie-Universum“, welches ihm erlaubt, eigene Hypothesen bereits während der Auftragsklärung zu bilden und beständig im Verlauf des Coaching-Prozesses zu überprüfen und anzupassen. Die wöchentlichen Selbsteinschätzungen (Monitoring) des Zielfortschritts und optional möglichen Tagebucheintragungen des Klienten werden in grafischen Zeitreihen und Textzusammenfassungen als Reports dargestellt und bilden eine qualifizierte Gesprächsgrundlage für das jeweils folgende Coaching-Treffen. Die so ermittelten Befunde geben dem Coach unter Zugriff auf die Plattform Einblick in die Selbstorganisationsprozesse des Klienten. Dies erlaubt es dem Coach, sich gezielt auf das folgende Coaching-Treffen vorzubereiten, die eigenen Hypothesen zu überprüfen und entsprechende Interventionen aufgrund der Befunde auszuwählen.
Die erwähnten generischen Prinzipien können insbesondere in der Gestaltung der Coaching-Treffen als hilfreiche Heuristiken dienen. Für die Gestaltung des Erstgespräches in der Kick-off-Phase sind mitunter das Schaffen von Stabilität (gP1), das Erkennen problematischer alter und entsprechend neuer erwünschter Muster (gP2) und das Herstellen von Sinnbezug (gP3), also das Entwickeln sinnvoller, kohärenter Ziele, von Bedeutung. Während des Coaching-Prozesses liegt der Schwerpunkt im Schaffen von Rahmenbedingungen, welche Ordnungsübergänge zu erwünschten Mustern ermöglichen. Hierzu gilt es, die inneren Kontrollparameter (z.B. Selbstwirksamkeitsüberzeugung oder intrinsische Motivation) und die äußeren Kontrollparameter (gP4, z.B. kollegiales Feedback oder „spielerisches“ Experimentieren) zu wecken, welche den Klienten „energetisieren“. Neue Erfahrungsräume im Coaching destabilisieren (gP5) alte Muster und Erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass der alte Ordner mit neuen Ordnern in Symmetrie konkurriert. Die Achtsamkeit und eine innere Unabhängigkeit des Coachs geben ihm die mutige Gelassenheit, richtige Zeitpunkte (gP6) zu erkennen, um etwa ermutigend, konfrontierend, spiegelnd, provozierend oder würdigend das Entdecken und Einüben neuer Ordner zu unterstützen (gP7). Umsetzungsaufgaben und Arbeitshilfen können neue Muster im Alltag stabilisieren (gP8) und so neu gelernte Verhaltensweisen zu etablierten Gewohnheiten werden. Die Coaching-Treffen beginnen jeweils mit dem gemeinsamen Besprechen der Reports, um die aktuellen Befunde hinsichtlich der Frage zu bewerten, inwiefern sich Symmetrien darstellen oder sich bereits Ordnungsübergänge eingestellt haben bzw. welche Interventionen für eine entsprechende Stabilisierung vorzusehen sind.
Die wöchentlichen Reflexionen der Teamleiterin, ausgegeben in den Reports, können nun dem Coach wie der Klientin Auskunft geben über sich (nicht) ereignende Ordnungsübergänge. Vor Ordnungsübergängen – sichtbar in auf Dauer relativ niedrigen Werten der Zeitreihe – gilt es, gemeinsam mit der Klientin stärkende Kontrollparameter zu explorieren und mit neuen Mustern (Denk- und Verhaltensweisen) zu experimentieren. Nach Ordnungsübergängen – sichtbar auf Dauer in relativ hohen Werten der Zeitreihe – gilt es, durch Verstärkung und Ermutigung das neu oder wiedergewonnene Terrain zu stabilisieren.
Des Weiteren dokumentieren die Reports den Coaching-Verlauf und dienen so der Prozessevaluation. Diese kann zur Qualitätssicherung des Coachs als auch zur Kundenargumentation in Fragen der Wirksamkeit von Coaching eingesetzt werden.
Coaching-Prozesse als Prozesse der Selbstorganisation zu verstehen und zu begleiten, bedeutet insbesondere ein prozessorientiertes, adaptives Vorgehen, das sich mit dem Entwicklungs- und Lernprozess des Klienten in permanenter Abstimmung befindet. Es bedeutet eine Selbstbescheidung des Coachs in der Gewissheit, dass man trotz aller Professionalität nur Möglichkeiten für systeminterne Prozesse des Klienten schaffen kann. Ein lineares Abarbeiten von Tools im Coaching kommt nicht infrage. Vielmehr geht es um das Schaffen von Bedingungen, sodass Kaskaden von Ordnungsübergängen stattfinden können, was meist mehr und anderes bedeutet als nur Schritte vom Ist- zum Soll-Zustand oder vom Problem zur Lösung zu gehen. Zuletzt und vielleicht vor allem gilt es, den Selbstorganisationsprozessen der Klienten und deren zu weckenden Ressourcen und Entwicklungspotentiale zu vertrauen (Haken & Schiepek, 2010).