„Beraten heißt gemeinsam eine Erzählung erfinden, die für beide Beteiligten Sinn macht!“ – Mit dieser Definition lenken Bernd Schmid und Stefan Wahlich (2002) die Aufmerksamkeit auf einen gleichermaßen unscheinbaren und bedeutsamen Aspekt von Beratungspraxis: In der Begegnung von Berater bzw. Beraterin und Klient bzw. Klientin entsteht ein ko-kreativer Prozess. Ebenso trivial kann der Umstand erscheinen, dass in Beratung, Coaching und Supervision die Sprache eine bedeutende Rolle spielt. Welch transformative Kraft eine – im Falle gelingender Beratung – gemeinsam geschaffene Praxis des Sprechens und Erzählens hat, zeigt Klaus Obermeyer (Diplom-Psychologe, Supervisor, Coach und Mediator) in seinem Buch auf eindrucksvolle Weise.
Das Buch „Arbeitsgeschichten – Narrative Zugänge in Beratung, Coaching und Supervision“ beginnt mit dem Satz: „An der Quelle von Beratungsprozessen stehen Erzählungen“ (S. 11). Diese Metapher regt die Überlegung an, dass der Fluss, der aus der Quelle entspringt, sinnbildlich für den sich nach und nach entfaltenden Prozess des Erzählens stehen kann. Auch dabei ist mit unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten, Untiefen und sogar Strudeln zu rechnen. Obermeyer stellt zu Beginn fest, „dass Probleme […] unter anderem dadurch ins Bewusstsein [treten], dass unser Erzählfluss stockt“ (S. 11). Diese in der Sprachpraxis beobachtbare Hemmung „korrespondiert in aller Regel mit einer Unterbrechung des Handlungsflusses“ (S. 12). Und hier liegt zugleich eine bedeutsame Ressource: „Sobald eine Erzählung über die krisenhafte, unaufgelöste Situation entsteht, die einen stimmigen Ausgang verheißt, steigen die Chancen für neue Handlungsfähigkeit“ (S. 12).
Mit dieser grundlegenden Rahmung im ersten Kapitel lädt der Autor in den folgenden Kapiteln dazu ein, die „eindrucksvolle Kraft der Worte“ (S. 13) aus unterschiedlichen Perspektiven und Begründungslinien zu erkunden. So stehen im zweiten Kapitel die „Baustoffe von Erzählungen“ im Zentrum. Der Autor beschreibt die Funktionen von Sprache und „die allgemeinen Strukturelemente, die einen Text zu einer Erzählung machen“ (S. 22). Exemplarisch für die vielen Impulse, die das Buch v.a. auch für die Reflexion des eigenen Beratungshandelns bietet, greife ich hier seinen Hinweis zum „Zauber der Unmittelbarkeit der gesprochenen Worte und Erzählungen“ auf, der für ihn darin besteht, „dass wir […] nicht zwangsläufig interpretieren [müssen], um die Wirkkraft und das Veränderungspotenzial von Erzählungen zu erschließen. Auch das Wirkenlassen, das Assoziieren und fiktionale Weitererzählen erschließen einen Kosmos von Bedeutungen und Entwicklungen“ (33).
Das dritte Kapitel widmet sich der Bedeutsamkeit von Metaphern und das vierte Kapitel thematisiert die Relation von Sprache und Körper, bevor es im fünften Kapitel um die narrative Organisationstheorie geht, deren Grundannahme lautet, dass „Organisationen als Sammlung von Geschichten aufzufassen“ (S. 60) sind. Im sechsten Kapitel folgt dann mit den Plotstrukturen („Archetypische Erzählmuster über Arbeitserfahrungen“) die „nächste diagnostische Perspektive und potenzielle narrative Interventionsrichtung“ (S. 72). Kapitel sieben nimmt die „Ästhetik als Gütekriterium von Beratung“ in den Blick und betont dort den „Aspekt der Stimmigkeit“ (S. 83). Im achten Kapitel steht dann das Phänomen der „Vielstimmigkeit der Erzählsituation“ (S. 93) im Fokus, bevor schließlich in Kapitel neun das „Beratungssystem als poetische Werkstatt“ (S. 104) charakterisiert wird, in der „die Beteiligten um eine Beschreibung der Verhältnisse ringen, die allen ausreichend stimmig erscheint“ (S. 105). Diese poetische Praxis bedarf einer „narrativen Kompetenz“, die der Autor differenziert beschreibt und die dazu beiträgt, „den erzählerischen Möglichkeitsraum so weit wie möglich aufzuspannen und eine gedeihliche Neuerzählung zu ermöglichen“ (S. 106).
Besonders hervorzuheben ist die durchgängige Praxisorientierung. Die vielfältigen theoretischen Bezüge sind – v.a. auch aufgrund des durchgängigen Fallbeispiels – systematisch mit Aspekten konkreter Beratungspraxis und -haltung verzahnt.
Fazit: Mit seinem Buch regt Klaus Obermeyer dazu an, aus dem Fluss der alltäglichen Erzählungen und Geschichten herauszusteigen, mit reflexiver Distanz die eigene Beobachtungs- und Erzählpraxis in Augenschein zu nehmen und das transformative Potenzial des so selbstverständlichen Mediums Sprache neu zu entdecken.
Andreas Broszio