Starten wir mit einem großen Missverständnis: So etwas wie einen typisch arabischen Klienten gibt es nicht. Man trifft auf konkrete Manager aus Marokko, Ägypten, dem Libanon oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (UAE). Die geografische, politische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Vielfalt von nordafrikanischen und Ländern des Mittleren Ostens ist gewaltig. Wir sprechen hier von 22 Nationen mit ungefähr 300 Millionen Einwohnern – vom französisch geprägten Nordafrika bis zum englischsprachigen Mittleren Osten:
Araber teilen jedoch einige kollektive Erfahrungen: ihr islamisches, kollektives Erbe, die arabische Sprache und moralische Grundhaltung sowie eine Geschichte der Unterdrückung durch westliche Besatzung.
Die Vielfalt der arabischen Welt auf der einen und der Einfluss anderer Kulturen auf der anderen Seite machen es schwierig, Coaching in der arabischen Welt zu generalisieren. Trotz allem gibt es genug Gemeinsamkeiten und Muster, um ein Konzept zu entwerfen, wie Coaching erfolgreich an die arabische Geschäftskultur angepasst werden kann.
Lange Zeit lebten die Menschen in arabischen Ländern in einem nomadischen Stammessystem. Dieses ermöglichte das Überleben unter beschwerlichen Bedingungen. Eine streng patriarchalische, hierarchische Autorität wahrte die kollektiven Interessen. Individuelle Ideen oder Entscheidungen mussten sich dem unterordnen. Kollektivismus ist aber nicht nur das Resultat der Stammesgeschichte. Es ist ebenfalls ein Resultat des Versagens des Staates, Verantwortung für das Überleben der Bürger zu übernehmen. In den meisten westlichen Nationen gibt es Arbeitslosen-, Kranken- und weitere Sozialversicherungen. In den meisten arabischen Staaten verlassen sich arbeitende Paare auf ihre Familie oder ihren Clan.
In westlichen Ländern bedeutet Familie oft Eltern mit Kindern. In arabischen Ländern beinhaltet die Familie viele Generation und damit auch Mitglieder, die im Westen wohl eher als entfernte Cousins bekannt wären. Das Resultat ist ein hoher Grad an Zusammenhalt, jeder kennt und jeder unterstützt jeden.
Doch die Ausprägungen sind in Ländern wie Tunesien oder dem Libanon weniger kollektiv und autoritär als beispielsweise in Libyen oder Saudi-Arabien. Man findet hier Alleinstehende, arbeitende Mütter oder junge Paare, die ihren eigenen Lebensunterhalt ohne Familie verdienen wollen oder müssen. Für die Coaching-Praxis ergeben sich aus diesem Befund einige Konsequenzen:
Die arabische Kultur ist tief geprägt durch ihr islamisches Erbe. Der Qur‘an und die Sunnah (Praktiken, die auf den Aussagen und Taten des Propheten Mohammed basieren) sind wichtige Bezugspunkte für das tägliche Leben. Es gibt jedoch verschiedene Schulen und verschiedene Ebenen religiöser Folgschaft. Einige radikale Fundamentalisten lehnen den Westen und seine Werte im Namen des Islams ab. Andere rechtfertigen Demokratie, Rechte der Frauen und Freiheit. Die meisten Muslime sind eher moderat und leben eine liberale Variante des Islams.
Es sind jedoch einige Dinge in den letzten Jahren passiert, die dazu geführt haben, dass sich Angst und Misstrauen in arabischer und westlicher Welt ausbreiten. Die Konzentration westlicher Medien beispielsweise auf Terroranschläge oder die Taliban haben dazu beigetragen, der westlichen Bevölkerung ein falsches Bild des Islams als Ganzes zu geben. Nicht wenige Führungskräfte und Coachs im Westen sehen den Islam als eine gewalttätige Religion und Araber allgemein als eine Bedrohung. Für die Coaching-Praxis ergeben sich aus diesem Befund einige Konsequenzen:
Die Beziehung zwischen arabischen Gesellschaften und dem Westen ist zwiegespalten. Sie wurde oft schon als Hassliebe bezeichnet.
In der Geschichte zeigten sich die westlichen Länder als Kolonialmächte, die nationale Bewegungen für Unabhängigkeit unterdrückten. Während der Kolonialperiode unterstützten sie Passivität und Unterlegenheit der arabischen Bevölkerung. Aber ein Teil des Hasses ist legendär, begründet in den Kreuzzügen und der Periode, als die Araber Andalusien aufgrund der Reconquista verlassen mussten.
Einige aktuelle Gründe für den Zwiespalt und den Hass gegenüber dem Westen, welche oft in der arabischen Welt – aber nicht nur dort – genannt werden, sind:
Araber sind fasziniert von westlichem Fortschritt und dessen Technologie. Forscher und Gelehrte zitieren westliche Studien. Im Westen ausgebildet worden zu sein, gibt jungen Leuten einen Wettbewerbsvorteil. Weiterhin schätzen Araber, die im Westen gelebt oder ihn besucht haben, die Freiheit und Vorteile der Demokratie.
Manchmal ist diese Faszination so enorm, dass sie sich zum Minderwertigkeitskomplex auswächst: Alles aus Europa oder den USA ist besser als ein lokales Produkt oder eine lokale Dienstleistung. Dieser Umstand hat Trainern und Coachs aus Großbritannien und dem Rest von Europa einen gigantischen Wettbewerbsvorteil verschafft. Sie werden oft aufgrund ihrer Nationalität ohne Qualitätsprüfung angeheuert. Dies hat aber auch dazu geführt, dass etliche Scharlatane die Coaching- und Trainingsszene in einigen arabischen Ländern beschädigt haben. Für die Coaching-Praxis ergeben sich aus diesem Befund einige Konsequenzen:
Das Thema Vielfalt der arabischen Gesellschaft wird noch verschärft durch eine große Anzahl von Migranten – im Maghreb sind es bloß ein Prozent, in Saudi Arabien schon über 18 Prozent und Dubai hat einen Migrantenanteil von 80 Prozent. Der Coach hat nicht nur arabische Klienten, sondern solche aus hundert verschiedenen Kulturen. Eine Kollegin drückte das einmal so aus: „Wenn ich eines hier [Dubai] gelernt habe, ist es eine Menge über Völker und wie man richtig zuhört. Vielfalt in Großbritannien bedeutete, mit in London geborenen Menschen mit indischem Migrationshintergrund in zweiter Generation zu arbeiten. Hier ist es eine andere Situation: Jeder ist „erste Generation“, tief verwurzelt in der eigenen Kultur und deren Werten.“ Für die Coaching-Praxis ergeben sich aus diesem Befund einige Konsequenzen:
In westlichen Gesellschaften sind Selbsthilfebücher Bestseller. Das „Ich zu reflektieren“ oder „Wer bin ich“ zu fragen, sind normale Praktiken in gewissen Kreisen sowie in Kunst und Literatur. Araber, die wenig Kontakt mit dem Westen hatten, sind sehr weit davon entfernt, eine solche Frage zu stellen. Wenn sie gefragt werden, werden sie immer antworten: „Ich tue das nicht für mich, sondern für andere.“ Es besteht die Erwartung an die Einzelperson, eine Rolle wie guter Sohn, gute Tochter, guter Vater oder gute Mutter zu erfüllen.
Zudem führt die Beantwortung dieser Fragen nicht unbedingt zu höherer Zufriedenheit. Sie mag sogar zur Erkenntnis von Bedürfnissen führen, die niemals erfüllt werden (können), denn der Klient müsste seinen Clan damit konfrontieren. Der Klient könnte dadurch sogar unglücklicher und instabiler werden. Sein Leben in die eigene Hand zu nehmen und es auf eigene Weise zu leben, ist ein sehr westlicher Weg zum Glück.
In arabischen Staaten ist das Ego ein Tabu. Gott und die Anführer haben ein Monopol auf das Ego, das zeigt eben auch der ausgeprägte Personenkult vieler Herrscher. Wenn man als Nichtprivilegierter sein eigenes Ego zeigt, betritt man die politische Arena – mit all ihren Risiken. Für die Coaching-Praxis ergeben sich aus diesem Befund einige Konsequenzen:
Arabische Mädchen haben im Normalfall eine strengere Erziehung genossen als Jungen. Es steht ihnen weniger frei auszugehen, sich in Discos, auf Partys oder in Restaurants zu amüsieren. Dies hat eine interessante Auswirkung: Die meisten Mädchen kompensieren das bereits ab jungem Alter, indem sie sich stärker auf Schulleistungen konzentrieren. In den meisten arabischen Ländern haben Mädchen bessere Noten. An Universitäten findet man meist mehr als 50 Prozent weibliche Studenten, sogar in Ingenieurwissenschaften oder Physik. Der Anteil der Universitätsprofessorinnen ist signifikant höher als in westlichen Ländern.
Dieses Muster der Exzellenz zeigt sich auch in der Arbeitswelt. Allerdings ist es nur auf Frauen mit Zugang zur Bildung anwendbar. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass 65 Millionen Araber Analphabeten und zwei Drittel davon Frauen sind. Mehr als zehn Millionen arabische Kinder zwischen sechs und 15 Jahren wurden nicht eingeschult, und dieser Trend wird sich wohl um weitere 40 Prozent in der nächsten Dekade erhöhen.
Viele arabische Führer der Geschichte haben die Emanzipation der Frauen unterstützt und Bildung für alle sozialen Klassen und beide Geschlechter angeboten, beispielsweise in Tunesien und Dubai. Trotzdem ist es noch ein langer Weg, bevor Frauen einen gleichwertigen Einfluss – nicht nur – in der Geschäftswelt des arabischen Raums besitzen werden. Für die Coaching-Praxis ergeben sich aus diesem Befund einige Konsequenzen:
Viele C-Level Führungskräfte (CEO, CIO, COO etc.) in der arabischen Welt sind jung. Oft sind sie die zweite oder dritte Generation eines familiengeführten Unternehmens oder Mitglieder des herrschenden Clans. Diese Frauen und Männer sind meist im Westen oder, wie in letzter Zeit immer öfter, in Asien ausgebildet worden und ihr Alter reicht von Anfang 20 bis 35 Jahre. Manche von ihnen hatten die Chance, in Übersee zu arbeiten, dort Erfahrung zu sammeln und Best Practices kennen zu lernen. Es ist keine Ausnahme, dass eine Führungskraft zu ihrem dritten großen Job in 18 Monaten bestellt wird, obwohl sie keinen Bezug zu einer dieser Positionen hat. Sie wird den Job bekommen, wenn sie flexibel ist und schnell lernt.
Vielen dieser jungen Führungskräfte mangelt es jedoch an professioneller Kompetenz und Führungserfahrung für diese Rollen. Sie brauchen Unterstützung, um mit der Herausforderung einer C-Level-Position fertig zu werden. Dazu kommt noch, dass sie nur selten Angestellte oder im mittleren Management beschäftigt waren. Mit den Worten eines ausgewanderten mittleren Managers in Abu Dhabi: „Sie mussten die Leiter nicht hochklettern, also wissen sie nicht, wie es sich anfühlt, ein Manager in der Mitte oder ein einfacher Angestellter zu sein, der angewiesen ist auf Informationen von oben. Sie demotivieren die Leute, indem sie keine Informationen geben und alles vertraulich halten. Es ist nicht böse gemeint, es zeigt einfach nur, dass sie keine Führungserfahrung haben.“
Für die Coaching-Praxis ergeben sich aus diesem Befund einige Konsequenzen:
Negatives Feedback und Konflikte stören die Harmonie und führen zum Gesichtsverlust. Viele arabische Führungskräfte fürchten, dass man sie weniger respektiert, wenn sie offen über Fehler und Schwächen sprechen. Arabische Führungskräfte senden oft einen Dritten, um ihren Angestellten negatives Feedback zu geben, da es ihnen schwerfällt, es unter vier Augen zu sagen. Jüngere Führungskräfte dürfen keine Fehler machen, also können sie nicht aus ihren Fehlern lernen.
Viele Manager haben Probleme mit Teamwork. Als Coach findet man eine Menge dysfunktionaler Teams. Konflikte können sich über die Zeit entwickelt haben und wurden nie gelöst. Oder sie werden eher indirekt gelöst. In einem Konferenzraum zu sitzen und sich gegenseitig zu konfrontieren, ist ein Affront. Die Rolle einer dritten Person, eines Mediators, spielt in solchen Konflikten dagegen traditionell eine wichtige Rolle. Für die Coaching-Praxis ergeben sich aus diesem Befund einige Konsequenzen:
Zum ersten Mal in der jungen Geschichte der reichen arabischen Länder erfahren diese eine wirtschaftliche Rezession und den Druck zum Downsizing. Reichtum durch Öl und massives Wirtschaftswachstum waren normal in den letzten Jahren. Die meisten Führungskräfte mussten sich keine Gedanken über „Management in turbulenten Zeiten“ machen, und die meisten Organisationen haben keine Erfahrung darin, Krisen zu überleben.
Die Auswirkungen der globalen Krise sind jedoch signifikant und der Wettbewerb wächst. Lokale Führungskräfte sind für diese Veränderung nicht bereit. Viele dieser Staaten hatten keine Zeit, ihre Lektionen zu lernen. – Doch jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Für die Coaching-Praxis ergeben sich aus diesem Befund einige Konsequenzen:
Die Krise in der arabischen Welt und auch in Entwicklungsländern, ist eine Krise der Führung und des Managements. Als Coach in dieser Umgebung kann man dazu beitragen, bessere Führungskräfte zu entwickeln.
Da Coachs ein Produkt der westlichen Kultur sind, müssen sie sich in der arabischen Welt mit ihren Techniken und ihrer Herangehensweise anpassen. Um mit arabischen Führungskräften als Coach zu arbeiten, müssen sie sich auf diesen Teil der Welt einlassen.