In diesem Text soll Milieu als Perspektive im Business-Coaching beleuchtet werden. Im Coaching-Magazin 1/2020 wird anhand eines Coaching-Falles ergänzend zu diesen mehr allgemeinen Ausführungen illustriert, wie eine unternehmerische Partnerschaft zweier Freunde aus sehr unterschiedlichen Milieus trotz aller Bemühungen einen „Ermüdungsbruch“ erlitt.
In Organisationen neigen Menschen dazu, bevorzugt mit Milieu-Verwandten zu verkehren, anstatt sich mit jenen zu befassen, mit denen sie gemeinsam für Leistung verantwortlich sind, auch wenn sie sich mit ihnen weniger vertraut fühlen. „Milieu-Wahrnehmung“ bleibt oft unbewusst, dennoch werden Zuordnungen intuitiv und sekundenschnell getroffen (Gérard & Schmid, 2008). „Milieu-Ähnlichkeiten“ lösen Affinität zueinander aus, auch wenn sich innerhalb dieser „Zugehörigkeiten“ durchaus Differenzen zeigen. Im Unterschied dazu können „Milieu-Unterschiede“ inspirieren, sich aber auch als Befremden und Unverständnis zeigen. So zeichnen sich Milieus durch intensivere Binnenkommunikation und sich entwickelnde Ähnlichkeiten in vielerlei Hinsicht aus. Sie werden zu Selbstverständlichkeiten mit der Gefahr von Echokammern und Parallelgesellschaften.
Milieus bilden sich heute auf vielfältige und beweglichere Weisen als vor 50 Jahren. So wurde u.a. die Milieu-Bildung durch „Klassenzugehörigkeiten“ teilweise abgelöst durch andere Kulturmerkmale wie Weltbilder, Wertorientierungen, Erlebens- und Verhaltensgewohnheiten, durch Life-Style allgemein – z.B. bilden sich heute neben den klassischen neue Mittelschicht-Milieus. Bislang weitgehend garantierte Milieu-Zugehörigkeiten durch stabile Beschäftigungsverhältnisse oder vorzeigbare Bildung werden labil. Die Spielregeln, nach denen man als Aufsteiger profitiert oder als Absteiger abgehängt zu werden droht, ändern sich.
Die Wahrnehmung von Milieu-Einfluss auf konkrete Beziehungserfahrung und innere Vorgänge der Beteiligten blieb lange unbeachtet (Schmid, 2010), findet aber im Rahmen der neu aufkommenden „Gerechtigkeits-Diskussion“ neue Aufmerksamkeit (SWR2 Forum, 2019).
Zum Beispiel berichtet Prof. Dr. Klaus Hurrelmann – Bildungsforscher an der Hertie School of Governance – in einer Diskussionssendung zum Thema Milieu, dass er sich vom Dorf kommend schon im Gymnasium als Außenseiter fühlte (SWR2 Forum, 2019). Er habe immer besondere Aufmerksamkeit und Kraft gebraucht, um sich bezüglich der Spielregeln in ihm ungewohnten Milieus zu orientieren.
Gefragt, ob er sich im Professorenmilieu immer noch fremd bzw. angestrengt fühle, berichtet Hurrelmann, dass sich die Anspannung dann doch gelegt habe, hauptsächlich dadurch, dass er sich bei wesentlichen Umstrukturierungen einer Hochschule als Umgestaltungs-Dekan engagiert hatte und, mit Macht ausgestattet, nun selbst die Spielregeln bestimmen konnte. Kultur und Umgangsformen habe er in dieser Funktion über Positionierung von Personen und längere Eingewöhnungsprozesse neu prägen können. Die Wirksamkeit als Kultur-Präger habe ihm nach innen Befriedigung und nach außen Geltung verschafft. Hierbei habe er als Bildungs-Aufsteiger den Vorteil gehabt, dass er statt reflexhaft Milieugewohnheiten fortzuschreiben, solche Milieu-Komponenten in den Vordergrund gehoben habe, die für eine zeitgemäße und wesentliche Funktion einer Hochschul-Community stehen konnten.
Interessant ist auch die Bemerkung des Publizisten und Milieu-Aufsteigers Dr. Rainer Hank, dass er in Manager-Kreisen weniger Fremdheit empfinde als im Bildungsbürgertum (SWR2 Forum, 2019). Viele Manager seien – aus der Nähe erlebt – so sehr damit beschäftigt, sicherzustellen, dass ihre behauptete Kompetenz und Geltung nicht durch ihr tatsächliches Verhalten und Erscheinungsbild infrage gestellt wird, dass ihm das als Aufsteiger wohl vertraut sei. Als Aufsteiger müsse man lernen, zu bluffen. In Kreisen, die sich traditionell zum Bildungsbürgertum zählen, habe er viel mehr Entfremdungserfahrung gemacht. Auch habe er bemerkt, dass ihm in sozialen Beziehungen Unbeschwertheit fehle. Dies sei ein Grund, weshalb z.B. Bildungsaufsteigern oft Leichtigkeit und Genuss z.B. beim Small-Talk fehlten, denn für sie seien Begegnungen als Lern- und Bewährungssituationen „immer ernst“.
Solche Berichte über persönliche Erfahrungen und Betroffenheit helfen, Tabus zu durchbrechen und gesellschaftliche Mechanismen besprechbar zu machen. So kann z.B. im Coaching auf die Fragen der Milieu-Anpassung und des seelischen Kräftehaushaltes auch bei gelungener Milieu-Migration eingegangen werden.
Im Coaching beachten wir Milieu weniger als soziologisches Phänomen, sondern mehr als Hintergrund konkreter Beziehungen. Begegnen sich Menschen, so treffen durch sie Milieus aufeinander. Beruflich oder sozial notwendige Milieu-Begegnungen gelingen oft nicht automatisch. Damit sie funktionieren, d.h., um Milieus zueinander zu fügen, sind Interesse und Kompetenz nötig. Hierbei kann persönliche Verträglichkeit der Beteiligten untereinander mit Milieu-Fremdheit einhergehen und umgekehrt. So sind gerade Organisations-Coaches oftmals überrascht, wie anspruchsvoll es ist, mit klassisch agierenden Managern und Beratern, mit Unternehmern und Fachleuten anderer Professions-Milieus Hand in Hand zu arbeiten.
Wie sonstige Begegnungsfaktoren werden Milieu-Faktoren teils bewusst, zum größeren Teil aber intuitiv am Gegenüber bzw. am Umfeld wahrgenommen. Man koppelt sich im Guten wie im Schlechten intuitiv aneinander an. Und man hat über diesen Vorgang genauso viel oder wenig Bewusstheit wie über Grammatik beim Sprechen. Bereitet der Versuch, an das Milieu der anderen anzukoppeln, Schwierigkeiten, dann wird Passung zum Thema. Denn wenn Passung mit der Zeit verloren geht oder von Beginn an nicht stimmt, ist eine Kompensation oft nur begrenzt und mit hohem Aufwand bzw. zu überhöhten Kosten möglich. So ist es verständlich, dass bei Passungsproblemen oft eher auf New- oder Right-Placement statt auf Zusatzqualifikationen gesetzt wird. In der Regel ist es lohnender, ein für sich verträgliches Milieu zu finden, als sich längerfristig an ein Milieu anzupassen, dessen Kultur einem fremd bleibt.
Milieu-Faktoren sind in erster Linie nicht Fähigkeiten, sondern vielmehr die Art und Weise, wie man „ist“, wie man sich verhält, spricht etc. Es handelt sich um übernommene Selbstverständlichkeiten, um komplexe Erlebens-, Verhaltens und Beziehungsmuster, die man durch Leben im Herkunftsmilieu „einatmet“. Sie werden durch meist unbewusste Auslöser aktiviert und laufen weitgehend automatisch ab. Nur wenn es „hakt“ entsteht Aufmerksamkeit, ohne dass deshalb die Abläufe bewusst identifiziert werden könnten oder gar als Auswirkungen von Milieu-Begegnungen beschrieben würden.
So verstörte es einen kompetenten Unternehmensberater, als er sich nach einer von ihm vorbereiteten Präsentation bei einem „Upperclass“-Vorstand im Gegensatz zu seinem Partner plötzlich am Rande und in einer untergeordneten Rolle wiederfand, weshalb er sich kraftlos fühlte und an sich selbst zweifelte. Bei näherer Betrachtung wurde deutlich, dass sich sein Partner und der Vorstand als Milieu-Verwandte erkannten, er als Milieu-Aufsteiger in deren Spiel aber nicht mitspielen konnte. Nun empfand er auch seinen Partner als von sich distanziert und fühlte sich gekränkt. Wären alle Beteiligten oder zumindest die Partner mit dieser Dynamik bewusst und solidarisch umgegangen, hätte der Berater zu sich gefunden. So aber „nagte“ dieses Erlebnis an den Beziehungen und letztlich an der Qualität der Zusammenarbeit. Es bedurfte der Sensibilisierung und Bearbeitung der Situation im Coaching, um für ihn das Thema Milieu und -Faktoren für die Kompetenz- und Beziehungsqualität fassbar zu machen.
Milieu und Passungen sind wichtige Perspektiven für professionelle Kompetenz und Fragestellungen im Coaching. Mit Hilfe der Theatermetapher gesprochen, hat Kompetenz damit zu tun, welches Rollenrepertoire man beherrscht (Rollenkompetenz) und damit, ob man sich in Themen, Inszenierungen und Bühnen auskennt, in denen diese Rollen zu spielen sind (Kontextkompetenz) (Schmid & Messmer, 2005). Zudem kommt es darauf an, dass die eigene Art, sich in seinen Repertoires auszudrücken und zu bewegen, zu den Anforderungen und Stilen der jeweiligen Umgebungen passt (Passung) (ebd.) – also auch zum jeweiligen Milieu. Auf die Unternehmenswelt übertragen heißt das: Passung der Person zum Berufsfeld, zur Organisationskultur, dem vorherrschenden Führungsstil und so weiter.
Wenn es sich bei den Milieu-Faktoren aber eher um Identitäten und weniger um Fertigkeiten handelt: Was bedeutet dies für professionelle Qualifizierung? Was kann wo, wie, von wem und in welcher Umgebung überhaupt gelernt werden? Diese Frage zu klären, bedarf es einer größeren Diskussion.
Milieu-Grenzgänger berichten von Schuldgefühlen gegenüber Herkunfts-Milieus bzw. der Angst, von einem der Milieus als fremd ausgestoßen zu werden. Auf einem Klassentreffen 40 Jahre nach dem Abitur berichtet eine heute 60-jährige Frau, die aus einem sehr reichen Elternhaus kam, sie habe damals ihren Klassenkameraden nie erzählen wollen, was sie in ihrer Freizeit (z.B. Besuch einer Wagneroper in Bayreuth, Fernreisen, privater Malunterricht) erlebt habe, weil sie sich geschämt habe und Angst davor hatte, ausgeschlossen zu werden.
Um sich professionell aufzustellen, um sich unbewusster Prägungen, Loyalitäten, Wertempfindungen und Empfindlichkeiten bewusst zu werden, muss man sich auch mit den Milieus, in denen man sozialisiert wurde, auseinandersetzen. Selbst wenn Rollenverhalten und Stil für ungewohnte Milieus gelernt werden können, bleibt noch ein „seelischer Migrations-Hintergrund“. Selbst gelingende Milieu-Wechsel können dauerhaft Kraft kosten und unverarbeitete Milieu-Verluste können belasten. Das sich Zurechtfinden in unvertrauten Milieus und die Versöhnung mit Herkunfts-Milieus brauchen Zeit und Aufmerksamkeit. Man sollte für den weiteren Werdegang prüfen, in welchen Milieus Karriere-, Zugehörigkeits- und Wirksamkeitswünsche befriedigt werden sollen, und wo man sich beheimatet fühlen kann.
Wer versucht, in ein Milieu aufzusteigen, versucht normalerweise durch besondere Leistung die Berechtigung dafür zu erwerben. D.h., die Zugehörigkeitsberechtigung wird an Leistung gebunden erlebt – während der Verbleib im heimischen Milieu im Vergleich dazu relativ unabhängig von Leistung verstanden wird. Sich einem neuen Milieu zugehörig zu fühlen, hat mit Selbstverständnis zu tun. Dieses Selbstverständnis ist schwer zu lernen, auch wenn man sich das Zugehörigkeitsempfinden zu einem neuen Milieu eigentlich verdient hätte. Problematisch wird es, wenn man sich trotz vordergründiger Zugehörigkeit aufgrund bleibender Milieu-Fremdheit nicht an die Menschen und Organisationen des erstrebten Milieus ankoppeln kann.
Es gibt Coaches, die darauf hinweisen, dass Berater als Executive-Coaches nur eingeschränkt geeignet seien, wenn sie aus einem sozial orientierten Mittelschicht-Milieu kommen. Sie könnten aufgrund ihrer Milieu-Herkunft schlechter an Executives andocken, glaubten ihrer Herkunfts-Milieu-Logik gemäß, dass es bei ihren Klienten um Einsicht, Beziehungsfähigkeit und Lernen gehe. Sie bauten daher in erster Linie darauf, Executives in Coaching-Kompetenz-Dimensionen zu unterstützen und würden dabei unterschätzen, wie sehr es in diesen Kreisen in erster Linie um Klassen- und Machterhalt gehe. Inwieweit und für wen diese Einschätzung gilt, ist schwer zu beurteilen, aber es wäre wichtig, sich im konkreten Fall davon ein Bild zu machen, um Enttäuschungen vorzubeugen.
Milieus neigen dazu, stabil zu bleiben, über Individuen und Generationen hinweg und zwar mittels Milieu-Reproduktion und -Tradierung. Diese richtet sich dabei nicht primär gegen Angehörige anderer Milieus. Es ist vielmehr naheliegend, ja geradezu selbstverständlich, dass jede gesellschaftliche Gruppe ihren Nachwuchs nach den Regeln ihres Milieus sozialisiert. Im Zweifel bleiben die Spielregeln und Selbstverständnisse des heimischen Milieus dominant.
So bekommt der Nachwuchs, auch wenn er in anders geprägten gesellschaftlichen Kreisen miterzogen wird (z.B. Managersohn im örtlichen dörflichen Fußballverein), eine Milieu-Rückendeckung, die es ihm erlaubt, sich dort zu bewegen, aber zugleich Abstand und ein milieu-gemäßes Selbstverständnis aufrecht zu erhalten. Geht es darum, berufliche Lebenswege einzuschlagen, werden selbstverständlich die Beziehungen genutzt, um sich gegenseitig – milieu-intern – den Nachwuchs ans Herz zu legen. Herkunft ist nicht alles, weshalb dieses Vorgehen nicht in jedem Fall funktioniert. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass die Karriere – auch bei mittelmäßiger Leistung und Eignung – auf Milieu-Niveau verläuft, ist recht hoch.
So entsteht der Eindruck, bestimmte Menschen bzw. soziale Gruppen seien schicksalhaft an ihr Milieu gebunden und von Milieus mit dem größeren Prestige, den Privilegien und der großen gesellschaftlichen Bühne ausgeschlossen. Würde davon mehr offensichtlich, hätte das mehr Gefühle der Kränkung, des Unbehagens, der Minderwertigkeit und Beziehungs-Spannungen zur Folge.
Fraglich ist daher nicht nur, ob Betroffene ihre gesellschaftliche Position reflektieren können, sondern auch, ob sie es wollen. Gemeinsames Wegsehen und Stillschweigen schützt vor Unbehagen und nüchterner Auseinandersetzung mit Geben und Nehmen, mit ausdrücklichen oder unterschwelligen Hoffnungen und der Bereitschaft, sie zu erfüllen. Anders als z.B. in vielen Kreisen anderer Länder, reden Privilegierte hierzulande ohnehin ungern über ihre Privilegien und ob ihnen diese zustehen. Wer will schon gerne „Neid-Debatten“ führen? Befürchtete Beschämung, Verlust von Aufstiegshoffnungen auf der einen, Rechtfertigungsprobleme und Privilegien-Verluste auf der anderen Seite machen das Milieu-Thema heikel und eine offene Diskussion über Milieus und Grenzen schwierig.
So wird dieses Thema zu einem Tabu in der gesellschaftlichen Kommunikation. Wird aber doch über Milieu-Faktoren diskutiert, ist sicherlich Differenzierung geboten, denn es besteht die Gefahr, in Stereotypen von „denen da oben“ oder „denen da unten“ bzw. „denen da drüben“ zu verfallen. Diese Bedenken sollten jedoch nicht dazu führen, den Faktor Milieu und Schichten per se auszublenden.
Hier ging es darum, dass das Milieu-Thema in der Selbsterfahrung von Coaches eine gewisse Bedeutung haben sollte – auch in Hinblick auf die Klärung der eigenen Rolle im Rahmen von Coach-Klienten-Beziehungen ist dies von Bedeutung. Bei genügend intimem und vertrauensvollem Kontakt kann diese Perspektive auch im Coaching mit Klienten einbezogen werden.
Dieser Beitrag basiert in Teilen auf: Schmid, Bernd (2010). Milieu – ein wenig beachteter Faktor im Coaching. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 17(1), S. 25–35.