Aus der Neurowissenschaft und Psychologie wissen wir, dass unsere Persönlichkeitsentwicklung durch fünf Faktoren bestimmt wird (Roth & Ryba, 2016): (1) die Gene, (2) die epigenetischen Gen-Regulationsmechanismen als Bindeglied zwischen Genen und Umwelteinflüssen, (3) die vorgeburtliche Erfahrung des Fötus, (4) die Bindungserfahrung (insbesondere in den ersten drei Lebensjahren) und (5) die weitere Sozialisation. Die Kernpersönlichkeit eines Menschen ist somit schon relativ früh gebildet und determiniert einen Rahmen für das spätere Verhalten. Einen genaueren Einblick geben das Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit nach Roth und Cierpka und das Modell der sechs psychoneuralen Grundsysteme nach Roth und Strüber, welche durch die oben genannten Faktoren geprägt werden (ebd.). Probleme können demnach zurückgeführt werden auf Defizite und Konflikte innerhalb der vier Ebenen und der sechs psychoneuralen Grundsysteme sowie zwischen den Ebenen und den sechs Systemen.
Auf einen Blick
Innerhalb des Rahmens, den die Kernpersönlichkeit vorgibt, kann es stärkere Schwankungen in ihrem Ausdruck geben. Diese können mit der aktuellen Stimmungslage und der Kontext- sowie Rollengebundenheit des Verhaltens zusammenhängen. In der Persönlichkeitspsychologie wird dies als Situationsabhängigkeit des Verhaltens bezeichnet. Demnach handeln Menschen danach, wie sie eine Situation deuten und welche Anteile ihrer Persönlichkeit, also Gedanken, Interpretationen, Gefühle, Erinnerungen etc., aktiviert werden (Mischel & Shoda, 1995). Dieser situative Einfluss ist aus neurowissenschaftlicher Sicht an die obere limbische und die kognitiv-sprachliche Ebene gebunden, welche eine emotional-kognitive Plastizität und Flexibilität ermöglichen. Hier könnte man auch von kontextabhängigen Erlebens- und Verhaltensmustern sprechen.
Nach dem dreifachen Interventionsansatz von Roth und Ryba (2019) drückt sich das (problematische) Erleben und Verhalten auf drei unterschiedlichen Symptomebenen aus, die quer zu den drei limbischen und der kognitiven Ebene stehen und die sechs psychoneuralen Grundsysteme unterschiedlich einbeziehen:
Erlebnis-Mind
Die Ebene des bewussten (Wissens und) Erlebens umfasst die Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Vorstellungen und expliziten Erinnerungen eines Menschen. Probleme können sich hier durch belastende Gedanken und Gefühle ausdrücken. In manchen Fällen kann es auch schlicht um nicht vorhandenes (Fach-)Wissen gehen.
Verhaltens-Mind
Auf dieser Symptom-Ebene stehen vornehmlich das tatsächlich gezeigte Verhalten und die vorhandenen Fähigkeiten im Fokus. Die Frage ist, ob diese angemessen und stimmig hinsichtlich der eigenen Erwartungen und derjenigen der relevanten sozialen Umwelt sind.
Körper-Mind
Die dritte Ebene ist die der körperlichen Zustände und Ausdrucksformen. Hierunter fallen die non- und paraverbale Kommunikation, die Körperhaltungen und vegetativen Reaktionen. Probleme zeigen sich hier z.B. durch körperliche Anspannungen oder starke vegetative Reaktionen wie z.B. Schweißausbrüche, erröten etc.
Wenn die Probleme auf allen drei Ebenen gleichzeitig bestehen, wird in der Psychologie von einem Schema gesprochen. Es ist jedoch möglich, dass Belastungen auf einer Ebene zurückgehen, während sie auf anderen Ebenen fortwirken. Ebenfalls besteht die Möglichkeit, dass Probleme vornehmlich nur eine Ebene betreffen. Bei den drei Symptomebenen handelt es sich gleichzeitig um drei verschiedene Gedächtnisse und damit auch um Interventionsebenen im Coaching (siehe dazu Ryba, 2023).
Schaut man in die zentralen Themen von Coaching-Prozessen, können diese grob den verschiedenen Symptom- und Interventionsebenen zugeordnet werden. In der RAUEN Coaching-Marktanalyse 2023 (Rauen et al., 2023) werden nach ihrer Gewichtung folgende zehn Top-Themen in 2023 benannt:
Im Coaching findet sich häufig die Auffassung wieder, dass es um ergebnisorientierte Reflexion und ein Arbeiten auf der Verhaltensebene geht. Damit wäre vor allem das Wissens- und Erlebnisgedächtnis (Erlebnis-Mind) sowie das Verhaltensgedächtnis (Verhaltens-Mind) angesprochen. Diesen Aspekt spiegelt die Coaching-Marktanalyse wider mit Themen wie Reflexion & Entwicklung der Führungsrolle sowie Entwicklung der Führungskompetenz. Deutlich wird allerdings auch, dass das Thema Persönlichkeitsentwicklung einen hohen Stellenwert hat, weil dieses auf Platz drei rangiert und auch in vielen weiteren Themen wie z.B. beim Konflikt- oder Stressmanagement implizit eine Rolle spielt. Wenn es um die Persönlichkeit geht, sind alle drei Symptom- und Interventionsebenen relevant. Daher lohnt sich auch ein Blick in das Verständnis von Problemursachen der verschiedenen Psychotherapieschulen. Zum Thema Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Coaching und Psychotherapie sei auf eine Erörterung an anderer Stelle verwiesen (Ryba, 2018).
Im Folgenden findet sich ein knapper Überblick der Problemtheorien verschiedener Psychotherapieschulen (detaillierter in Ryba, 2018).
Psychoanalyse (Freud):
Hypnotherapie (Erickson):
Lerntheoretische Verhaltenstherapie:
Kognitive (Verhaltens-)Therapie/REVT (Beck/Ellis):
Personzentrierte Therapie (Rogers):
Gestalttherapie (Perls):
Bioenergetik (Lowen):
Systemische Therapie:
Die verschiedenen Perspektiven der Psychotherapieschulen auf Probleme überschneiden sich zum Teil, aber ergänzen sich auch. Eine besondere Bedeutung wird den Beziehungserfahrungen zugeschrieben, welche unter Umständen zu inneren (Bedürfnis-)Konflikten führen können. Auch aus neurowissenschaftlicher Sicht kann diese Hypothese unterstützt werden, wenngleich innere Konflikte nicht nur auf Beziehungserfahrungen, sondern auch auf den Einfluss von Genen, Epigenetik und der vorgeburtlichen Erfahrung zurückgeführt werden können, welche die Entwicklung der vier Ebenen und sechs psychoneuralen Grundsysteme entscheidend determinieren. Wichtig ist noch, Schocktraumata und Entwicklungstraumata zu differenzieren. Bei Ersteren handelt es sich um einzelne Erlebnisse, welche Betroffene in akute Hilflosigkeit versetzen (z.B. ein Unfall). Bei Letzteren geht es um hohen und langjährig anhaltenden Stress, der meist durch unsichere Bindungen in der Ursprungsfamilie verursacht wird.
Die Probleme drücken sich dann auf den drei Symptom- und Gedächtnisebenen aus, wie auch in den verschiedenen Psychotherapieschulen thematisiert wird: dem Erleben (z.B. Fokus von Psychoanalyse, Kognitive (Verhaltens-)Therapie, Personzentrierte Therapie), dem Verhalten (z.B. Fokus von Lerntheoretischer Verhaltenstherapie) und dem Körper (z.B. Fokus von Bioenergetik). Die lerntheoretische Verhaltenstherapie zeigt zudem auf, wie Probleme aufrechterhalten werden: Durch Vermeidungsverhalten, das kurzfristig eine Entlastung schafft, kommt es zu einer Verstärkung (kurzfristige Belohnung) und damit zu einer Manifestation von Problemen. Auch die systemische Therapie legt dar, dass Probleme sich stabilisieren können und macht dafür die Kommunikations- und Interaktionsprozesse verantwortlich sowie ihre Funktion im Beziehungsgefüge. Die Abbildung ist der Entwurf eines Modells, das diese verschiedenen Perspektiven zusammenführt.
Im Sinne des SORCK Modells von Kanfer und Saslow (1976) wird zunächst zwischen dem Stimulus, dem Organismus, der Reaktion, der Kontingenz und der Konsequenz unterschieden. Die Organismusvariable ist hier keine „Black-Box“, sondern wird mit dem neurowissenschaftlich fundierten Persönlichkeitskonzept von Roth und Ryba (2019) gefüllt. Dabei werden die 3 Minds (Körper, Erleben und Verhalten) als Erlebens- und Verhaltensmuster bzw. Schemata verstanden, die in Abhängigkeit eines Stimulus und eines Kontexts aktiviert werden. Die Bedeutung der Bindungserfahrung in der Ursprungsfamilie wird durch den Außenkreis symbolisiert, welche zu verinnerlichten Objektbeziehungen führt, die sich in der Persönlichkeit widerspiegeln. Der innere Kreis spiegelt die aktuellen sozialen Systeme und Kontexte wider, welche das aktuelle Erleben und Verhalten beeinflussen. Weiterhin wird zwischen dem problematischen und dem gewünschten Erleben und Verhalten unterschieden. Das gewünschte Erleben und Verhalten wird jedoch aufgrund von internen oder externen Hindernissen noch nicht erreicht, weshalb Beratungsbedarf besteht.
Meist werden Probleme als eine Diskrepanz zwischen einem Ist- und einem gewünschten Sollzustand wahrgenommen und als eine Aufgabe definiert, deren Lösung mit Schwierigkeiten verbunden ist. Wichtig für den Prozess der Lösungsfindung ist daher der Umgang mit inneren (häufig Ängsten) und äußeren Hindernissen. Werden diese erfolgreich überwunden, kann die Person neue Erfahrungen machen, die wiederum positive aber manchmal auch negative (z.B. Verlust von Beziehungen) Konsequenzen mit sich ziehen, was sich wiederum auf das Individuum auswirkt.
In der Tabelle finden sich wichtige Interventionsstrategien der verschiedenen Therapieschulen, die aus neurowissenschaftlicher Sicht bedeutsam sein können (detaillierter in Ryba, 2018).
Ansatz | Interventionsstrategie |
---|---|
Psychoanalyse (Freud) | Konflikte in der Beziehung zum Coach reaktivieren und so als Übertragung bewusst und damit bearbeitbar machen |
Hypnotherapie (Erickson) | Trance ermöglicht die Ablösung von rigiden Haltungen und ermöglicht eine Neustrukturierung und Reorganisation / Utilisation |
Lerntheoretische Verhaltenstherapie | Klassische und operante Konditionierung (Manipulation von Konsequenzen) |
Kognitive (Verhaltens-) Therapie/REVT (Beck/Ellis) | Realitätsprüfungen / Einüben |
Personzentrierte Therapie (Rogers) | Der Coach ist in der Beziehung echt, wendet sich positiv zu und erfährt empathisch den inneren Bezugsrahmen der Klientinnen und Klienten |
Gestalttherapie (Pearls) | Arbeit an den Vermeidungsmechanismen (Gestalten werden erfahrbar gemacht) |
Bioenergetik (Lowen) | Lösung der vegetativen „Energien“ aus den Muskel¬verkrampfungen |
Systemische Therapie | Rigide Muster unterbrechen |
Tabelle: Wichtige Interventionsstrategien (nach Ryba, 2018)
Grundsätzlich wichtig aus neurowissenschaftlicher Sicht ist, dass das Gehirn einen sehr guten Grund braucht, um seine Gewohnheiten zu ändern, weil die damit verbundene neuronale Reorganisation ein komplizierter, risikoreicher und insbesondere stoffwechselphysiologisch teurer Prozess ist. Der Grund, diesen vorzunehmen, liegt in der Belohnung oder anders ausgedrückt in der besseren Befriedigung wichtiger Grundbedürfnisse. Nur dann macht eine Veränderung für das Gehirn Sinn, weshalb die Änderungsmotivation ein zentraler Faktor für jeden Coaching-Prozess ist. Bedeutsam ist darüber hinaus die individuell passende Intervention auf den drei Ebenen: Erlebnis-, Verhaltens- und Körper-Mind (Ryba, 2023). Auch das Arbeitsbündnis hat eine hohe Bedeutung (Gahleitner, 2017).
Wenn man das oben skizzierte Modell zugrunde legt, können nun verschiedene Ansatzpunkte für Interventionen identifiziert werden, die unterschiedlich tief und nachhaltig die persönlichen Erlebens- und Verhaltensmuster verändern.
Für die Arbeit auf der Ebene des Stimulus ist keine tiefgreifende Persönlichkeitsentwicklung notwendig. Probleme bzw. ihre Auslöser können unter Umständen (systematisch) vermieden werden. Dieses Prinzip nutzt z.B. die Verhaltenstherapie im Rahmen der Stimuluskontrolle. Dabei werden Reizbedingungen vermieden, welche problematisches Verhalten auslösen. Eine weitere Möglichkeit, auf der Ebene des Triggers zu arbeiten, wäre eine Neuassoziation desselben. Nehmen wir als Beispiel einen Chef, der manchmal Wutausbrüche hat und damit ein ungünstiges, regressives Verhalten bei einem Klienten fördert. Gelingt es, den Chef und seinen Wutausbruch mit etwas Komischem zu assoziieren, dann ist es möglich, dass die Reaktion auf den Wutausbruch sich in Richtung eines (inneren oder äußeren) Lachens verändert. Diese Technik geht auch in Richtung „Reframing“, eine Neubewertung der Situation, welche einen kognitiv-emotionalen Perspektivwechsel möglich macht und damit ein anderes Erlebens- und Verhaltensmuster auslösen kann.
Wenn die Arbeit auf der Ebene des Stimulus nicht ausreicht, können Interventionen auf der Ebene von Persönlichkeitsentwicklung ansetzen (Ryba, 2023). Besonders sinnvoll ist die Arbeit auf Persönlichkeitsebene, wenn es um innere Konflikte oder limitierende Glaubenssätze geht, welche sich auf verschiedene Lebensbereiche auswirken können und als belastend erlebt werden. Im Zusammenhang mit inneren Konflikten sind meist alle drei Symptomebenen betroffen: Erleben, Verhalten und Körperreaktionen. Es ist aber auch möglich, dass sich bestimmte Themen auf einer Ebene schwerpunktmäßig zeigen. Dann geht es z.B. um die Arbeit …
Während in der Psychotherapie die Arbeit mit dem Körper tiefer gehen kann, z.B. im Sinne der Auflösung eines Muskelpanzers, so geht es im Coaching eher darum, mittels des Körpers einen Zugang zu den unbewussten Themen der Klientinnen und Klienten zu bekommen. Grundsätzlich beinhaltet die Arbeit auf der Ebene von Persönlichkeit häufig eine Aufarbeitung der Vergangenheit, weil die Persönlichkeit sich in unserem Leben relativ früh prägt. Im beruflichen Kontext spielt natürlich nicht nur die Persönlichkeit allein eine Rolle, sondern das Wechselspiel zwischen Persönlichkeit, Rolle, fachlichen Anforderungen und organisationalen Rahmenbedingungen.
Das aktuelle soziale System kann sowohl berufliche soziale Kontexte als auch relevante private soziale Kontexte umfassen. Hier geht es vor allem um die Frage nach der aktuellen Funktion des Problems. Im organisationalen Kontext können bestimmte Interaktionsmuster oder auch strukturelle Themen sinnvoll beleuchtet und bearbeitet werden, wenn ihr Nutzen offenbar wird. Dies gilt auch für private Kontexte. So ist es beispielsweise möglich, dass eine Doktorandin sich selbst sabotiert und ihre Arbeit nicht fertig schreibt, weil sie fürchtet, dass ihr Partner nicht gut mit ihrem Erfolg zurechtkommt. Natürlich ist es auch möglich, dass heute dysfunktionale Loyalitäten aufgrund früherer Beziehungen in einer Person fortwirken. Dieser Bereich wäre dann eher dem Thema Persönlichkeitsentwicklung zuzuordnen. Wenn eine Veränderung innerhalb des sozialen Systems nicht möglich oder zielführend ist, kann auch ein Wechsel des sozialen Systems erwogen werden.
Das Erreichen eines gewünschten Sollzustandes ist in der Regel mit Hindernissen verbunden. Diese können im Innen oder im Außen liegen und unterschiedlich herausfordernd sein. Meist ist hier eine klärende und/oder ressourcenaktivierende Arbeit sinnvoll. Der Umgang mit inneren Hindernissen und den ggf. damit verbundenen Konflikten kann dem Thema Persönlichkeitsentwicklung zugeordnet werden.
Manchmal zeigen Menschen in bestimmten Situationen ein Problemverhalten und in anderen nicht. Dann kann es sinnvoll sein, Fähigkeiten oder Ressourcen, die sie in anderen Bereichen haben, auf den Problemkontext zu übertragen. Wie verändert sich die Situation, wenn eine Person ihre Kommunikationsfähigkeit oder ihren Humor bewusst einsetzt? Darüber hinaus kann es förderlich sein, das Zielverhalten mit Techniken von Zukunftsprogression zu fördern. Ähnlich wie beim Stimulus ist es auch denkbar, dass die Problemsituation assoziativ neu verknüpft wird und dadurch eine Erleichterung eintritt.
In der Verhaltenstherapie werden Konditionierungstechniken eingesetzt, welche die Konsequenzen eines Verhaltens gezielt beeinflussen. Dies kann beispielsweise durch Belohnung von erwünschtem Verhalten und Bestrafung (üblicher Belohnungsentzug) von unerwünschtem Verhalten erfolgen.
Das skizzierte neuropsychologische Interventionsmodell zeigt auf, dass Veränderung sehr vielfältig sein kann und die Persönlichkeit dabei unterschiedlich tiefgreifend berücksichtigt werden sollte. Wichtig sind eine differenzierte Herangehensweise und ein integratives Vorgehen. Auf diese Weise können Coaches punktgenau intervenieren und ihre Wirksamkeit steigern.