Eine sehr erfolgreiche chinesische Managerin soll einen weitaus größeren Verantwortungsbereich übernehmen. Sie entscheidet sich für einen Coaching-Prozess, um einerseits sich auf diesen nächsten Karriereschritt vorzubereiten, andererseits um als Chinesin in einem anderen kulturellen Kontext diesen Schritt machen zu können.
Man kann allgemein sagen, dass Chinesen in Bezug auf Selbst- und Fremdeinschätzung sowie ein diesbezügliches Gespräch recht unerfahren sind. In Deutschland ist aber eine solche Kompetenz deutlich gefragt. Deutsche Manager in China wünschen sich im Unterschied zu den chinesischen Kollegen eine differenzierte Selbsteinschätzung vor Ort. Oftmals sehen sich Manger aber gerade dort alleine gelassen bzw. auf sich selbst zurückgeworfen. Einerseits haben sie nur bedingt einen differenzierten Kontakt zur (Alltags-)Kultur, der es ihnen ermöglichen würde, sich selbst in dieser Hinsicht mehr erfahren und hierdurch besser einschätzen zu können. Andererseits bekommen sie in der Regel überhaupt kein Feedback über ihr Verhalten.
Zwar kann man mit Chinesen über (das eigene) Verhalten und das anderer sprechen – Chinesen handeln gewöhnlich statt über ihr Verhalten zu sprechen. Aber dies geschieht völlig anders, als wir es im Westen gewohnt sind. Auf einen Punkt gebracht: Es geht im Westen eher um ein „independent self“, nämlich um die (Selbst-Beschäftigung mit sich als) Person. In China hingegen kann man von einem „interdependent self“ sprechen. Dies meint, man erlebt sich, man reflektiert sich stets in Bezug auf den Anderen. Der Bezug zu sich selbst ist dem klar unterzuordnen, unwichtig und schlimmstenfalls abzuwehren.
Es hat sich daher gezeigt, dass gerade deshalb eine Videoanalyse in Bezug auf das transkulturelle Geschehen (im Sinne des Aufeinandertreffens unterschiedlicher kultureller Strukturen und Bedingtheiten) in Coaching-Prozessen mit Managern aus China und deutschen Managern in China gewinnbringend, weil sehr anschaulich und sinnlich erfahrbar, eingesetzt werden kann. Geht es doch hierbei um die Selbst- und Fremdwahrnehmung in Bezug auf das Zusammenspiel von nonverbaler Wirkung, Verhaltensmustern und Persönlichkeit und die Beziehungsgestaltung mit dem Gegenüber. Vermehrt geht es in der transkulturellen Kommunikation um die (öffentliche und überzeugende) Wirkung, sei es in Bezug auf das Kundensystem, auf die Kooperation mit Vertretern anderer Kulturen oder die Rolle als Expat, sprich eines Mitarbeiters eines internationalen Unternehmens, der – meist für mehrere Jahre – in eine ausländische Filiale entsandt wird, oder um einen chinesischen Manager im westlichen Ausland. Am einfachsten kann dies wohl mithilfe einer Metapher erläutert werden:
Beim Erlernen einer Fremdsprache geht es immer mindestens um drei Aspekte: Lernen von Vokabeln, von Grammatik und Sprachpraxis. Das Lernen von Vokabeln bzw. Grundbegriffen ist vergleichbar mit dem Erlernen grundlegender Handlungsweisen (interkulturell), wie z.B. einer besonderen Art der Übergabe von Visitenkarten und der dahinterliegenden Bedeutung dieser Handlung. Ein weiteres Beispiel kann die Sitzordnung beim Essen sein, oder das beglückende Vergnügen, sich ausführlich über Essen zu unterhalten. Die Grammatik entspricht sodann dem Erleben und Einüben spezifischer Verhaltensregeln (multikulturell). Im dritten Aspekt, der Sprachpraxis, geht es um das Echo in einem selbst, wenn man es denn gewagt hat, ins kalte Wasser zu springen, und einfach beginnt, sich in der fremden Sprache zu unterhalten. Kommunikation besteht dann aus wechselseitiger Wirkung aufeinander (transkulturell).
Ein chinesischer Geschäftsführer, Mr. Gu, war extra aus Shanghai nach Peking angereist, um dem sich in Peking aufhaltenden, deutschen Coach die Mühe der anstrengenden Reise zu ersparen. Der Tag war sehr heiß, zudem kam der Coach verspätet am Treffpunkt, einem Restaurant, an. Zwar war das dem Coach äußerst unangenehm, doch wurde er so freundlich und einladend empfangen, als wäre nichts geschehen.
Mr. Gu bat den Coach, sich einen Sitzplatz auszuwählen. Der Tisch war unbesetzt, aber vor jedem Sitzplatz lag ein Smartphone oder ein anderes Utensil. Zwar wollte der Coach als Gast bescheiden sein und wartete freundlich lächelnd, nur tat dies Mr. Gu ebenfalls. Also prüfte der Coach im Bruchteil von Sekunden die auf dem Tisch verteilten Utensilien, ebenso die Anordnung der Stühle in Bezug auf den Tisch und auf die Wand sowie die anderen Tische, um einen Platz zu wählen. Noch nicht sitzend, aber schon nicht mehr stehend bemerkte er, dass er den Platz mit Blick zur Tür gewählt hatte. In China, wie der Coach wusste, sitzt eher nur der Chef oder der wichtigste der Gesprächspartner auf einem solchen Platz.
Was tun? Sich auf den Stuhl des wichtigen Gesprächspartners setzen? Sich nicht setzen und den eigenen Gesichtsverlust, vielleicht auch den von Mr. Gu riskieren? Durchgeschwitzt, voll mit Adrenalin, weiterhin freundlich lächelnd und Opfer seiner plagenden Gedankenblitze setzte sich der Coach auf diesen Stuhl. Allerdings wusste er, dass er diese Gedankengänge und Empfindungen nicht ansprechen konnte – in China tut man dies nicht. Dennoch fühlte er sich aufgrund dieser Situation in der Beziehung zum Geschäftsführer hierarchisch nicht auf einer Ebene – für Verhandlungen keine glückliche Ausgangslage.
Leider hatte der Coach zu dem Zeitpunkt überhaupt keine Verhaltenssicherheit im chinesischen Kulturkontext. Mr. Gu begann das Gespräch und nannte sich, wie Chinesen es gerne machen, der Einfachheit halber Leo. Nach den offiziellen Eingangsfloskeln wies der Coach darauf hin, dass es in Deutschland herausstechende Personen mit Namen Leo(-pold) gegeben hätte. Er würde sich glücklich schätzen, mit jemandem, der einen solchen Namen trage, am Tisch sitzen zu können. Man merkte, wie der Stolz des Gegenübers dessen Sitzhaltung deutlich veränderte. Mr. Gu lächelte, woraufhin der Coach seinen Versuch, auf Augenhöhe zu kommen, startete. Auch seinen Namen, aber insbesondere den seines Sohnes Max(-imilian), hätten wichtige Personen, sogar Herrscher großer Reiche getragen. Mr. Gu lächelte immer noch, auch wenn er für einen kurzen Moment ein wenig irritiert wirkte. Der Coach wurde zunehmend (selbst- und handlungs-)sicherer. Die Augenhöhe war gegeben.
Anhand eines Beispiels aus der Coaching-Praxis sollen folgend einige transkulturelle Aspekte illustriert werden. Die chinesische Managerin (seit 15 Jahren in Deutschland, hatte einen deutschen Pass, sprach perfekt Deutsch, in Deutschland verheiratet), war im Bereich Automotive tätig und sah sich zusammen mit ihren Kollegen mit einem stark wachsenden Geschäft in China konfrontiert. Sie wollte sowohl bei den externen Kunden in China, als auch bei den internen Kunden in ihrem eigenen (deutschen, obwohl international aufgestellten) Unternehmen wirksamer als Führungskraft wahrgenommen werden, aber auch in ihrer (öffentlichen) Wirkung überzeugender auftreten.
Im Coaching wurde zunächst mit der Videokamera gearbeitet. Ziel dieses Vorgehens, das auch in anderen Kontexten zum Einsatz kommen kann (Sollmann, 2017 a), war die Beschreibung und Analyse des von der Klientin in Belastungssituationen entwickelten Zusammenspiels von nonverbaler Wirkung, persönlichem Ausdruck und typischen Verhaltensmustern – all dies unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Frage: Wie wird die Klientin als Führungskraft wahrgenommen, wie wirkt sie nach außen? Die anschließende, gemeinsam vorgenommene Erörterung des Video-Materials stellte für die Managerin die Grundlage dafür dar, die unterschiedlichen Aspekte zu verstehen, zu integrieren und auf ihre Rolle und Funktion zu beziehen. Die in einem so angelegten Coaching eingesetzte Videoanalyse besteht grundsätzlich aus vier Schritten:
Die gemeinsam erarbeitete (Video-)Analyse ihrer „Wirkungs- und Öffentlichkeitskompetenz“ überzeugte die Managerin einerseits. Andererseits sah sie sich in der Lage, neu und anders über ihr eigenes Verhalten nachzudenken, sowie auch, wie sie es betonte, sich lebendiger zu verhalten. Hierdurch konnte sie andere besser überzeugen, was sich in dem nach dem Coaching-Prozess geäußerten Feedback von Kollegen- und Kundenseite bestätigte.
Während sich deutsche Klienten – so z.B. ein Politiker im Wahlkampf-Coaching (Sollmann, 2017 a & 2017 b) – bei diesen Übungen primär an das eigene Erleben, an Selbst-Wahrnehmung und innerem Selbstbild orientieren, bemühte sich die chinesische Managerin sehr spontan und deutlich zunächst darum, den Kontext, sprich das jeweilige Beziehungsgefüge zu verstehen und sich hierauf zu beziehen. In diesem Fall war sie damit beschäftigt, die Situation während der Video-Übung wahrzunehmen, weniger sich selbst. Es ging ihr also im ersten Schritt (noch) nicht darum, sich selbst zu erleben, sondern den Kontext mit den von ihr vermuteten kulturellen „Verhaltensvorgaben“ zu begreifen. In diesem Fall: Eine chinesische Managerin eines global tätigen Unternehmens in Deutschland zu sein. In diesem Kontext erlebte sich die Managerin und reagierte „typisch“ als Chinesin.
Zwar habe sie spontan ein Bedürfnis gespürt, sich, wie sie sagte, lebendig(er) auszudrücken, sich mehr zu bewegen, auch ihre Mimik und Gestik zu nutzen, doch sei sie mit einem solchen Selbstausdruck überhaupt nicht vertraut. Und im Übrigen würde man in ihrer Kultur – in China – stets auf den Kontext und die (Hierarchie-)Beziehung achten. Man selbst sei nicht so wichtig. Eine erfolgreiche Wirkung käme ohnehin nur durch die konkreten Arbeitsergebnisse, die sie vorlegen müsse, zustande, nicht durch sie als Person. Und im Übrigen würde man in China doch über so etwas überhaupt nicht reden.
Bedingt durch den Stress, der durch die zweite Übung induziert war, nahm sie sich zurück, wagte es kaum noch, sich zu bewegen. Insoweit reagierte sie unter Stress entsprechend ihrem persönlichen aber auch dem kulturellen Verhaltensmuster. Um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen persönlichem und kulturellem Verhaltensmuster früh zu erkennen, sind fundierte Kenntnisse des chinesischen Kulturkreises und eigene transkulturelle Erfahrungen unabdingbar. So begann sich die chinesische Managerin zu öffnen, statt – wie es in China oft der Fall ist – dem Coach nach dem Munde zu reden.
Sie redete beim zweiten Durchlauf schneller als sonst, ohne aber „zu schnell“ zu sein. Immer habe sie dabei der Wunsch begleitet, ihr Verhalten gespiegelt zu bekommen, was aber für sie, kulturell bedingt, nur heißen konnte, zu erfahren, ob ihr Verhalten zum Kontext passt oder nicht. Platt gesagt, ob es richtig oder falsch sei, ob es gut oder schlecht sei. Insofern war sie mit ihrer Aufmerksamkeit beim Coach und weniger bei sich. Das deutsche Unternehmen erwartete aber von ihr mehr Selbst-Erleben und Selbstsicherheit im Auftreten und in der Verhandlungsführung mit Kunden und Lieferanten.
Spontan, und das geschah wirklich sehr direkt und augenfällig, ging sie zum Ende der zweiten Übung einige Schritte recht schnell nach vorne, was den Coach nicht nur überraschte, sondern durch die Intensität ihrer Bewegung fast schon verblüffte. Klientin und Coach werteten dies als spontanen Ausdruck einer stark zurückgehaltenen, inneren, persönlichen, emotionalen Impulsivität, die sie zuvor kontrolliert, die sie kulturell bedingt als unpassend erlebt hatte und die sie aber unter dem Stress nicht mehr vollumfänglich kontrollieren konnte. Im Übrigen sind Chinesen sehr gut geübt in der Selbstkontrolle, auch unter hoher Belastung.
Fast beschwichtigend sagte sie mit einem erleichterten Lächeln, dass sie immer noch lernen wolle. Ihr Lächeln zeigte, dass es ihr eine Freude war, gerade dies zu lernen. War sie doch davon überzeugt, sich hierdurch besser mit sich selbst zu fühlen, mit sich eins zu sein. Dies sei, wie sie erleichtert betonte, eine wichtige Komponente in der Kommunikation mit anderen. Als das Zusammenspiel von Kontext, Anpassung, Selbstkontrolle einerseits und impulsivem, intensivem, persönlichem und auch emotionalem Selbstausdruck andererseits zur Sprache kam, unterstrich sie mehrfach, dass sie aber doch Chinesin sei und auch bleiben wolle.
Zum besseren Verständnis des letztgenannten Umstands soll folgendes Beispiel beitragen: Ein chinesischer Student studiert Operngesang in Deutschland. Seine Stimme ist umwerfend, sein Gesang klar und rein. Und doch fehlte ihm der persönliche Ausdruck. Im Unterschied zu China ist gerade diese persönliche Ausdrucksnote in Deutschland gefragt, in China eher verpönt. Der junge Mann, der um ein Coaching bat, war daher bemüht, einen solchen persönlichen Ausdruck zu entwickeln. Gleichzeitig skypte er abends mit seiner Mutter in China, die ihm überzeugend nahezulegen bemüht war, er möge doch Gesang und Stimme perfektionieren, ohne sich als Person zu zeigen, wie es eben in China gefordert sei.
Eine solche Situation kann einen Menschen in einen tiefen persönlichen sowie transkulturellen Zwiespalt, in ein schier unauflösliches Dilemma bringen. Die Arbeit im Coaching-Prozess zielte daher primär darauf ab, dass der junge Opernsänger sich selbst zu spüren, sich emotional zu erleben lernte. Dies war die sensorisch wichtige Voraussetzung, die mit seiner Situation verknüpfte Ambivalenz überhaupt erfahren zu können. Ohne eine solche Erfahrung hätte ihn die Spannung, die mit dem Dilemma verbunden war, psychisch schier zerreißen können. Hieran schlossen sich mehrere Gespräche an, in denen einerseits Möglichkeiten der Abgrenzung zu seiner Mutter erörtert wurden und er sich andererseits mit neuen persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten vertraut machte.
Statt ein Fazit zu ziehen, soll der Versuch unternommen werden, eine Diskussion anzuregen. Das Folgende ist dabei eine grobe Zusammenfassung von wesentlichen Erfahrungen, die ein Coach in jahrelanger Praxis sammeln darf. Diskussion ist nichts anderes als Kommunikation, und um sich zu entwickeln, muss man Erfahrungen austauschen und sie auch möglicher Kritik aussetzen – dies soll hier abschließend geschehen.
Coaching ist keine Psychotherapie, obwohl man sich wirkungsvoll und sinnvollerweise auf psychotherapeutische Denk- und Handlungsmodelle beziehen kann. Aber hier beginnt eine diffizile Gratwanderung. Wie und woran kann man, ohne eine psychotherapeutische Ausbildung und/oder Selbsterfahrung zu haben, die unterschiedlichen Erscheinungsbilder und Wirkungszusammenhänge unterscheiden? Die Gefahr ist, dass es bei einem Glaubensbekenntnis oder einer Ankündigung von Unterscheidung bleibt.
Die chinesische Managerin unterstrich ihre persönliche Überzeugung, so zu sein und so bleiben zu wollen, wie sie (kulturell bedingt) ist. Gleichzeitig war sie erfolgreich darum bemüht, aus dem Vertrauen auf sich selbst heraus und der „emotionalen Berechtigung“ auf personale Stimmigkeit, die Passung mit der sie umgebenden (Arbeits-)Wirklichkeit professionell zu gestalten. Ein personenbezogenes Coaching kann hierbei gute Hilfe leisten.
Zudem hat Coaching viel mit Wahrnehmung von Kommunikation und menschlichem Verhalten zu tun. Damit Coaching gelingen kann, ist es unabdingbar, sich immer auch die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster, den Wahrnehmungsprozess selbst anzuschauen und auf die hierdurch getragene Entwicklung zu beziehen. Wird doch das, was man sieht, mit den jeweils eigenen, persönlichen Augen gesehen. Und Augen können nur so sehen, wie sie individuell gelernt haben zu sehen.
Der Coach kann unterschiedliche Rollen einnehmen – im Prozess, in der jeweiligen Situation und/oder bezogen auf den spezifischen Auftrag. Er kann Sparringspartner, Spiegel, wohlwollender Begleiter etc. sein. Zwei Merkmale zeichnen ihn jedoch aus: Einerseits ist ein personenbezogen arbeitender Coach mit Ambiguitätstoleranz vertraut. Er kann also Prozesse und Spannungen in der Schwebe halten, ohne vorschnell nach einer Lösung zu suchen. Andererseits ist er resonanzfähig. Er kann sich und sein Erleben, seine Wahrnehmung und seine Art, Erfahrungen zu machen, als Echo erleben und werten, um gerade dies – ähnlich wie bei der Gegenübertragung in der Psychotherapie – als ein hilfreiches und relevantes diagnostisches und indikatorisches Mittel zu nutzen.