Wenn man davon ausgeht, dass alle Menschen in ihrem Alltag geübte „Diagnostiker“ sind, ist die Frage nach dem zusätzlichen Erkenntnisgewinn von psychologischen Testverfahren berechtigt. Menschen machen sich permanent ein Bild über ihre Umwelt und über andere Menschen und versuchen, eine Situation bestmöglich einzuschätzen, um auf Basis dieser Informationen zu entscheiden, wie sie sich selbst verhalten müssen, sollen oder wollen.
Die „richtige“ Einschätzung und Bewertung der Umwelt und der sich darin bewegenden Akteure sichert letztlich das Überleben des Einzelnen. Diesen Erkenntnisgewinn könnte man auch als diagnostische Arbeit bezeichnen. Der Mensch bedient sich dabei spezieller Mechanismen. Informationen werden sehr schnell gesammelt und ausgewertet, die Umwelt wird in Kategorien eingeteilt, Urteile werden nach bestimmten Mustern gefällt – und nicht alle Informationen werden dabei auch verarbeitet und verwertet. Sehr viel von dem, was in unserer Umwelt passiert, wird im Rahmen des Informationsverarbeitungsprozesses ausgeblendet, uminterpretiert, nicht weiter verwertet oder erst gar nicht wahrgenommen. Und welche Aspekte letztlich verarbeitet werden, hängt von den individuellen Erfahrungen jedes Menschen ab.
Diese Form von Informationssammlung und Schlussfolgerung (=Diagnostik) machen Menschen nicht nur für ihre Umwelt, sondern ebenso für das eigene Selbstbild. Wir alle kennen aus eigener Erfahrung das Phänomen, dass es Menschen gibt, die die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen ganz anders einschätzen und bewerten, als es ihre Umwelt tut. Das Erstaunen ist häufig groß, weil wir uns fragen, wie so etwas zustande kommen kann und warum derjenige nicht bemerkt, dass die Umwelt ihn ganz anders wahrnimmt. Der berühmte „blinde Fleck“ beschreibt dieses Phänomen sehr treffend. Genau an dieser Stelle bietet die Psychologie der Beschreibung und Erklärung solcher Phänomene einen professionellen und wissenschaftlich fundierten Rahmen, der es ermöglicht, diese Fehleinschätzungen besser zu verstehen und sie zu reduzieren.
Der wesentliche Mehrwert der testgestützten Diagnostik liegt nun darin, dass Fehlinterpretationen durch die systematische Art und Weise der Informationserhebung und -auswertung reduziert werden. Jeder Mensch, der einen psychologischen Test bearbeitet, findet die gleichen Rahmenbedingungen in der Durchführung vor und bearbeitet die gleichen Aufgaben. Die Auswertung findet ebenfalls stets in derselben Art und Weise statt: Die individuellen Antworten einer Person werden mit den Antworten einer großen Vergleichsgruppe (Norm) verglichen, sodass anschließend abgebildet werden kann, welchen individuellen Standort eine Person im Vergleich zu der Normgruppe hat. Damit findet ein Abgleich des individuellen Selbstbilds mit einer großen Gruppe von Personen statt – mit dem ganz wesentlichen Vorteil, dass dadurch viele individuell bedingten Verzerrungseffekte minimiert werden können.
Der Einsatz von psychologischen Tests systematisiert also die individuelle und subjektive Wahrnehmung eigener Kompetenzen und objektiviert sie bis zu einem gewissen Ausmaß und zwar zu ganz unterschiedlichen berufsrelevanten Fähigkeiten, Kompetenzen, Motiven oder auch Einstellungen. Ein gutes Argument also, sich der psychologischen Diagnostik auch im Coaching zu bedienen.
Damit aus einem Test sinnvolle Aussagen abgeleitet werden können, sollten die folgenden drei Gütekriterien eingehalten werden:
Mit der Berücksichtigung dieser Gütekriterien kann sehr viel für die Qualitätssicherung im Coaching getan werden. Das mag gar mancher „Künstler“ im Coaching-Business vielleicht nicht so gerne hören, für die Branche insgesamt dürfte es eher hilfreich sein.
Damit jedoch kein falscher Eindruck entsteht: Nicht für jede Fragestellung, die im Rahmen eines Coachings bearbeitet werden soll, ist der Einsatz von psychologischen Testverfahren sinnvoll. Bei verhaltensorientierten Zielen oder beim Aufbau von Verhaltenskompetenzen bieten Testverfahren zum Beispiel nur einen geringen zusätzlichen Erkenntnisgewinn und der Coach muss jeweils individuell abwägen, ob sich der Einsatz eines weiteren Instruments für die Coaching-Arbeit vor dem Hintergrund der Zielerreichung lohnt oder nicht. Wenn beispielsweise Informationen aus dem 360°-Feedback vorliegen, kann das Selbstbild des Klienten mit dem Fremdbild abgeglichen und nach Übereinstimmungen und Abweichungen gesucht werden, ohne dabei auf den Einsatz von Tests zurückgreifen zu müssen.
Diagnostik lässt sich als Prozess auffassen. Wenn der Arbeitsauftrag mit dem Klienten geklärt worden ist, findet üblicherweise eine genaue Analyse des aktuellen Ist-Stands statt und dazu gehört – neben der Betrachtung der situativen Rahmenbedingungen – insbesondere die Bestandsaufnahme des „Klientensystems“ mit dessen individueller Wahrnehmung und Interpretation der Situation oder des Problems.
Ein in diesem Zusammenhang häufig zu beobachtendes Phänomen bezieht sich auf die recht unstrukturierte und unpräzise Wahrnehmung der eigenen Person und der dazu gehörenden Aspekten wie Fähigkeiten und Fertigkeiten, Einstellungen, Haltungen und Motive sowie der daraus resultierenden individuellen Verarbeitung der Realität. Auf die Fragen des Coachs: „Welche Fähigkeiten sind für Sie typisch? Was können Sie besonders gut? Oder auch: Was fällt Ihnen eher schwer?“ geben Klienten häufig Antworten, die auf einem abstrakten und allgemeinen Niveau liegen und manchmal auch eine Unter- oder Überschätzung der jeweiligen Kompetenz beinhalten. In einer solchen Situation bleibt dem Coach lediglich die Möglichkeit, sich selbst einen Eindruck zu machen und, falls möglich, eine Fremdeinschätzung zum Beispiel durch die Führungskraft vornehmen zu lassen. Das sind dem Testeinsatz gegenüber gleichberechtigte Datenerhebungsmethoden. Allerdings ist eine Validierung dieser Angaben eher schwierig – und in vielen Fällen auch kaum möglich.
Wenn es darum geht, das „Persönlichkeitssystem“ des Klienten besser verstehen und objektiver einschätzen zu können, sind Instrumente von Vorteil, die Informationen auf eine schnelle Art und Weise erheben und objektivieren können und subjektive Eindrücke des Klienten und dessen Vorgesetzten oder auch Kollegen und Mitarbeiter relativieren. Zu Beginn muss daher die Fragestellung geklärt und alternative Datenerhebungsmethoden auf ihre Eignung überprüft werden: Fällt die Entscheidung aus Gründen der Objektivität, der Validität oder der Reliabilität zugunsten der Eignungs- und Potenzialdiagnostik aus, ist zu entscheiden, welche psychologischen Tests aus dem Fundus auszuwählen sind.
Um direkt eine Abgrenzung vorzunehmen: Im Rahmen eines Coachings sollten keine Testverfahren genutzt werden, die ursprünglich dem klinisch-therapeutischen Kontext entstammen und sich dann im Wirtschaftsleben ausgebreitet haben, weil sie so schön „übersichtlich“ sind oder der Coach „zufälligerweise“ für dieses Verfahren lizenziert ist.
Bei der Überlegung, ob und welche Tests als Analyseinstrument genutzt werden, hilft die Frage nach dem Ziel des Coachings weiter. Je nach Anliegen und Fragestellung werden möglicherweise ganz unterschiedliche Verfahren benötigt, die Schwerpunkte können von der Stressanalyse über die Motivstruktur bis hin zu kognitiven Kompetenzen reichen. Wer sich bereits irgendwann einmal über psychologische Testverfahren informiert hat, weiß, wie umfangreich der Markt der Testanbieter ist und wie unterschiedlich die jeweiligen Verfahren sind.
Für die Auswahl eines Verfahrens muss der Coach die Qualität des Verfahrens einschätzen. Hierbei geht es insbesondere um die wissenschaftliche Fundierung der Testkonstruktion sowie die Erfüllung der Testgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität. Beim Kauf einer Kaffeemaschine erhält der Kunde Qualitätsangaben heute ungefragt. Bei psychologischen Testverfahren ist dies leider noch nicht die Regel – obwohl seit 2005 die DIN 33430 (Eignungsbeurteilung) und ganz aktuell die DIN 29990 (Aus- und Weiterbildung) gilt.
Hinzu kommt, dass ein angemessenes Instrument alleine nicht ausreichend ist. Ein geschulter Umgang mit den Ergebnissen und deren Interpretation durch den Coach ist essenziell. Vom Coach wird deshalb eine eigene, belastbare Expertise verlangt oder die Kooperation mit entsprechenden Dienstleistern, die normkonformes Vorgehen garantieren.
Wenn feststeht, welches Anliegen der Klient hat und klar ist, dass durch den Einsatz eines Testverfahrens relevante Informationen erhoben werden können, wählt der Coach das für die Fragestellung passende Verfahren aus und bespricht im Rahmen eines Vorbereitungsgesprächs mit dem Klienten die Hintergründe sowie das Vorgehen der Testung. Anschließend kann die Durchführung stattfinden.
Ganz wesentlicher Bestandteil des Testeinsatzes ist die intensive Erläuterung und Besprechung des Ergebnisprofils. Es ist wichtig, dass der Klient die Hintergründe der Testergebnisse versteht und in Bezug zu seinem eigenen Erleben bringt. An dieser Stelle muss der Coach über die entsprechende Fachexpertise in der Interpretation der Ergebnisse verfügen, damit er die inhaltlichen Fragen des Klienten beantworten und gegebenenfalls Missverständnisse aufklären kann. Sollte der Coach hier nicht entsprechend geschult und versiert sein, drohen zweierlei Gefahren:
Im Rückmeldegespräch sollte der Coach über die Testdurchführung sprechen und den Klienten bitten, sein Erleben während der Bearbeitung zu beschreiben. Häufig beinhalten die hier getroffenen Aussagen bereits Hinweise auf die Wahrnehmung und individuelle Verarbeitung des Klienten und können in Bezug zu den Testergebnissen und anderen Erkenntnissen gesetzt werden.
Anschließend wird das Zustandekommen der Ergebnisse erklärt und die Einzelergebnisse werden ausführlich erläutert. Dieser Schritt ist insofern besonders wichtig, damit es bei der Interpretation des Profils nicht zu Missverständnissen kommt. So gibt es beispielsweise Unterschiede zwischen dem Alltagsgebrauch eines bestimmten Begriffs oder einer Eigenschaft und dem wissenschaftlich fundierten Verständnis im Test. Unter dem Begriff Leistungsmotivation wird im alltagssprachlichen Sinne ein besonders großes Engagement verstanden, was auch bedeutet, dass jemand sehr viele Überstunden macht oder über die normale Arbeitszeit hinweg ansprechbar ist. Im Sinne der wissenschaftlichen Forschung zu Basismotiven des Menschen meint Leistungsmotivation allerdings etwas ganz anderes: Hier geht es um das Bestreben, stets besser sein zu wollen als andere und die eigenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wenn es hier zu einer Fehlinterpretation des Konstrukts kommt, dann hat dies gravierende Auswirkungen auf die weitere inhaltliche Arbeit sowie die Interventionen im Coaching.
Im nächsten Schritt findet ein intensiver Austausch über die Ergebnisse statt, bei dem es wichtig ist herauszuarbeiten,
Durch gezieltes Nachfragen zu einzelnen Aspekten des Ergebnisprofils werden weitere Informationen gesammelt und mit den Eindrücken des bisherigen Coachings verknüpft. Entscheidend ist die Art und Weise, wie die Informationen aus dem Testverfahren mit dem persönlichen Erleben und der Wahrnehmung des Klienten verknüpft und mit dem „Fremdbild“ des Coachs abgeglichen werden. An dieser Stelle fungiert der Coach als Diagnostiker, der auf wichtige Ergebnisse aus dem Profil verweist und den Bezug zum aktuellen Anliegen und den bisherigen Arbeitsergebnissen herstellt.
Die daraus resultierenden Vertiefungsfragen ermöglichen nicht nur einen weiteren Informationsgewinn, sondern können darüber hinaus als Interventionen betrachtet werden. Mithilfe von Nachfragen und Zusammenfassungen soll der Klient auf Muster und Verarbeitungsmechanismen aufmerksam gemacht werden, die im normalen Alltag automatisch und eher unbewusst stattfinden. Hier bietet der Coach unmittelbare Explikationshilfe und eröffnet durch seine Frageinterventionen neue Perspektiven auf bekannte Problemsituationen.
Genau an dieser Stelle bietet das Arbeiten mit dem Testergebnis einen besonderen Mehrwert, da es zu einer Verknüpfung von Informationen, die standardisiert erhoben worden sind, mit den individuell im Gespräch gewonnenen Informationen über den Klienten kommt und der Coach diese Daten verdichtet und zu einem Gesamtbild integriert. Die Besprechung eines Ergebnisprofils ermöglicht häufig einen schnellen Zugang zu den „Knackpunkten“ des Klienten. Die Konfrontation mit einem Ergebnisprofil, welches „schwarz auf weiß“ bestimmte Stärken und Entwicklungsfelder dokumentiert, führt zu einer unmittelbaren Aktivierung der individuellen Verarbeitungsmuster, weil sich der Klient mit dem Ergebnis auseinandersetzen muss. Vermeidung von kritischen und selbstwertrelevanten Themen ist in diesem Fall für den Klienten wesentlich schwieriger als ohne das Testergebnis.
Genau hier setzt dann die weitere „normale“ Coaching-Arbeit an. Die Ergebnisse werden mit der Fragestellung des Klienten in Beziehung gebracht und mithilfe neuer Erkenntnisse werden im weiteren Prozess mögliche Interventionen zur Veränderung sowie konkrete Entwicklungsschritte und Maßnahmen definiert.