Michigan, der extrem grüne Handschuhstaat im Nord-Osten der USA an der Grenze zu Kanada, umgeben von den größten Süßwasserseen der Welt, in dem sich Millionen-Schlösser in Golfparklandschaften mit herunter gekommenen, halb verlassenen Arbeiterstädten abwechseln, wo alter “Auto-Adel“ à la Ford und der Internetboom zur Illusion ewigen Reichtums und Wachstums geführt hatten, gehört zu den von den Wirtschaftsereignissen der letzten zwölf Monate am schwersten betroffenen Staaten der USA.
Bis dato hing die gesamte Wirtschaft Michigans von der Automobilbranche ab. Geraten die “drei Großen von Detroit“ (GM, Ford, Chrysler) – wie geschehen – in Schieflage, bedeutet das einen katastrophalen Domino-Effekt für tausende von großen und kleinen Automobilzulieferern. Hunderttausende verlieren ihren Job, Familien ihre Krankenversicherung und ihre Wohnhäuser, Menschen ihre Budgets für Konsum und Entertainment, welches wiederum eine neue Welle von Entlassungen in diesen nachgelagerten Branchen auslöst.
In einem Sozialstaat wie Deutschland ist es nur schwer vorstellbar, wie schnell ohne all die uns bekannten Auffangnetze eine Wirtschaft zusammenbrechen kann. Tausende waren gezwungen, sich in den ersten Monaten dieses Jahres einen Job außerhalb Michigans zu suchen, und ob der eingestürzten Hausmarktsituation ihre Hauschlüssel schlicht der Bank zu übergeben, ihre Möbel unterzustellen und mit Kind und Kegel in einen anderen Staat auszuwandern. Die, die das konnten, gingen zwar schweren Herzens, doch meist in bessere Situationen als die, die ohne Job bleiben mussten.
Was bedeutet das für Coachs in Michigan? Budgetkürzungen für Coaching in den Unternehmen bis hin zum völligen Einfrieren derselben. Breite Kundengruppen brechen somit auf einen Schlag weg. Laufende Coaching-Prozesse werden abgebrochen, weil die Kunden wegziehen. Executive-Kunden zahlen plötzlich privat. Auf der anderen Seite steht ein Heer von Arbeitslosen, die durchaus Coaching gebrauchen könnten, doch meist eher den sie an die Hand nehmenden Berater und Headhunter suchen. Aber es gibt auch neue, öffentliche Beratungsbudgets (Obama‘s Initiative “No worker is left behind“), die Jobsucher für Coaching anzapfen können.
Die Coachs müssen radikal umdenken, und sich etwas Neues einfallen lassen. Bei der Ausschau nach neuen Kundengruppen dehnt man vielleicht den eigenen Coaching-Radius geografisch aus. Der Fokus verlagert sich zudem auf Reisekosten sparendes Telefon-Coaching bis hin zu Gruppen-Coaching via Telefonkonferenz. Neue Themen wie „Transition“ und „Change-Management“ werden bedient und eventuell nimmt man sogar neben dem Coaching einen Zweit-Job an, um seine Einnahmen zu sichern.
Vor diesem Hintergrund ist der Konferenztitel „More“ (mehr), den der Vorstand von PCAM gewählt hatte, fast „obzön“ – doch nur auf den ersten Blick. Denn wozu sich die 100 Coachs in Lansing treffen, ist nicht ein Treffen von Kollegen, die von einander möglichst mehr lernen wollen, wie sie mehr Leistung als Coachs bringen können, sich mehr vermarkten und mehr Geld machen. Nein, was bei dieser Konferenz ansteht, drückt das Wesen des midwest-amerikanischen Spirits aus: „Positives, an Lösungen orientiertes Denken – auf Teufel komm raus“ plus „wertschätzen, wertschätzen, wertschätzen“ gepaart mit einem tiefen „Commitment für die lokale Gemeinschaft“, getrieben von der leidenschaftlichen Frage: „Wie kann ich Leadership zeigen und einen positiven Beitrag zum Wiederaufbau Michigans leisten?“
“What strengths will you bring to support the M.O.R.E. theme? How can you influence the resurgence of Michigan? In what ways will you take the lead in making this happen?” Mit solchen Fragen warben die Veranstalter ihre potenziellen Konferenzteilnehmer. Denn das M.O.R.E.-Motto steht für „Michigan. Opportunity. Resurgence. Empowerment“. Oder kurz gesagt: Wege aus der Krise.
Nach einer leidenschaftlichen Eröffnungsrede von Julie Norris, Präsidentin des PCAM, erarbeiten die Konferenz-Teilnehmer eine Visionscollage. Und dann startet der erste lange Nachmittag. Linda Miller und Barry Demp, zwei MCCs (Master Certified Coaches, höchster Zertitizierungslevel der ICF), präsentieren Live-Coaching-Demos. Beide Kunden sind jeweils nach der kurzen Zeit von 20 Minuten sehr beindruckt und dankbar für ihre Erkenntnisse und Commitments. Doch was denken die circa 100 anderen Coachs, die jeweils nach den Sitzungen in kleinen Gruppen anhand der elf Hauptkernkompetenzen, die der ICF für Coaching definiert hat, die beiden Sitzungen analysieren? In fast all diesen “Wisdom Circles“ (der Name kommt von der Überzeugung, dass kleine Gruppen mehr Erkenntnisse und Weisheit generieren als der einzelne Kopf alleine) wird heftig über die Fragen diskutiert: Wieviel Beratung verträgt Coaching, um noch Coaching zu sein? Müssen immer alle Kernkompetenzen in einer Sitzung gezeigt werden, egal wie kurz sie ist?
Deutlich wird die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Coaching-Ausbildungsinstitute und deren Philosophie, und wie sehr ein gemeinsamer Standard nötig ist, ein gemeinsamer Nenner, auf dem sich alle treffen können, und der den Kunden Sicherheit gibt, unterscheiden zu können, was Coaching wirklich ausmacht.
Barry Demp gibt den Teilnehmern einen kraftvollen Impuls mit auf den Weg: „Try to find other coaches in the life of your client”. Was für eine Geste von Demut und Großzügigkeit: Wir sind nicht die einzigen Menschen im Leben unserer Kunden, die diese weiter bringen. Schauen wir über den Tellerrand und nutzen wir – ganz systemisch – diese Ressourcen.
Ginny Victory, verantwortlich für die Konferenzleitung, startet nun einen Networking-Prozess rund um einen Finger-Food-Imbiss. Die Teilnehmer sollen sich – während sie diverse Häppchen genießen – in unterschiedlichen Gruppen mit M.O.R.E. beschäftigten:
Linda Millers (The Ken Blanchard Companies) interaktiver Workshop rund um Leadership (“Den Wiederaufbau Michigans unterstützen“) ist das Thema des Vormittags des zweiten Tages. Coachs sind Leader und haben eine Mission, in ihrem eigenen Business und für die Gesellschaft. Doch wir können unsere Ziele nicht alleine erreichen. Mit Hilfe einer „Beziehungslandkarte“ werden sich die Teilnehmer über die eigenen wichtigsten Beziehungen bewusst und fragen sich: Was hat der andere davon, mit mir in Beziehung zu sein?
Zentrales emotionales Element des Workshops sind circa 200 bunte Bilder, aus denen sich die Teilnehmer jeweils ein Bild für ihre Ist-Situation und eins für ihr aktuelles wichtigstes Veränderungsziel aussuchen sollen. Paarweise tauschen sich die Teilnehmer über die Bilderwahl aus, was bei manch einem zu überraschenden Erkenntnissen führt. Auch bei dieser Runde stehen die ICF-Kernkompetenzen als Leitlinien im Fokus. Jeder Teilnehmer bekommt einen schriftlichen Feedbackbogen von seinem Partner mit Hinweisen, wie er welche Kompetenzen zum Ausdruck gebracht hat. Es wird gelacht, geweint, Ahas erzeugt und intensiv debattiert – tosender Applaus beendet den Vormittag.
Ganz dem amerikanischen Effizienzbestreben geschuldet wird die 90-minütige Mittagspause nicht wirklich als Pause gestaltet. Mit noch kauenden Teilnehmern beginnt nach 30 Minuten das PCAM-Geschäftstreffen für Mitglieder und interessierte Gäste. Auch ganz typisch für die amerikanische Kultur steht hier die Anerkennung und Wertschätzung von Personen und ihrer Leistung im Fokus:
Am Nachmittag haben die Konferenzteilnehmer die übliche Qual der Wahl zu treffen, an welchem der sieben Workshops, die in zwei Zeitblöcken parallel nacheinander dargeboten werden, sie nun teilnehmen wollen. Alle Themen und Referenten sind mit Blick auf das Konferenz-Motto ausgesucht worden. Alle Workshops werden vom ICF als Fortbildungsstunden (CCE = Continuing Coaching Education) anerkannt. Zum Ende der Workshops lassen sich die Teilnehmer entsprechend ihren CCE-Passport abstempeln.
Im abschließenden gemeinsamen Plenum geht es um ein lustvolles Sammeln von „Memorable Moments“. Neben persönlichen wichtigen Einsichten ist überwiegend zu hören, wie sehr sich gerade junge Coachs ermutigt fühlen, mit ihrer Berufsentscheidung auf dem richtigen Weg zu sein, und wie wichtig den Teilnehmern die zum Teil überraschend tiefen Begegnungen waren. Die Teilnehmer haben erlebt, sie sind nicht alleine, und es gibt viele Ansätze für Fortsetzungen und gemeinsame Aktionen. Spätestens auf der Konferenz im nächsten Jahr.
Die Amerikaner haben eine im Vergleich zu Deutschland unverkrampfte Einstellung zu Öffentlichkeitsarbeit und Networking. Das liegt sicher an der anderen Kultur, zu der auch gehört, dass der Staat weniger Leistungen vorhält, und somit die private Initiative notwendig ist. Vor, während und nach dieser Konferenz waren und sind die Coachs aktiv in der Öffentlichkeit präsent. Beispielsweise
All diese Treffen sind offen für eine am Coaching interessierte Öffentlichkeit. Man muss nicht selber als Coach arbeiten oder Mitglied beim ICF sein, um daran teilhaben zu können. So nutzen Nicht-Coachs diese Treffen, um in den Coaching-Demos kostenfrei Coaching zu bekommen, hilfreiches Know-how für ihren Führungsalltag aus den Vorträgen zu ziehen, heraus zu finden, wie ihr Coach Coach wurde, oder ob diese Profession angesichts des steigenden Transitionsdrucks eventuell auch etwas für sie selbst sein könnte.
Trotz wirtschaftlicher Enge ist die Coaching-Szene hier im Mittleren Westen der USA vom Stichwort der Großzügigkeit geprägt. Großzügigkeit
Da jeder Amerikaner in seiner Schulzeit mit mehreren Sport-Coachs groß geworden ist und diese als Vorbilder verehrt hat, ist der Begriff „Coach“ jedem Amerikaner vertraut und wird immens wertgeschätzt. Das heißt nicht, dass Coachs deshalb weniger „Aufklärungsarbeit“ als deutsche Coachs leisten müssen, um ihre Dienstleistung von anderen Beratungsformen oder der Therapie zu unterscheiden. Doch das Klima, auf das sie mit ihrem Networking und Marketing treffen, ist dem Berufsstand extrem wohlgesonnen, was den Akquiseprozess erleichtert und emotional angenehmer macht. Statt auf Misstrauen – „Muss ich bei Ihnen auf die Couch?“ – zu stoßen, hören sie: „Wow, klasse! Ich wusste nicht, dass es außerhalb des Sports Coachs gibt und ich als Führungskraft einen Business-Coach zur Unterstützung für meine Performance nutzen kann.“
Sind deutsche Coach-Kunden anders als amerikanische? Natürlich! Kulturelle Unterschiede zeigen sich auch im Coaching: Empfehle ich meinen Kunden ein Buch, hat ein amerikanischer Kunde es bereits eine Stunde später via iPhone bei Amazon bestellt und schickt mir eine Woche später eine begeisterte E-Mail mit der Frage: „Great! Was soll ich jetzt lesen?“ Mein deutscher Kunde fragt eher differenziert nach, warum gerade bei seinem Thema jetzt dieses Buch das Richtige sei. Einen Monat später schickt er mir eine lange E-Mail mit einer kritischen Auseinandersetzung und einer eigenen Buchempfehlung.
Amerikaner leben in dem Paradigma “Zeit ist Geld“. Der Beziehungsaufbau geht daher schneller und bleibt oberflächlicher. Ziele werden gerne schnell erreicht und tiefe Reflexion ist ungewohnt. Meine amerikanischen Kunden schätzen meine „deutsche Art“ des sehr direkten, manchmal provozierenden Feedbacks gepaart mit Verlangsamung und Vertiefung, während meine deutsche Kunden meine „amerikanische Art“ der Leichtigkeit, tiefer, begeisterter und offener Wertschätzung und der Freiheit, „groß zu denken“ zu schätzen wissen.
Alles ist anders. Besser? Nein, nur anders. Ich bin dankbar, mit beiden Kulturen arbeiten und von beiden lernen zu dürfen. Je amerikanischer ich werde, desto mehr weiß ich mein Deutschsein bewusst zu schätzen.