Es hat sich lange schon herumgesprochen, dass systemische Beratung gegenüber einem klassischen Ansatz einen Mehrwert generiert. Weil Wechselwirkungen herausgearbeitet werden, Abhängigkeiten, Einflüsse und unterschiedliche Perspektiven. Allerdings wird die Angelegenheit dann auch schnell kompliziert, weil komplex. Es tut Not, die Gemengelage des Klienten zu visualisieren und damit zu dokumentieren, weil man so den Überblick behält – und auch eine gemeinsame Landkarte nutzen kann. Deshalb kommt häufig der „Papiercomputer“ von Frederic Vester zum Einsatz. Er ist ein grafisches Modell zur Herstellung von Verbindungen zwischen verschiedenen Faktoren. Ziel ist, mehr Klarheit darüber zu erhalten, wie die Faktoren sich gegenseitig beeinflussen und welche Einflüsse verändert werden müssen, um spezielle Ergebnisse zu erzielen.
Für Organisationen, die sich auf systemische Beratung einlassen, bringt dieses Vorgehen oft wichtigen Erkenntnisgewinn sowie einen Transfer und damit Lernerfolg in die Organisation. Fragen wie diese sind hilfreich: Welche Auswirkung hat es? Was noch? Welche Nebenwirkungen erwarten sie? Wann? Wie werden das andere Beteiligte sehen und wie werden sie reagieren?
Nach meiner Erfahrung im Coaching – aber auch in Workshops mit mehreren Teilnehmern – wird das Arbeiten an Flipcharts oder Moderationswänden recht schnell unübersichtlich. Vor allem natürlich dann, wenn zum Schluss ein bisher nicht im Vordergrund stehender Faktor noch berücksichtigt werden muss ... Die Visualisierung versinkt im Chaos oder muss komplett neu angelegt werden, beides frustriert. Die Gefahr des Abbruchs einer wirklich systemischen Erkundung ist an dieser Stelle hoch. Und die Wahrscheinlichkeit, zur vereinfachenden Darstellung zurückzukehren, deshalb ebenfalls.
Die Visualisierungstechnik auf dem Papier limitiert im gewissen Sinne die leichte Verbreitung des systemischen Ansatzes im Management und in Organisationen. Systemisches Denken hat sich im betrieblichen Alltag bislang nicht wirklich durchgesetzt. Einen Umstand, den auch die aktuelle „Capgemini Change Management Studie 2010“ herausstellt. Die befragten Führungskräfte aus deutschen, österreichischen und schweizerischen Unternehmen loben zwar die ganzheitliche Betrachtungsweise (33 Prozent), doch was die Transparenz des Wirkungsgefüges betrifft, sinkt die Zustimmung dann auf nur noch 15 Prozent. Lediglich acht Prozent schätzen die Systematik in der Vorgehensweise. Solche Zahlen sollten nachdenklich machen.
Und wenn Berater dann zutief in die „Psycho-Kiste“ greifen oder auf Methoden setzen, die nicht wirklich anerkannt sind, wie beispielsweise sogenannte systemische Aufstellungen, lautet die Kritik schnell: „Esoterik“, „Naja, Kinderkram“, oder „Ringelpiez mit Anfassen“. Das Votum der von Capgemini befragten Top-Manager ist daher deutlich (31 Prozent): Sie sehen einen ganz klaren Verbesserungsbedarf in einer stärkeren Businessorientierung.
Einer der Pioniere der Forschung zum Entscheidungsverhalten in hochkomplexen Situationen hierzulande ist Professor Dr. Dietrich Dörner. Der inzwischen emeritierte Lehrstuhlinhaber für „Theoretische Psychologie“ an der Universität Bamberg hat zu menschlichen Denk- und Verhaltensmustern in komplexen Entscheidungssituationen geforscht und kam zu der Erkenntnis: „In komplexen, vernetzten und dynamischen Handlungssituationen macht unser Gehirn Fehler: Wir beschäftigen uns mit dem ärgerlichen Knoten und sehen nicht das Netz; wir berücksichtigen nicht, dass man in einem System nicht eine Größe allein modifizieren kann, ohne damit gleichzeitig alle anderen zu beeinflussen.“ Nach seinen empirischen Studien begehen wir immer wieder die gleichen Fehler:
Was wir also brauchen, ist eine systemtheoretische Betrachtungsweise, um Beratungsproblematiken besser verstehen, darstellen und bearbeiten zu können. Und zwar eine solche, die besser am Businesskontext Anschluss findet als die hierzulande im Bereich systemisches Denken geläufigen. Hier bietet sich System Dynamics an.
System Dynamics ist eine von Jay W. Forrester in den 1950er Jahren an der Sloan School of Management des Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelte Methodik. Sie ist eine Disziplin der Modellierung, Simulation und Steuerung komplexer, dynamischer Systeme, die auf der Systemtheorie und Kybernetik basiert. Das Ziel ist es, Entscheidungsträgern in dynamischen, komplexen Situationen wirksame Unterstützung zu bieten.
Wichtig dabei: Systeme verhalten sich nicht linear kausal. Wir Menschen – und daher auch Manager – denken jedoch gerne so. Menschen schaffen es zudem nicht, mehr als vier Variablen gleichzeitig zu verarbeiten (Halford et al., 2005). Wir verlassen uns dann hochriskant auf unser Bauchgefühl oder vertrauen blind auf Rezepte der Vergangenheit.
Die Besonderheit von System Dynamics liegt darin, dass Feedbackbeziehungen (Rückkopplungen) und Zeitverzögerungen in Ursache- und Wirkungsbeziehungen explizit berücksichtigt werden. Die Erarbeitung solcher Systeme erfolgt mittels qualitativer und quantitativer Modelle:
Es gibt inzwischen eine Reihe von Softwarewerkzeugen, die systemisches Denken unterstützen und die alten Fehler der Simplifizierung vermeiden sollen (s. Kasten). Am Beispiel vom Consideo Modeler werden hier die Möglichkeiten eines solchen Softwarewerkzeugs vorgestellt.
Der Consideo Modeler ist ein Modellierungswerkzeug, eine täglich einsetzbare Software (Windows, Mac und Linux) zur Visualisierung und Analyse von Zusammenhängen. Mit dem Modeler kann das Verhalten des Systems im Zeitverlauf (kurz-, mittel- und langfristig) simuliert werden. Das ermöglicht ein tieferes Verständnis des Systemverhaltens. Organisationen, die dieses Denken und Systeme nutzen, werden einen deutlichen Wettbewerbsvorteil haben. So können Entscheidungsspielräume ausgelotet und Alternativstrategien getestet und verbessert werden. Damit kommen Manager zu besser durchdachten und solideren, weil gründlich getesteten, strategischen Entscheidungen.
Der erste Schritt ist das Finden und die Konkretisierung des Ziels. Dabei ist darauf zu achten, dass das Ziel ein gewünschtes Ergebnis ist, also ein Anstrebungsziel und kein Vermeidungsziel. Auch braucht es eine gute Balance von Konkretisierung und Verallgemeinerung. Eine zu konkrete Formulierung kann das Ziel einengen. Wird es zu allgemein formuliert, kann dies zu Konzeptlosigkeit führen. Das erste Fenster des Modeler erinnert den Moderator, die konkrete Problem- oder Fragestellung, Ziele und Systemgrenzen zu definieren.
Darauf erfolgt im zweiten Schritt das Brainstorming über die Variablen und Faktoren des Systems. Hierbei hilft die Know-Why-Methode mit dem Gedanken, dass es für ein System langfristig wichtig ist, eine Balance von Integration und Weiterentwicklung zu realisieren. Dadurch erweitert sich die Perspektive. Den kreativen Modus und das Arbeitsblatt des Modelers kann man sich wie die Arbeit mit Moderationskarten und -wand vorstellen. Hier können die Variablen und Faktoren gesammelt und geclustert werden.
Im dritten Schritt werden die gefundenen Variablen und Faktoren des Systems in Bezug auf ihre Beziehungen zueinander untersucht. Dabei geht es um drei Kriterien:
Hier unterstützt der Modeler mit der qualitativen Modellierung. Die wesentlichen Faktoren aus dem zweiten Schritt werden in die Modellierung übernommen. Die Argumente können so wie gesprochen in einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang als Faktoren abgebildet werden. Mit Maus und Schablonen werden die Beziehungen nach den drei Kriterien modelliert und dargestellt. Dabei können Subsysteme für mehr Übersichtlichkeit gebildet werden.
Der abschließende vierte Schritt beschäftigt sich mit der qualitativen Modellierung und Analyse. Ursache-Wirkungsketten und Wirkungsschleifen (selbstverstärkende und ausgleichende) werden auf einen Klick angezeigt. Die Erkenntnismatrix zeigt die Wirkungszusammenhänge grafisch an und bietet so eine sehr aussagefähige Visualisierung an.
Zusätzlich bietet der Modeler die Möglichkeit der quantifizierten Modellbildung an. Dabei können einfache Was-Wäre-Wenn-Szenarien (Szenarioplanung) aufgebaut und im Managementcockpit angezeigt werden. Unterschieden werden Bestands-, Fluss-, Informations- und Inputfaktoren. Bestandsgrößen können beispielsweise sein: Kontostände, Materialstände oder Qualitätsniveaus. Im Modeler müssen nur Bestandsfaktoren identifiziert werden, die übrigen Faktortypen werden weitestgehend automatisch gewählt. Die Formel für einen Bestandsfaktor berechnet der Modeler von ganz alleine.
Die schon erwähnte Capgemini-Studie attestiert der systemischen Beratung eine hohe Zustimmung durch Manager. Gleichzeitig wird bemängelt, sie sei wenig transparent und systematisch. Wenn man systemische Organisationsberatung und Coaching auf das Anwenden der „Systemaufstellung“ reduziert, dann wird das sehr gut erklärbar. Oft wird Letztere mit dem Hinweis beendet, dass sich die Wirkung dann in der Außenwelt zeige. Jedes Werkzeug hat seinen Platz je nach Fragestellung. „Systemaufstellungen“ sind aber keine Allheilmittel.
Die Arbeit mit dem Modeler liefert hingegen sehr konkrete Ergebnisse. Vorgehen und Prozess sind für alle Beteiligte transparent. Die Teilnehmer lernen durch den Prozess „Systemdenken“ und systemische Fragen kennen. Das ist ein nicht zu unterschätzender Know-how-Transfer. Jeder Arbeitsschritt im Prozess ist gleichzeitig seine Dokumentation.
In der Strategieberatung oder bei der Problemanalyse ist die Arbeit mit dem Modeler in Organisationen auch gleichzeitig ein Coaching. Selten finden sich Organisationen mit einer perfekten Kommunikations- und Streitkultur. Es gibt die bekannten blinden Flecken im persönlichen sowie im organisatorischen Bereich. Dazu kommen bei wichtigen Themen in Organisationen immer Zielkonflikte und Befindlichkeiten.
Im ersten Schritt gilt es herauszufinden, wer in der Organisation direkt oder indirekt von der aktuellen Fragestellung berührt ist. Klar ist es auch hier wichtig, eine vernünftige Balance in der Anzahl der Teilnehmer für einen Workshop zu finden. Eine möglichst heterogene Gruppe in Bezug auf Hierarchie und Berührungspunkte mit dem Thema hat sich bewährt. Das ist analog zu der Besetzung der Steuerungsgruppe aus systemischer Sicht zu sehen.
Auch wenn der Glaube an den sachlichen denkenden und ökonomisch entscheidenden Manager und Mitarbeiter nicht aussterben will: In jedem Coaching in Organisationen bemerken Sie das Gegenteil. Also können Sie nicht davon ausgehen, dass die Workshops „wie am Schnürchen“ laufen. Hier eine Liste von Fragen, die sich Teilnehmer während der Workshops möglicherweise direkt oder indirekt stellen:
Der Moderator und Coach braucht eine professionelle Auftragsklärung und eine sehr offene Wahrnehmung während des Prozesses. Angefangen von der aktiven Wahrnehmung der grundsätzlichen Atmosphäre sowie der Körperhaltung, Gestik, Mimik der Teilnehmer bis hin zur Dialog- und Kommunikationskultur – sowie natürlich den Inhalten. Über welche Inhalte wird gerne gesprochen, was wird eher übergangen?
Systemische Fragen, die Konfrontation mit Wahrnehmungen und Hypothesen, also das übliche Coaching-Know-how unterstützt den Prozess des Modellierens sehr. Ein zusätzlich entscheidender Mehrwert ist hierbei die Entwicklung einer neuen Kommunikationskultur in der Organisation.
In der Organisation XY ging es um die Überprüfung des gegenwärtigen Geschäftsmodells. In der Auftragsklärung wurde mit der Geschäftsführung vereinbart, dass alles angesprochen werden soll, was zu einer Überprüfung beiträgt. Zum Workshop wurden die Verantwortlichen für das operative Geschäft aus Vertrieb, Service und Entwicklung sowie die Geschäftsführung eingeladen. Es war gleichzeitig der Wunsch der Geschäftsführung, mit dem Workshop auch die Kommunikationskultur zu verbessern. Es sollte gelernt werden, mehr zuzuhören und konstruktiv zu streiten.
Der Anfang verlief schleppend. Es war einfach nur ein „Vertriebsproblem“. Einseitige Sichtweisen dominierten den Verlauf der Diskussion. Die zentrale Frage an der Stelle ist, wie kommen die Annahmen und Glaubenssätze hinter den Positionen und Meinungen an die Oberfläche? Nur dann besteht eine Chance, nicht „mehr desselben“ zu machen. Die Position der anderen einzunehmen sowie die Sicht der Kunden und Partner über zirkuläre Fragen einzubeziehen, erzeugte einen ersten Wechsel der Atmosphäre. Dazu erfolgte die Einführung des Konzeptes der „schöpferischen Besprechung“ (s. Kasten). Ein Phasenmodell, das ohne Schwierigkeiten von den Teilnehmern akzeptiert wurde.
Es hat sich bei Workshops bewährt, den Teilnehmern folgende vier Phasen als Dialogmodell anzubieten:
Während einer schöpferischen Besprechung sollte jeder Teilnehmer folgende Rollen einnehmen, damit Neues entstehen kann:
Die Ergebnisse der Modellbildung führten zu neuen Erkenntnissen und zu einer Anpassung des Geschäftsmodells. Es wurde ein qualitatives Modell entwickelt. Der Aufwand, ein quantitatives Modell zu entwickeln, wurde verworfen. Die Ergebnisse waren den Teilnehmern aussagekräftig genug. Die Teilnehmer waren sich einig, den Prozess des konstruktiven Systemdenkens weiter zu entwickeln. Dazu nutzen sie Supervision.
Peter Drucker zu Entscheidungsprozessen: „Die wirksame Entscheidung entsteht nicht aus einem Konsens bezüglich der Fakten. Das Verstehen, das einer richtigen Entscheidung zugrunde liegt, erwächst aus dem Zusammenprallen und dem Konflikt divergenter Meinungen und aus dem ernsthaften Erwägen konkurrierender Alternativen.“
Ein Workshop wird dann schöpferisch, wenn persönlich Bedeutsames ausgesprochen wird, Informationen interpretiert werden, Wahrnehmungen Bedeutung gegeben wird, Sichtweisen anerkannt werden, Meinungsverschiedenheiten auf den Grund gegangen wird, Annahmen hinterfragt werden und mentale Modelle offenbar werden. Dazu braucht es jedoch einen Rahmen, den kein Werkzeug alleine realisieren kann: Offenheit und die Möglichkeit, sich eine neues, anregenderes Bild von seiner Sache zu machen. Selbst das schlechteste Modell ist besser als kein Modell!
„Wirklich zuhören“ zu können als Führungskraft, nicht dem ersten Impuls zu folgen und sofort seine Meinung zu verkünden, sind essenziell für einen Dialog. Nur so wird es möglich, die kollektiven Fähigkeiten und Kompetenzen seines Teams für die Sache zu aktivieren. Gelingt dies, ist das ein nicht zu unterschätzender Wettbewerbsvorteil.
Dafür ist in Organisationen oft ein „objektiver“ Berater (intern oder extern) hilfreich, der einen entsprechenden Rahmen dazu schaffen kann. Er kann „naive“ Fragen stellen und somit „blinde“ Flecken ausleuchten. Gleichzeitig wird sichergestellt, dass sich die Teilnehmer uneingeschränkt über das Modellbilden mit der Sache beschäftigen können.
Aus meiner Sicht bietet das systemische Denken und das Modeln für Organisationen die Chance, Situationen ganzheitlicher zu erfassen und zu analysieren, um so bessere Entscheidungen zu entwickeln. Vor allem jedoch bietet es die Chance, die Kompetenzen und Fähigkeiten der Mitarbeiter gezielt zu nutzen und weiter zu entwickeln. Das ist praktisches Wissensmanagement, wie dies auch Jörg Mortsiefer (CEO, Setrix AG) beschreibt: „Die Moderation der Strategieplanung lief wie von alleine. Die Fragen nach den Aus- und Nebenwirkungen zusammen mit der Visualisierung und Auswertung der Wirkungszusammenhänge brachten uns wertvolle Erkenntnisse.“