Märkte sind heute global und volatiler, komplexer und unsicherer als noch vor Jahren. Wie dies auf technische, kulturelle und soziale Belange im eigenen Unternehmen und in der Arbeitswelt wirkt, ist immer schwerer vorherzusagen. Was macht Sinn? Was bringt letztlich wirtschaftlichen Erfolg? Wichtige Fragen, nicht nur für Führungskräfte und Unternehmer.
Ein Autor, der schon sehr früh den Sinnbegriff in seinem Ansatz „Vom Sinn zum Gewinn“ mit der Unternehmenswelt verband, ist Viktor Frankl (2007). Ein zentraler Begriff seiner Lehre ist die Selbsttranszendenz. Damit ist der hohe ethische Wert der Hingabe an eine Aufgabe gemeint. Dabei gilt zu berücksichtigen: Was für die Beschäftigten eines Unternehmens Sinn macht, ist sowohl höchst individuell als auch situativ. Was gestern „sinnvoll“ war, kann morgen als „sinnlos“ erlebt werden. Individuelle Lebenssituationen und äußere Einflussfaktoren sind Parameter dieser möglichen Entwicklung. Oder: Die Veränderung von Lebensplanungen sowie die Veränderung einer Unternehmenskultur können aus einer eben noch sinnvollen Tätigkeit ein scheinbar wertloses Betätigungsfeld kreieren.
Der Unternehmenserfolg ist abhängig vom Grad der Sinnerfülltheit der Tätigkeit seiner Beschäftigten. Wird diese erlebt, wird die Tätigkeit zur Aufgabe. Ziel von Führungskräften muss daher sein, Mitarbeitern entsprechende Möglichkeiten zur Sinnverwirklichung einzuräumen.
Ein erster Schritt dazu ist der Dialog: der regelmäßige Austausch zur Frage, ob die Arbeit auch als Aufgabe und ihr Sinn dahinter übernommen wird. Das jährliche Mitarbeitergespräch ist dabei nur eine Möglichkeit. Es gilt zu klären, inwieweit der systemische Rahmen der Organisation entsprechende sinnzentrierte Tätigkeiten für den Einzelnen ermöglicht. Denn, so die übertragene Aussage Frankls (Schlieper-Damrich & Kipfelsberger, 2008; S. 119): „Wenn Arbeit sinnvoll und nicht nur zweckgerichtet sein soll, dann muss sie Aufgabe sein. Der Aufgabencharakter hängt aber nicht von denen ab, die sie übertragen, sondern von denen, die sie übernehmen.“ Die Führungsrolle ist daher eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie besteht im sinnvollen Führen und Geführtwerden, der gemeinsamen Sinnstiftung.
Die tägliche Herausforderung ist, der mit Sinnfragen verbundenen Sinnsuche eine Sinngebung oder Sinndefinition und letztlich die Sinnerfüllung folgen zu lassen. Ein Ziel ist, dabei mental gesund zu bleiben und sich glücklich zu fühlen. Dies gilt für jeden Menschen als (a) Individuum und als (b) Träger verschiedener Rollen (hier: Mitarbeiterrolle) sowie für Organisationen (Weick, 2000). Die Tabelle zeigt dies im Unternehmenskontext. Die Spaltenüberschriften Emotion, Kognition und Aktion deuten bereits auf Umsetzungsmöglichkeiten im Coaching.
Coaching kann helfen, Affekte und Emotionen achtsam aufzunehmen, ohne bei der Sinnsuche auf neue Gegebenheiten reflexartig mit alten Denk- und Verhaltensmustern zu reagieren oder im Alten zu verharren. Coaching-Anstöße zur multiperspektivischen Reflexion und Kognition fördern bei der Sinngebung die bewusste Auswahl und erweitern Handlungsmöglichkeiten. Findet der Mensch Ermutigung und Unterstützung in der Sinnerfüllung, den Überlegungen oder neuen Erkenntnissen Taten folgen zu lassen, kann der Coaching-Prozess gelingen.
Drei Praxisberichte veranschaulichen, wie sich dies im Alltag verschiedener Unternehmen darstellen kann. Dabei bewegen sich die Darstellungen des Baustofflieferanten Holcim auf der Makroebene „Führungskultur“, die Ausführungen des Versicherers Helvetia auf der Mesoebene und die Fallstudie des Softwarekonzerns SAP auf der Mikroebene eines Einzel-Coachings.
Ein Baustofflieferant wie Holcim hat bezüglich der Sinnfrage eine gute Basis: greifbare Produkte wie Zement, Kies und Beton. Sie machen als Grundstoffe für unsere Zivilisation von sich aus Sinn (Gebäude, Infrastruktur, Trinkwassersysteme usw.) und ankern in ihrer Weise die Sinnfrage an sich: für Unternehmen, Mitarbeiter, Kunden und Umfeld. Dies wird ergänzt durch eigene Unternehmenswerte für Nachhaltigkeit in sozialer, ethischer, ökonomischer und ökologischer Verantwortung.
Aktuell wird bei Holcim die wirtschaftliche und unternehmerische Situation durch steigenden Druck zur Wirtschaftlichkeit und sinkende Verfügbarkeit der Arbeitskräfte geprägt. Die Menschen fragen vermehrt nach dem „Warum“ ihres Tuns. Die Führung von Fachkräften im Hinblick auf Sinngebung, Motivation und Bindung an das Unternehmen ist damit eine entscheidende Führungsqualifikation. So ist eine Herausforderung für Coaches derzeit: Die Sensibilisierung der Führungskräfte für den Wandel und die Frage, was dieser für die Mitarbeiter bedeutet, sowie die Unterstützung der Führungskräfte bei der Förderung von Mitarbeiteridentifikation.
Führung ist bei Holcim mit einem Kompetenzmodell hinterlegt. Darin sind vier Bereiche abgedeckt: „Geschäftsbezogene Denkweise“, „Liefert Ergebnisse“, „Animiert Mitarbeiter“ sowie „Als Vorbild handeln“. In allen Bereichen kommt Coaching für Führungskräfte zum Einsatz.
Gerade bei „Animiert Mitarbeiter“ liegt in der Sinnorientierung für die Mitarbeiter eine große Chance der Führung. Hier kann Coaching über die Bewusstmachung und Einordnung von Sinnsystemen Orientierung bieten sowie im konkreten Alltag gezielt unterstützen. Den Bogen von Auftragserteilung bis Auftragserledigung vorher anzuschauen, heißt, bei jeder Aufgabe von Beginn an ihren Sinn aufzudecken. Frei nach Viktor Frankl: „Sinn muss gefunden werden.“
Mitarbeiter zu halten oder zu gewinnen, hat aus Sicht des Mitarbeiters vielfältige Aspekte: Das Gehalt ist nur eine Komponente. Weitere sind z.B. die sozialen Systeme im Unternehmen, die Führungskultur und der Umgang untereinander, persönliche Wertschätzung und nicht zuletzt interessante Aufgaben. Viele Menschen gewinnen genau daraus ihre Motivation, das „Warum“ ihrer Arbeit zu kennen. Mitarbeiter, die Sinn in ihrer Arbeit sehen, arbeiten motivierter, engagierter und hochwertiger. Die Bindung an das Unternehmen steigt. Vor diesem Hintergrund stecken erhebliche Chancen in der Führung durch Sinnorientierung.
Coaching kann diese gezielt unterstützen und einen echten Mehrwert bieten: Durch die Begleitung der Führungskräfte und die gezielte Erarbeitung des Sinnthemas in den Coaching-Settings – sowohl für die Führungskraft selbst als auch in Bezug auf die Mitarbeiter. So kann sinnorientiertes Denken und Handeln entwickelt werden, das direkt im Alltag umsetzbar ist. Der Coach hilft dabei mit dem ihm eigenen „Blick von außen“ und fördert mit gezielt eingesetzten Coaching-Tools wie z.B. systemischen Aufstellungen, Rollenarbeit usw. Er bietet der Führungskraft zusätzlich eine Reflexionsunterstützung in Bezug auf ihre eigene Wirkung im Umfeld, bei den Mitarbeitern und im Unternehmen. Coaching ist exzellent geeignet, sowohl die Führungskraft selbst als auch deren Interaktion mit Mitarbeitern und Umfeld bezüglich Sinnfragen zu fördern.
Sinnorientierte Führungskompetenz ist nicht selbstverständlich. Führungskräfte haben eigene Prägungen und eingespielte Muster. Coaching unterstützt die Führungskraft, diese zu hinterfragen und das eigene Verhalten auf die sinnorientierte Führung auszurichten. Je besser eine Führungskraft diese Frage für sich selbst beantworten und im täglichen Handeln integrieren kann, umso eher kann dies im Alltag mit den Mitarbeitern gelebt werden.
Der veränderten Lebenswelt folgend, hat sich die Versicherungsbranche in den letzten 20 Jahren neu erfunden. Ihr Sinn besteht nicht mehr in einer gemeinschaftsdienlichen, kollektiven Risikoabsicherung und der Vorstellung, Versicherungen könnten Sicherheit stiften. Nicht Sicherheit ist der Fokus, um den sich alles dreht, sondern die Unsicherheit als allgegenwärtige Herausforderung – und mit ihr die Entwicklung und Durchführung von Risikomanagementsystemen.
Nun gibt es nicht nur versicherungstechnische Risiken, sondern in risikoanalytischer Betrachtung zudem unternehmensinterne, sogenannte operationelle Risiken. Unter operationellen Risiken werden z.B. unzulängliche oder fehlgeschlagene interne Prozesse verstanden. Hierzu gehören auch Führungsrisiken. Ein typisches Führungsrisiko ist, Leistungsträger an das Unternehmen zu binden oder eben nicht, sprich: motivationshemmendes Führungsverhalten. Damit wird Risikomanagement zur Führungsaufgabe und die Führungskraft erhält einen Risikomanager-Rollen-Aspekt.
Wie kann hierbei Coaching helfen? Risikomanagementsysteme und -modelle basieren auf der grundlegenden Annahme, dass Mitarbeitende rationale Entscheidungen treffen. Die ökonomische Verhaltensforschung zeigt jedoch, dass Verzerrungs- und Vereinfachungseffekte die Risikowahrnehmung und Entscheidungsfindung systematisch beeinflussen. Diese Effekte äußern sich in verzerrten Einschätzungen sowie in Erstarrungsreaktionen, die in Abweichung vom rationalen Verhalten des „homo oeconomicus“ stehen.
Nun zeigen psychologische Studien, dass reines Bewusstsein über diese Effekte nicht ausreicht, sondern dass Verhaltensänderungen notwendig sind. Genau hier kann Coaching helfen, indem es in selbst-reflexiven Gesprächsrunden mit Führungskräften (Einzel-, Paar-, Gruppen-Settings) diesen Denkfehlern auf die Spur kommt und sogenannte Unsicherheitspraktiken übt. Dazu zählen die Einnahme der Meta-Perspektive, ständiger Rollentausch zwischen Akteur und Beobachter, die Urteils-Distanz, Angst-Kontrolle und der Wechsel der Perspektiven.
Ein kleines Beispiel (mit großer Wirkung) möge dies illustrieren: Eine Projektgruppe ist bei der Frage „Brauchen wir ein systematisches Projektmanagement?“ in zwei festgefahrene Lager gespalten. Es bestand das Risiko der völligen Arbeitslähmung. Alle Vermittlungsversuche des Projektleiters zementierten die Gegensätzlichkeiten. Es drohte das Scheitern. Im folgenden Coaching erarbeiteten zunächst beide Teilgruppen getrennt voneinander Argumente für ihre Position. In der Großgruppe trug dann eine Teilgruppe ihre Argumente vor. Danach wiederholte die andere Teilgruppe zuerst diese Argumente, bevor sie ihre eigenen Argumente vortrug. Dies im Wechsel. Der Coach achtete darauf, dass das zuvor Gesagte korrekt wiederholt wird, ohne Begründungen, Bewertungen, Rechtfertigungen, Richtigstellungen. Solange, bis der Coach Veränderungen in den Gesichtszügen feststellte und eine gewisse Heiterkeit ausbrach.
Dieses moderierte „Nachplappern“ bewirkt gehirnphysiologisch eine gewisse Verwirrung, zumindest eine weltbildliche Verunsicherung: Wer hat recht? Das Aushalten der Unsicherheit gebiert neue Optionen. Es hilft, Affekten und Emotionen achtsamer zu begegnen und zu verhindern, auf neue Gegebenheiten reflexartig mit alten Denk- und Verhaltensmustern bei der Sinnsuche zu reagieren.
Im Rahmen eines Seminars für mittlere Führungskräfte führten zahlreiche Diskussionen dazu, dass sich ein Teilnehmer am Ende der Veranstaltung mit dem Hinweis verabschiedete, er werde sich zu einem Follow-up-Gespräch melden. Da internes wie externes Coaching im Seminar als Folgeaktivität zur Individualisierung des Lernprozesses aktiv angeboten wurde, entsprach dies den beabsichtigten Effekten des Seminars. Das folgende Treffen des Teilnehmers mit dem Seminarleiter, der auch interner Coach ist, machte deutlich, dass die Impulse der Seminarteile „Emotionale Intelligenz“ sowie „Konflikt- und Inklusionsverhalten“ beim Teilnehmer offensichtlich tiefer gingen, als dies im Seminar angelegt war.
Das Gespräch mit dem Endvierziger, der seit 23 Jahren bei SAP in der gleichen Abteilung arbeitet, zeigte sein Erleben: Ein Gefühl zunehmender Silobildung, abnehmendes gegenseitiges Vertrauen sowie eine von Gerüchten angeheizte „Parallelwelt“ bestimmten die Atmosphäre. Dieser Zustand zehrte an seinen Kräften und führte zu immer häufiger auftretenden, jedoch in der Intensität stark schwankenden Symptomen von Müdigkeit, Niedergeschlagenheit sowie Energie- und Antriebslosigkeit. Zuweilen sah er „in allem keinen Sinn mehr“.
Im Verlauf der Coaching-Zielklärung wurde deutlich, dass die organisatorischen Komponenten einer Bereichsentwicklungsmaßnahme bedurften. Zunächst sollte es aber darum gehen, die im Einflussbereich des Klienten liegenden Dinge zu identifizieren und zu bearbeiten. Dazu wurden sechs Sitzungen über fast ein Jahr in flexiblen Intervallen anberaumt.
Auffallend war eine stark ausgeprägte Loyalität des Klienten gegenüber der Firma – trotz der erlittenen Rückschläge, Enttäuschungen und Frustrationen. Er und die Firma schienen eins zu sein. Was prinzipiell als positiv gesehen wird, schien hier zu einer unheilvollen Überidentifikation mutiert. Diese Arbeitshypothese wurde in Kombination mit Konzepten der Selbstabgrenzung zum Startpunkt. Die dabei vom Klienten gezeigte Resonanz, besonders in Bezug auf die menschliche Sinn-Konstruktion in einer komplexen Welt durch selektive und meist eher unbewusste Wahrnehmung, bestärkte, hier weiter zu arbeiten.
Das Ergebnis einer für den Klienten sehr tief gehenden Skalierungsaufgabe zur Einschätzung zwischen den Polen „Angst vor Abtrennung/Ausgrenzung“ vs. „Angst vor Einverleibung“ ging in Richtung „Abtrennung/Abgrenzung“. Das Erkennen der allzu bereitwilligen Identifikation mit der „Sinngebung“ einer übergeordneten, mächtigeren Instanz oder Autorität (früher Eltern – heute Chef bzw. Unternehmen) eröffnete ihm eine Perspektive für neue Unterschiede und damit abgrenzende Wahlfreiheiten.
Motiviert von diesen neuen Handlungsmöglichkeiten – „Sinn“ ist „laufendes Aktualisieren“ von Möglichkeiten (Luhmann, 1987) – war das Angebot des Coachs, zunächst an der Selbstwahrnehmung der Gefühle, Gedanken und Wünsche im Rahmen von Achtsamkeitsübungen zu arbeiten. In Folge stellten sich häufiger kleinere Erfolge ein. Konsequenterweise musste nach der Selbsteinsicht durch Reflexion, die Sensibilisierung und Differenzierung der Beobachtung der Umwelt folgen. So konnte der Klient anhand von Alltagssituationen immer deutlicher herausarbeiten, was und warum etwas für ihn, aber nicht für andere Sinn macht und wie die Komponente „Autorität und Macht“ (z.B. seines Vorgesetzten) seine eigene Interpretation der Situationen und Sachverhalte beeinflusst.
Neben der Entwicklung der Achtsamkeit für das eigene Ich war die Ausbildung wertschätzender Fragetechniken und aktiven Zuhörens erforderlich. Zum „Self Management“ kamen mit dem „People Management“ insbesondere jene Verhaltensweisen, welche die Interaktion des Klienten mit seinen Mitarbeitern betreffen.
Denn genauso, wie er die Leerstellen seines Vorgesetzten mit eigenen, vielleicht falschen Interpretationen aktiv füllt bzw. konstruiert und ihnen dadurch Sinn verleiht, werden dies auch seine Mitarbeiter tun. Seine eigene Doppelrolle als Führungskraft und Mitarbeiter seines Vorgesetzten half dabei, diesen Perspektivenwechsel in konkreten Situationen erfahrbar werden zu lassen. Dazu galt es, einen inneren Kompass zu entwickeln, was Transparenz für ihn bedeutet, und ab wann er diese als unpassend erlebt. Dass diese – von den Mitarbeitern meist gewünschte – Selbstoffenbarung der Führungskraft zur Sinngebung wichtig ist und so letztlich Klarheit, Orientierung und Vertrauen schafft, wurde ihm durch die verbesserten Werte bei einem 360-Grad-Feedback sehr angenehm vor Augen geführt.
Schwer war für den Klienten, Sichtweisen und Erfahrungen anderer erst einmal stehenzulassen, ohne sie umgehend durch undifferenzierte Bewertungen zu kommentieren, und sich in Meetings eher in eine moderierende Rolle zu begeben. Der Sinn eines Sachverhaltes oder einer Entscheidung wurde fortan gemeinschaftlich geschaffen und war so für alle einend.