Beruf Coach

Sieben Thesen zur Entwicklung des Coachings

7 Min.

Erschienen im Coaching-Newsletter in Ausgabe 11 | 2005

These 1: Die Coaching-Branche behindert sich selbst

Ein Kernproblem bei der Inanspruchnahme und der Verbreitung von Coaching ist die Tatsache, dass sich jeder als "Coach" bezeichnen darf. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass sich nahezu jeder Trainer, Unternehmensberater, Teamentwickler, OE-Experte, Motivationskünstler uvm. auch als XYZ-Coach bezeichnet. In der Folge ist vielen potenziellen Klienten weder klar, was Coaching ist, geschweige denn, was davon konkret als Nutzen zu erwartet werden kann. Daraus lässt sich ableiten, dass Coaching wesentlich häufiger und sinnstiftender genutzt würde, wenn die Transparenz im Markt zunähme. Die "Atomisierung" des Weiterbildungs- und Beratungsmarkts verhindert dies jedoch (unbeabsichtigt) wirkungsvoll, da viele Anbieter lediglich an ihren Eigennutz denken (entsprechendes gilt für viele Standesvertretungen und Verbände) und sich somit durch Passivität (bezogen auf Aktivitäten jenseits des konkreten Eigenvorteils) und falsch verstandenes Lobbying langfristig die eigene Geschäftsgrundlage entziehen. Es ist nicht ganz frei von Ironie, dass es einer beraterisch tätigen Branche offensichtlich nicht leicht fällt, die eigenen Anliegen nachhaltig zu regeln. Nach 20 Jahren Coaching-Praxis weisen Aktivitäten wie das Gipfeltreffen der Coaching-Verbände immerhin in die richtige Richtung.

These 2: Veränderte Etats beeinflussen die Branche

In den letzten Jahren hat sich eine deutliche Veränderung der Weiterbildungs- und Beratungsetats vollzogen. Viele Organisationen haben teilweise extreme Sparprogramme gestartet, die insbesondere den Personal- und Personalentwicklungsbereich getroffen haben. Neben reinen Etatkürzungen haben sich aber auch die Schwerpunkte in den Etats verändert: Es ist ein deutlicher Individualisierungstrend zu erkennen, d.h. statt 10 Projektmitglieder zu einem Wochenendtraining zu schicken, wird eher der Projektleiter gecoacht. D.h. die Gelder werden dort zielgerichtet eingesetzt, wo die Organisationen einen konkreten Nutzen erwarten - und dies betrifft Schlüsselpersonen wie Projektleiter, Führungskräfte, Potenzialträger usw. Diese Etatveränderungen haben manche Trainingsanbieter schwer getroffen. Im guten (und teilweise berechtigten) Glauben an die Güte der eigenen Dienstleistung sind viele Trainer von diesem Trend überrascht worden. Sie haben die neuen Spielregeln aber registriert und verstanden, wie die zugunsten des Coachings verschobenen Etats wiedergewonnen werden können: Sie bieten nun "Coaching" an, was aber letztendlich (aufgrund der in These 1 dargestellten Zusammenhänge) allen Beteiligten in dem Fall zum Nachteil gereichen kann, wenn eine tatsächliche Coaching-Kompetenz nicht vorhanden ist, sondern das Training nur neu etikettiert wurde.

These 3: Gemeinschaftliche Branchen-Qualität ist notwendig

Um die zuvor skizzierten Problemfelder wirkungsvoll zu bearbeiten, benötigt die Coaching-Branche mehr Qualitätsstandards. Auch hier gibt es aber zwei große Missverständnisse: Erstens werden Standards teilweise auf einem dermaßen simplen und nichtssagenden Niveau formuliert, dass entsprechende Qualitätsaussagen und Ethik-Codes eher belächelt werden, als eine Kompetenzwirkung zu erzeugen. Zweitens werden Standards oftmals im Sinne von Normierungen und eines "one best way" ausgelegt. Genau dies ist aber für eine individuelle Beratungsform wie das Coaching extrem kontraproduktiv und zeugt ebenfalls von einem wenig umfassenden Verständnis der Coaching-Profession. Sinnvolle Standards können jedoch Mindeststandards sein, d.h. dass ein gewisser Grundstock an (tatsächlich erwähnenswerten) Qualitäten gesichert wird, darüber hinaus gehend jedoch genügend Raum für Individualität und Spezialisierung vorhanden ist. Letztere ist ohnehin eine zwingende Notwendigkeit für die Weiterentwicklung des Coachings. Derartige Standards können aber nicht nur das Coachings selbst betreffen, sondern berühren sinnvollerweise auch die Coaching-Ausbildungen, denn hier sind ähnliche Entwicklungen (und Probleme) zu erkennen.

These 4: Eine Ausdifferenzierung von Praxisfeldern ist unumgänglich

Um in einer intransparenten Branche mit anhaltenden Wachstumstendenzen bestehen zu können, werden Coaching-Anbieter ihre Angebote nicht nur qualitativer, sondern auch differenzierter ausgestalten müssen. Konkret bedeutet dies, sich auf bestimmte Branchen, Regionen, Organisationsgrößen, Organisationsstrukturen, Organisationskulturen, Altersschichten, Themen und Arbeitsformen zu spezialisieren. Viele Anbieter scheuen eine solche Spezialisierung, weil sie befürchten, ihre Zielgruppe würde damit viel zu klein werden und sie würden nicht mehr genügend Aufträge erhalten. Genau das Gegenteil kann jedoch beobachtet werden: "Ich-mache-alles"-Anbieter können in dem Markt kaum bestehen, da sie kein klares Profil entwickeln und in der Masse beliebig austauschbarer Angebote untergehen. Und selbst diejenigen, die dank langer Marktpräsenz genügend Kontakte haben, um mit einem General-Angebot (noch) zu bestehen, sind einem zunehmenden Kostendruck ausgesetzt, der ihre Margen minimiert. Ein langfristiges Überleben dürfte so - wenn überhaupt - nur wenigen Anbietern möglich sein. 

These 5: Der eigentliche Coaching-Boom kommt durch den Mittelstand

Praktisch alle größeren DAX-Unternehmen haben Erfahrungen mit Coaching gesammelt und setzen es mehr oder minder systematisch ein. Medienwirksam wird daher über Coaching-Programme bei großen Automobilherstellen und internationalen Konzernen berichtet. Damit wird oftmals implizit der Eindruck erweckt, Coaching hätte sein Maximum bereits erreicht. Genau das Gegenteil ist der Fall: Große, innovativ ausgerichtete Konzerne waren und sind leichter für Coaching zu interessieren, als ein kleines oder mittelständisches Unternehmen. Der Mittelstand ist aber mit Abstand das "Herz" der Wirtschaft. Über 99 Prozent (!) der umsatzpflichtigen Unternehmen in Deutschland zählen zum Mittelstand. Interessanterweise wird gerade der Mittelstand von vielen Weiterbildungs- und Beratungsanbietern vernachlässigt, weil man lieber für den Weltkonzern, als für den metallverarbeitenden Betrieb im nächsten Ort arbeiten möchte. Diese Tendenz ist so ausgeprägt, dass bisher nur wenige clevere Brancheninsider sich bereits spezialisiert haben und in manchen Bereichen der mittelstständischen Wirtschaft einen sehr guten Ruf genießen, ansonsten aber nahezu unbekannt sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass der eigentliche Coaching-Boom erst noch bevorsteht, wenn der Mittelstand zunehmend Coaching in Anspruch nehmen sollte. Ob dies der Fall sein wird, hängt u.a. von den in These 1 genannten Zusammenhängen ab.

These 6: Coaching expandiert im "Non-Profit"-Bereich

Bereits jetzt ist absehbar, dass Coaching auch im sogenannten "Non-Profit"-Bereich (Schulen, Krankenhäuser, Sozialeinrichungen, Verwaltung, Militär usw.) deutlich expandiert. Dies ist insofern bemerkenswert, da in Teilen des Non-Profit-Bereichs die Supervision als Beratungsform oftmals längst etabliert ist. Es stellt sich somit die Frage, warum jetzt "Coaching" nachgefragt wird. Ein Grund dafür dürfte sein, dass der "Non-Profit"-Bereich gar kein "Non-Profit"-Bereich ist: Selbstverständlich geht es dort (auch, aber nicht nur) um Geld und um wirtschaftlich sinnvolles Handeln. Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen werden teilweise unter betriebswirtschaftlichen Aspekten besser geführt, als manches Profit-Unternehmen. Hier hat sich unter dem Kostendruck der letzten 20 Jahre ein enormer Wandel vollzogen und frühere "Tabuthemen" wie Geld, Macht, Hierarchien, Status, Leistungskontrolle usw. verlangen nach einer ideologiefreien Bearbeitung. Hier traut man den Coachs mit Wirtschaftskompetenz teilweise eher zu, damit verbundene Anliegen bearbeiten zu können. Auch die Supervisoren haben diesen Trend längst bemerkt, so dass viele neben der Supervision auch Coaching anbieten (man beachte die Ähnlichkeiten zu These 2).

These 7: Coaching verschwindet nicht wie eine Modewelle

Wenngleich "Coaching" ein modern klingender Begriff sein mag, so handelt es sich dabei nicht um eine Modewelle. Coaching wird im deutschsprachigen Bereich seit über 20 Jahren praktiziert - und dies mit zunehmender Tendenz. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass es sich nicht um eine typische Modewelle handelt, da eine solche durch eine wesentlich kürzere "Lebensdauer" als auch einen sprunghaften Anstieg (und Niedergang) charakterisiert werden kann. Coaching hat einen anderen Verlauf genommen und sichert sich bisher seine Existenz nicht durch eine Laune der Mode, sondern durch Vorteile für die Inanspruchnehmer. Denn Coaching kann (mindestens) als eine Lösung auf ein zuvor ungelöstes Problem von Führungskräften angesehen werden: Hierarchiebedingte Verzerrung der Selbst- und Fremdwahrnehmung mit entsprechenden (negativen) Konsequenzen auf Selbstbild, Selbstführung und Entscheidungsgüte. Hinzu kommt, dass Beratung allgemein in den letzten Jahren akzeptierter geworden ist. Wenn es früher als Schwäche angesehen wurde, Beratung in Anspruch zu nehmen ("Ich kann meine Probleme alleine lösen"), gilt es mittlerweile als unprofessionell, keine Unterstützung in Anspruch zunehmen. Auch die Bereitschaft, psychologisches Wissen zu nutzen, ist bei Führungskräften gewachsen. Und letztendlich entspricht die Beratungsform Coaching einem allgemeinen Individualisierungstrend. Die Entwicklung des Coachings kann daher nicht monokausal betrachtet bzw. erklärt werden. Entsprechendes gilt auch für den weiteren Verlauf. Erstaunlich bleibt jedoch, dass es eher die Coaching-Anbieter selbst sind, die (unfreiwillig) ein stärkeres Wachstum verhindern (siehe These 1). Möglicherweise beinhaltet dies jedoch auch positive Effekte, da ein zu starkes Expandieren noch kontraproduktiver wäre. Erst eine spätere Analyse mit einem entsprechenden zeitlichen Abstand wird dies vielleicht klären können.

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