Portrait

Interview mit Olaf Georg Klein

Philosophisches Denken und Zeitperspektiven im Coaching

Philosophisches Denken stellt ein Fundament der Coachings von Olaf Georg Klein dar. Dies kommt beispielsweise dann zum Ausdruck, wenn es um die Frage geht, wie Menschen souveräner mit dem Thema Zeit umgehen können. Häufig ist dabei entscheidend, sich zunächst seiner „Versäumnisangst“ zu entledigen. Im Interview verrät der Berliner Coach zudem, wie der Einsatz von Schreibmethoden die Arbeit mit seinen Klientinnen und Klienten bereichert. Klein selbst praktiziert seit seiner Jugend das Tagebuchschreiben und versteht dies als ein effektives Instrument der Selbstreflexion.

19 Min.

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 2 | 2024 am 15.05.2024

Ein Gespräch mit David Ebermann

Man sieht Olaf Georg Klein, der vor einem Bücherregal steht und in die Kamera lächelt.

Sie coachen seit 1991. In Ihrem Ansatz, den Sie als Balance-Coaching bezeichnen, setzen Sie auf eine Kombination aus Philosophie, Psychologie und Kreativität. Wie sieht dies konkret aus?

Vor allem kreativ. Und zugleich philosophisch und psychologisch fundiert. Basierend auf einer großen Lebenserfahrung und einer ständigen Selbstreflexion. Also, ich habe nach einer technischen Berufsausbildung Evangelische Theologie studiert, mit den Schwerpunkten Philosophie und Psychologie. Mein Wunsch war es damals, Krankenhausseelsorger zu werden. Daher entdeckte ich schon früh mein Interesse am „helfenden Gespräch“, wie das zu der Zeit genannt wurde. Das basierte auf Ansätzen aus der nichtdirektiven Gesprächsführung, der Transaktionsanalyse und der Gestalttherapie.

Daneben spielte für mich vor allem die praktische Philosophie der alten Griechen – von den Vorsokratikern, über Sokrates, Platon, Aristoteles bis hin zu den Stoikern Seneca und Mark Aurel – eine große Rolle. Die wenigsten wissen ja, dass sich die Psychologie vor ca. 150 Jahren u.a. aus der Philosophie heraus entwickelt hat. Die Philosophie hatte das gute, glückliche und gelungene Leben des Einzelnen als Thema aus dem Blick verloren, wie das in der antiken Philosophie noch vollkommen selbstverständlich war. Dazu kam, dass ich bereits seit meinem 16. Lebensjahr Tagebuch schreibe, und zwar nicht als ein Ereignistagebuch, um festzuhalten, was ich wann gemacht habe, sondern als ein Selbstreflexions- und Veränderungstagebuch. Was ich übrigens bis heute beibehalten habe.

Auf diesen drei Säulen ruhte dann auch von Anfang an mein Coaching-Ansatz, den ich zu Beginn der 90er Jahre entwickelt habe. Balance-Coaching nenne ich ihn deswegen, weil fast jedes Problem, das ein Klient haben kann, mit einer fehlenden Balance zu tun hat. Die meisten haben jeweils zu viel oder zu wenig von bestimmten Faktoren: von der Arbeit, von der Anstrengung, von Anregungen, von Herausforderungen, von Zeit, von Dynamik, von Struktur oder von Zielen. Kurz gesagt, sie hängen an einer Seite der existentiellen Polarität fest und schaffen es gerade nicht, eine dynamische innere Balance zu finden. 

In Ihrem Coaching-Ansatz spielt eine „Philosophie der Lebenskunst“ eine wichtige Rolle. Was macht Lebenskunst für Sie in den wichtigsten Aspekten aus?

Die Philosophie der Lebenskunst ist in den letzten 20 bis 30 Jahren wieder mehr in den Mittelpunkt philosophischen Denkens getreten. Es geht dabei schlicht und einfach um die Frage nach einem wirklich gelungenen, erfüllten und am Ende glücklichen Leben. Und nicht nur vordergründig um Zielerreichung oder Karriere. Die können natürlich auch eine Rolle spielen. Aber zu einem gelungenen Leben gehören zuerst einmal die Selbstbildung, die Selbstzentrierung und die Selbstverantwortung. Und dann kommt alles andere. D.h.: Arbeit, Familie, Freunde, die Sorge für andere, Kreativität, Weiterbildung und Entspannung müssen in sich und untereinander immer wieder in eine gute, erfüllende Balance gebracht werden. Und das ändert sich ständig, je nach Lebensalter und Lebensumständen.

Sollte ein Coach bezüglich dieser Aspekte der Lebenskunst als Vorbild für seine Klientinnen und Klienten fungieren?

Ja, absolut. Gar keine Frage. In allen Punkten muss der Coach ein Vorbild für den Klienten sein. Denn egal was ein Coach fragt, sagt oder einbringt, der Klient checkt immer zuerst den Coach selbst ab. Die Frage der Glaubwürdigkeit steht von der ersten Minute an in jedem Coaching-Gespräch im Raum. Wenn ich als Coach kein Vorbild bin, dann kann ich tun und lassen, was ich will, selbst mit den besten Tools der Welt. Der Klient wird immer denken: Wenn das, was wir hier machen, irgendeinen Sinn haben soll, warum wendet dieser Coach es dann nicht zuerst einmal auf sein eigenes Leben an? Dabei geht es um Klarheit, Konzentration, Zentriertheit, innere Ruhe und Ausgeglichenheit, genauso wie um Einfühlungsvermögen, Selbstreflexions- und Kommunikationsfähigkeit. Das alles prüft ein Klient schon in den ersten Sekunden der Begegnung.

Das Foto zeigt Olaf Georg Klein im Porträt. Er trägt ein hellblaues Hemd und ein dunkelblaues Jacket.

Wie bildet sich Ihr Ansatz in einem Business-Coaching mit Führungskräften ab?

Es unterscheidet sich vor allem von Ansätzen, die sofort die Handlungsebene adressieren. Ich arbeite z.B. nicht sogleich an der Frage, wie bzw. mit welchen Methoden eine Führungskraft ihr Team besser führen kann. Ich gehe von innen nach außen vor. Führung beginnt zuallererst mit Selbstführung. Erst wenn ich mein eigenes Inneres Team gut führen kann, kann ich auch wirkliche reale Teams führen. Und dann ist da wieder die Vorbildwirkung.

Ich selbst bin seit über 30 Jahren selbstständig. Wenn eine Führungskraft zu mir kommt, entsteht da von ganz allein ein Sog. So würde ich das nennen. Der Klient denkt: So entspannt und ausbalanciert möchte ich in meinem Leben auch sein. Das schafft natürliche Autorität. 

Und dann gehe ich mit dem Klienten immer von innen nach außen vor. Analysieren, wo das größte Ungleichgewicht besteht, die größte Imbalance. Wir stärken zunächst die Selbstreflexion und dann, in einem zweiten Schritt, gehen wir die Veränderung der konkreten äußeren Situationen an. Es wird dann besprochen, wie der Klient mit der Hilfe einer anderen inneren Haltung, einer klareren Kommunikation und einer sichtbaren Verhaltensänderung die äußeren Umstände verändern kann.

2007 haben Sie das Buch „Zeit als Lebenskunst“ veröffentlicht. Unsere Vorstellungen von Zeit, die Sie teils als verzerrt beschreiben, spielen auch in Ihren Coachings eine Rolle. Inwiefern?

Die meisten Klienten kommen ja in ein Coaching und meinen, sie hätten ein Problem mit der Zeit. Sie haben zu wenig oder gar keine Zeit für das, was ihnen wirklich wichtig ist. Sowohl beruflich als auch privat. Und da hilft dann wieder das philosophische Denken. Wenn es in der Geschichte Gesellschaften gab, in denen man viel Zeit hatte, wie z.B. in der Romantik, und wenn es auch heute Kulturen gibt, in denen Zeit im Überfluss vorhanden ist, dann kann es offensichtlich nicht an der Zeit selbst liegen. Dann haben wir es hier im Westen wohl eher mit einer gewissen „kollektiven Wahnvorstellung“ in Bezug auf die Zeit zu tun. 

Konkret sage ich zu meinen Klienten: Gesundheit, Schönheit, Glück und Reichtum sind sehr ungerecht verteilt, aber jeder Tag hat für jeden Menschen 24 Stunden. Das ist absolut gerecht. Wenn sie also ein Problem mit der Zeit haben, haben sie ein anderes Problem, das dahintersteht. Und dann können wir anfangen, an diesem eigentlichen Thema zu arbeiten.

Das Bild zeigt das Buchcover von "Zeit als Lebenskunst"

Wie gehen Sie vor, um Führungskräften zu mehr Zeitsouveränität zu verhelfen?

Ich merke schon, dass Sie mein Buch gelesen haben. Denn es geht in der Tat nicht um „Zeitmanagement“, weil das ein Grundirrtum ist. Zeit kann man nicht managen. Man kann nur sich selbst in der Zeit managen. Von daher spreche ich immer von Zeitsouveränität. Ich höre also erst mal zu, um mich einzuschwingen und die Schlüsselworte und Denkmuster des jeweiligen Klienten zu verstehen. Dann mache ich den Klienten ziemlich bald auf den existentiellen Zusammenhang von Zeit und Angst aufmerksam. Das führt in der Regel zu einem ersten heilsamen und kreativen Staunen. „Mit Angst?“, wird nicht selten fragend erwidert. Und dann schauen wir uns die konkreten „Zeitprobleme“ zusammen an.

Was dann zu Tage tritt, ist immer – ganz allgemein gesprochen – die Angst, etwas zu versäumen. Das bezieht sich mal auf Chancen, mal auf Informationen, mal auf Beziehungen oder was auch immer. Also gilt es, zu lernen, anders mit dieser Versäumnisangst umzugehen, als einfach nur zu versuchen, alles schneller zu machen, und dabei noch unglücklicher zu werden. Und daneben haben Zeitprobleme oft damit zu tun, dass Klienten bestimmte Dinge, Personen, Zustände oder die Vergangenheit selbst nicht loslassen können. Es geht also im weitesten Sinne um Vertrauen. Zu diesem Themenkreis gehört dann auch oft die Angst davor, zu delegieren oder nicht perfekt zu sein.

Zeitperspektiven binden Sie auch als Interventionen in Ihre Coachings ein. Instinktiv richtet man dabei den Blick in die Zukunft. Sie betonen aber, dass qualitative Ziele in der Gegenwart liegen. Wie ist das zu verstehen?

Nun, Selbstreflexion beginnt aus meiner Sicht immer zuerst beim Coach mit Blick auf seine Vorgehensweise im Coaching. Wenn ich einfach eine Zielvereinbarung mit einem Klienten treffe und dann auf die Erfüllung der Ziele in der Zukunft hinarbeite, könnte ich dabei wesentliche Dinge übersehen. Die erste Frage, die zu stellen wäre, ist ja, ob die Ziele, die der Klient benennt, überhaupt seine eigenen sind. Oder hat er sie unreflektiert von den Eltern, dem Umfeld, durch gesellschaftliche Einflüsse usw. übernommen? 

Danach kommt an zweiter Stelle die Unterscheidung von quantitativen – also messbaren – und qualitativen – sprich eher ganzheitlichen – Zielen. Zu den ersteren gehören, mehr Geld zu verdienen, eine bessere Position zu bekommen, ein Haus zu bauen usw. Diese Ziele liegen auf einer Zeitachse natürlich in der Zukunft. Aber die qualitativen Ziele wie Glück, Gelassenheit oder Balance, um nur ein paar zu nennen – wo liegen die eigentlich? Die werden nämlich oft auch – unbewusst, aber scheinbar ganz selbstverständlich – in die Zukunft projiziert. Auf einen Zeitpunkt X, nachdem die ganzen quantitativen Ziele erreicht worden sind. Und das ist leider eine Selbsttäuschung. 

Deswegen fokussiere ich erst einmal auf die Gegenwart. Nach dem Motto: entweder heute oder nie! Also glücklich sein, in der Balance bleiben und dann gelassen auf die Ziele zugehen. Das ist das Entscheidende.    

Arbeiten Sie situativ dennoch mit Zeitprogression und der Vorwegnahme positiver Zielbilder? Welche Rolle spielt der Blick in die Zukunft?

Ja, natürlich arbeite ich auch mit dem Blick in die Zukunft. Aber eher im Sinne einer vertieften Erkenntnis. Denn wenn ein Klient hier und heute nicht glücklich, gelassen und in der Balance ist, gilt es jetzt und hier etwas zu tun – und das Ziel gerade nicht in die Zukunft zu projizieren. Die Zukunft fängt heute an. Wenn das nicht klar ist, wie sollte es dann in fünf oder zehn Jahren besser sein? Was nun bestimmte äußere, messbare Ziele angeht, arbeite ich natürlich auch mit positiven Zielbildern und mit einer Zeitleiste rückwärts. „Wenn Sie in zwei Jahren da und dort sein möchten, müssen Sie in einem Jahr dort sein, im nächsten Monat da und in dieser Woche müssten Sie mit diesem oder jenem beginnen.“

Inwieweit bzw. wie tiefgehend arbeiten Sie beim Blick in die Vergangenheit biografisch, um z.B. den Ursprung internalisierter Glaubenssätze und damit verbundener Ziele zu erkunden?

Die Arbeit mit verinnerlichten Glaubenssätzen ist absolut zentral. Auch da spielen philosophische und in diesem Fall erkenntnistheoretische Überlegungen eine entscheidende Rolle. Kurz gesagt, geht es um folgende Frage: Was ist eigentlich innen und gehört zu mir und was ist außen und fremd? Dann stellt sich sehr schnell heraus, dass die hinderlichsten Glaubenssätze oft in der Kindheit von den Eltern oder anderen Bezugspersonen unreflektiert übernommen – sprich verinnerlicht – wurden. D.h., früher waren sie außen und fremd – und jetzt sind sie innen und fremd. Selbst wenn man mit ihnen schon einige Jahrzehnte durch die Welt spaziert ist.

Wenn das vollkommen klar ist, kann der Klient oder die Klientin solche Glaubenssätze viel leichter loslassen. Da sie ja nie wirklich Teil der eigenen Persönlichkeit gewesen sind, sondern eher sogenannte Einschlüsse. Natürlich wird der alte Glaubenssatz vorher noch gewürdigt, bevor er losgelassen wird. Er war ja schließlich lange zu Besuch und hatte in bestimmter Hinsicht oft auch positive Aspekte.

Das Foto zeigt Olaf Georg Klein, der vor einem Bücherregal steht und den Betrachter anschaut.

Hätten Sie ein Beispiel für einen Glaubenssatz, der einmal einen Nutzen hatte und nun dysfunktional ist?

Nehmen wir den Glaubenssatz: „Aus Dir wird nie was.“ Er hat die Person angetrieben und so ist inzwischen doch ziemlich viel aus dem Klienten geworden, der da vor einem sitzt. Aber er kann nach wie vor nicht innehalten, ist getrieben, kennt kein Maß, ist selbst unglücklich und zugleich eine ziemliche Belastung für sein ganzes Umfeld. „Mit Leichtigkeit und Freude, bin ich immer wieder eine Bereicherung für die Welt“ ist doch im Sinne der Balance ein viel besserer Glaubenssatz. Und der wird dann auf die gleiche elegante Art von außen nach innen hineingenommen wie der frühere Glaubenssatz. Und nach einiger Zeit, nach meiner Erfahrung nach ca. 40 Tagen aktiver, bewusster Verinnerlichung, ist er genauso implementiert, wie der alte es einmal war.

Sie unterstützen Klientinnen und Klienten im Umgang mit starken Emotionen und Ängsten. Ist hierbei auch der Blick in die Vergangenheit angezeigt?

Interessante Frage. Erst einmal fange ich – genau wie bei den Zielen – immer in der Gegenwart an. Im Moment. Da können diese starken Ängste und Emotionen – vor allem mit hypnosystemischen Interventionen – sehr nachhaltig bearbeitet, gelöst und integriert werden. Stichworte sind: den Klienten in der Gegenwart verankern, eine sichere Beobachterposition einnehmen lassen, auf die Metaebene gehen, Dialoge mit den (personifizierten) Emotionen oder Ängsten führen. Deren Botschaft und Bedeutung hörbar und sichtbar machen. Dann die dahinterliegenden eigentlichen Anliegen auflösen, sodass die starken Ängste und Emotionen sich nicht mehr auf destruktive Art zu ungünstigen Zeiten Gehör verschaffen müssen.

Sie sagen auch, Sprache schaffe Realitäten. Dies zu verinnerlichen, sehen Sie als Bestandteil der Lebenskunst. Ist hiermit die Art gemeint, wie wir über uns selbst sprechen?

Wie wir mit anderen über uns selbst sprechen, ist erst der zweite Schritt. Zuerst einmal sprechen wir immer mit uns selbst. Das machen wir – mehr unbewusst als bewusst – die meiste Zeit am Tag. Nur hören wir uns dabei ziemlich selten zu. Dabei ist das, was wir zu uns selbst sagen, das Entscheidende: Kommentiere ich das, was ich tue und erlebe, wohlwollend, aufmunternd, unterstützend, tröstend, anspornend? Oder spreche ich kritisierend, entmutigend und abwertend mit mir selbst? Auch Glaubenssätze sind immer formulierte Sprache. Es gilt also, aufmerksam zu sein und in einen kreativen inneren Dialog mit sich selbst zu kommen. Dann kann ich auch ohne Anstrengung und ohne Verstellung mit anderen über mich sprechen. Ich forme mich selbst und das Bild, das andere von mir dann bekommen, zuerst durch Sprache, durch Kommunikation. Und dann verhalte ich mich entsprechend und agiere natürlich auch in dieser sprachlich geschaffenen Realität.

2018 erschien Ihr Werk „Tagebuchschreiben“. Was gab den Ausschlag, sich derart ausführlich mit dieser Thematik zu befassen?

Das hat eine lange Vorgeschichte. Mit 16 Jahren habe ich angefangen, Tagebuch zu schreiben. Ich wollte damals meinen Selbstwerdungs- und Veränderungsprozess bewusst beobachten und gestalten. Mich nicht von außen manipulieren lassen, aber auch nicht familiär geprägte Muster – heute würde man von Glaubenssätzen sprechen – quasi automatisiert weiterleben und weitergeben. Schon nach kurzer Zeit habe ich die faszinierende Kraft einer solchen regelmäßigen Verschriftlichung bemerkt. Ich kam mir selbst auf die Spur, konnte mich besser zurückerinnern, konnte eigene Entwicklungen nachverfolgen, Konflikte aus dem Rückblick analysieren, diffuse Gedanken und Gefühle nach und nach besser in Worte fassen und damit der Selbstreflexion zugänglich machen. Das war, wenn Sie so wollen, ein permanentes Selbst-Coaching. Und so habe ich damit einfach nie mehr aufgehört. 

Vor ein paar Jahren dachte ich dann, ich sollte diese jahrzehntelangen Erfahrungen strukturieren und systematisieren und anderen Menschen zugänglich machen. Gleichzeitig begann ich, meine Erfahrungen mit denen von anderen Tagebuchschreibern zu vergleichen. Ich las in Auszügen ca. 200 andere veröffentlichte Tagebücher aus den letzten 400 Jahren, die hauptsächlich in Europa geschrieben wurden. Und so unterschiedlich diese Tagebücher auch sind, sie haben strukturelle Ähnlichkeiten, was die Faszination, den Sinn und den Nutzen des Tagebuchschreibens angeht. Dann schrieb ich mein Buch, das quasi ein Kompendium über die fast unbegrenzten Möglichkeiten und Chancen des Tagebuchschreibens geworden ist. Und all das, was heute ganz modisch als „Journaling“ daherkommt und als „ganz neu“ angepriesen wird, ist darin enthalten und systematisch beschrieben.   

Das Bild zeigt das Buchcover von "Tagebuch Schreiben"

Inwiefern bereichert es ein Coaching, wenn Sie Klientinnen und Klienten zum Schreiben animieren?

Nun, alles, was man denkt oder sagt, ist häufig im nächsten Moment schon wieder vergessen. Von anderen Gedanken und Eindrücken und Forderungen des Tages überlagert. Es würde doch niemand ein Strategiemeeting durchführen und nichts davon schriftlich festhalten. Oder? Und das soll im Coaching anders sein? Nein. Wesentliche Erkenntnisse, Durchbrüche, neue Sichtweisen, andere Perspektiven – so umwerfend sie im Moment sein mögen: Sie geraten genauso schnell wieder in Vergessenheit. Da hilft nur: Aufschreiben. Wiederlesen. Wiedererinnern. Und auf diese Weise nach und nach verinnerlichen, üben und anwenden. Dann ist Coaching für den Klienten wirklich nachhaltig. Alles andere ist aus meiner Sicht eine Illusion und nicht wirklich von Dauer.

Die Devise heißt also erst einmal: notieren und mitschreiben. Dafür lasse ich schon kleine Minipausen in der Coaching-Sitzung selbst – und mache mir natürlich auch Notizen. Und dann rege ich die Klienten an, mir vor der nächsten Sitzung eine kleine Zusammenfassung der für sie wesentlichen Punkte zuzuschicken. Das muss ja nicht unbedingt mit dem übereinstimmen, was ich für das Wesentliche gehalten habe. So bekomme ich ein super Feedback. Außerdem regt das Schreiben dieser Zusammenfassung den Klienten an, sich auch zwischen den Sitzungen weiter mit den Themen zu befassen, sie weiterzudenken oder auch infrage zu stellen. Das ist ein sehr kreativer Prozess. Ich empfehle immer, ein kleines Schreibheft oder ein elektronisches Pendant dabei zu haben und sich regelmäßig Notizen zu machen.      

Ihrer Ansicht nach steht hinter der Arbeit an einer Problemlösung im Coaching immer die Notwendigkeit, die Selbsterkenntnis zu erhöhen. Setzt das Schreiben genau hier an?

Definitiv. Man kann einfach nicht über sich selbst schreiben, ohne zugleich zu einer bestimmten Form der Selbstreflexion zu kommen. Oder besser formuliert: in sie hineinzugeraten. Wenn Sie schreiben „Das war eine schwierige Sitzung“, dann steht da schon unsichtbar die Frage: „Was genau war daran schwierig?“ Wenn es eine wunderbare Sitzung war – ganz genauso. Erst ist es noch diffus, dann wird es klar. Erst oberflächlich, dann wird es tiefer. Erst ist es unvollständig, dann wird es vollständig. So entsteht Selbsterkenntnis. Den für mich besten Satz dazu hat die Autorin Susan Sontag formuliert: „Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich lese, was ich schreibe?“ Es gehen einem schließlich jeden Tag tausend Gedanken und Sätze durch den Kopf, aber die entscheidende Frage ist, mit welchen ich mich identifiziere. Welche ich zur Realität werden lasse. Sprache schafft wie bereits angesprochen Realität. 

Welche Fehler sollte ein Coach beim Einsatz von Schreibmethoden vermeiden, um die Akzeptanz auf Klientenseite nicht zu mindern?

Zuerst einmal steht und fällt die Akzeptanz des Klienten auch hier mit der Vorbildwirkung des Coachs. Schreibt der Coach, schreibt der Klient. Schreibt der Coach nicht, wird auch der Klient wahrscheinlich nur selten ins Schreiben hineinfinden. Neben der Vorbildwirkung und der Begeisterung ist es wichtig, den Klienten nicht zu demotivieren. D.h.: Der Coach sollte keinerlei Kritik an dem üben, was der Klient geschrieben hat. Es geht immer darum, den Klienten in eine Vorwärtsbewegung hinein zu begleiten und ihn nicht auf etwas einmal Notiertes zu fixieren.

Wenn man sich in der nächsten Coaching-Stunde gemeinsam diese Zusammenfassung anschaut, sollte ein Coach elegant formulieren: „Als Sie Ihre Notizen gemacht haben (Vergangenheit), haben Sie das so und so formuliert. Wenn wir jetzt gemeinsam darauf schauen, können Sie bzw. wir auf einmal erkennen, dass … Was für ein Fortschritt, was für eine Weiterentwicklung in nur ein paar Tagen!“ Wichtig ist, zu erkennen und immer wieder zu betonen, dass das, was da geschrieben wurde, nur ein Durchgangsstadium war bzw. ist, und dass die Bewegung und Veränderung im Leben sowie jetzt im Coaching immer weitergeht – und anhand des Textes gerade wunderbar sichtbar wird.

Seit 1996 sind Sie als Coach-Ausbilder tätig. Neben einer systemischen bieten Sie auch eine Ausbildung zum philosophisch-systemischen Veränderungs-Coach an. Worin unterscheidet sich Letztere von Ersterer im Konkreten?

Also, ich habe von Anfang an auf Coaching-Einzelausbildungen und nicht auf Gruppenausbildungen gesetzt. Vor allem, weil man da als Lehr-Coach viel genauer und individueller auf den Auszubildenden eingehen kann. Dabei habe ich darauf geachtet, dass bestimmte Voraussetzungen schon vor Beginn der Ausbildung vorhanden sind: Wie z.B. ein bestimmtes Maß an Lebenserfahrung, an Selbständigkeit, an Empathiefähigkeit und Selbstreflexion. Alles Dinge, die man in der Kürze einer Ausbildung kaum vermitteln kann. Ansonsten unterscheidet sich die Basis-Coaching-Ausbildung von den Inhalten her nicht so wesentlich von anderen systemischen Coaching-Ausbildungen, nur die philosophische Grundierung ist von Anfang an mit dabei. 

Die Ausbildung zum philosophisch-systemischen Veränderungs-Coach ist eine zweite Stufe und richtet sich an Coaches, die bereits eine Coaching-Ausbildung absolviert haben und in ihrer Praxis merken, dass sie bei verschiedenen komplexeren Fragestellungen nicht gut weiterkommen. In dieser Ausbildung spielen dann nicht nur die Themen einer Philosophie der Lebenskunst eine Rolle. Es werden noch eine ganze Reihe anderer grundsätzlicher Themen vermittelt: Das beginnt bei den höheren Anforderungen an einen solchen Veränderungs-Coach, an seine Persönlichkeit und Vorbildhaftigkeit. Das geht weiter über zeitliche, philosophische, erkenntnistheoretische und anthropologische Interventionen, die für gelungene Veränderungsprozesse wesentlich sind und die so meines Wissens nirgends vermittelt werden.

Darüber hinaus kommen existentialistische, sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Aspekte zur Sprache. Außerdem lehre ich um die 50 „Gesetzmäßigkeiten“, die bei fast allen Veränderungsprozessen eine wesentliche Rolle spielen und die zu vermitteln und anzuwenden sich in der Praxis der letzten 30 Jahre als zielführend erwiesen hat. 

Nicht zuletzt ist während der Ausbildung aus verschiedenen therapeutischen Schulen jeweils ein Standardwerk zu lesen. Dabei gilt es zu verstehen, was der eigentliche philosophische Grundgedanke der jeweiligen Therapieform ist. Nicht ganz banal. Aber wer diese Ausbildung absolviert hat, kann zuverlässig Veränderungsprozesse im Coaching in Gang setzen und auch erfolgreich zu Ende führen. Und den kann in seiner Coaching-Praxis nichts mehr überraschen oder aus der Ruhe bringen.    

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