Heute ist alles agil, so hört man sagen. Wenn jemand Beratung, Organisationsentwicklung oder Coaching heutzutage in der Wirtschaft verkaufen will, muss er es agil nennen. Judith Andresen, die bereits ein Buch über die „Retrospektiven in agilen Prozessen“ geschrieben hat, legt ein umfassendes Werk zum Thema „Agiles Coaching“ vor. In 16 Kapiteln führt sie den Leser vom „Digitalen Transformieren“ über die Haltung des agilen Coachs, Interventionen und Nutzung von Modellen bis hin zu „typischen Stolperfallen“ des Coachings.
Zunächst führt die Autorin in ihr Verständnis von Agilität ein, wobei die digitale Transformation, die „agile Transition“, wie sie den Übergang nennt, und der agile Coach aufs engste zusammenhängen. „Agile Coaches unterstützen Teams, Organisationen und Individuen in ihrer Veränderung im Sinne des agilen Manifests. Sie nutzen dafür Coaching, Training und Sekundärberatung.“ (S. 16) Andresen bezieht sich auf das „agile Manifest“, das 2001 von 17 Softwareentwicklern formulierte wurde und die stärkere Betonung eines lernenden und experimentierenden Vorgehens fordert. Die folgenden Einführungen von agilen Projektmethoden, Scrum, Retrospektiven etc. sind heute in der Softwarebranche hinlänglich bekannt und etabliert.
Anschließend stellt die Autorin ihren Coaching-Ansatz vor. Interessant ist eine kleine Trias der Haltung, die sie dem agilen Coach empfiehlt: empathisch, dissoziiert zum System und distanziert zur Sache. Sie verwendet dabei einen transferierten Dissoziationsbegriff, wie er manchmal in der hypnosystemischen Konzeption im Gegensatz zu Assoziation mehr im Sinne von identifizieren und nicht identifizieren mit gemeint ist. Diesen bezieht sie auf das System, mit dem man als Coach arbeitet, und meint damit eine Art inneres Fernhalten vom System. Ähnliches empfiehlt sie auch für den Sachzusammenhang. Hier gelte es ebenso Distanziertheit zu wahren, um nicht zum Fachberater zu werden. Diese Ansätze sind im Coaching nicht neu. Aber Andresen hat besonders die Scrum-Master im Blick, in deren Rolle der agile Coach in seiner Arbeit mit Softwarefirmen leicht geraten kann. Die Verführung liege in der „gefühlten Wirksamkeit“ (S. 363), wenn man die Dissoziiertheit nicht wahrt.
Folgend enthält das Buch sehr viel Vertrautes zum Thema Coaching, was man auch in anderen, vor allem systemisch orientierten Coaching-Ansätzen beschrieben findet, wie z.B. die Wirklichkeitsbegegnung von Bernd Schmid. Die Autorin erschließt die Vorgehensweisen des Coachs und orientiert sich dabei an der Landkarte des „Situativen Führens“ von Blanchard und Hersey. Diese hatten vier Reifegrade von Mitarbeitern unterschieden und daraus unterschiedliche Handlungsweisen der Führungskraft abgeleitet. An dieser Stelle wird auch deutlich, was mit Sekundärberatung gemeint ist: „Sekundärberatung weist mögliche Lösungsoptionen für die Coaches auf. Das Einpassen in das System und die Ausarbeitung der konkreten Lösung liegen bei den Coachees.“ (S. 81)
So werden Teams etwa auch in agilen Reifegraden (AR-D bis AR-A) unterschieden, von anfänglicher Teamorientierung bis hin zur ganzen Organisation, die nach agilen Prinzipien arbeitet. Dies wird sehr detailliert dargelegt, wobei man manche Formulierung zweimal lesen muss, wie z.B.: „Mit dem zweiten agilen Reifegrad AR-C beginnt die Öffnung der häufig noch monodisziplinären Teams zu einem crossfunktionalen Arbeiten.“ (S. 98) Aber es werden gute Anhaltspunkte für Entwicklungsstufen geliefert.
Ein wichtiges Element, das Andresen dem agilen Coach vorschlägt, ist der so genannte PDCA-Zyklus (Plan-Do-Check-Act). Nach dem Planen eines kleinen Schrittes folgt ein Ausprobieren (Just do it!), Messen und Prüfen und schließlich Standardisieren, Wegwerfen oder Ausrollen. Die darauf aufbauende Coaching-Sitzung folgt dann dem gewohnten Standard.
Ab Kapitel neun beginnt quasi ein zweites Buch. Andresen beschreibt Auftragsklärung, Ergebnisse sichern mit Visualisierung und Modell basiert intervenieren. Zur Gesprächsanalyse empfiehlt sie Transaktionsanalyse. Dazu stellt sie kurz eine eigene Version des Ichzustandsmodells in den Eltern-, Erwachsenen- und Kind-Ich dar. Formulierungen wie „Das Kind-Ich ist emotional, IST-bezogen und bezieht sich stark auf den Moment“ (S. 225) sind eine etwas eigenwillige Interpretation des Modells. Ähnlich stellt sie das Modell des Dramadreiecks dar, ohne den Autor Steve Karpman zu nennen. Auch die psychoanalytischen Konzepte der Übertragung, Gegenübertragung und Projektion werden durchaus schlüssig, aber ohne Literaturbezug vorgestellt. Dagegen werden die Teamphasen auf Tuckman zurückgeführt und auch das Gruppenmodell von Schindler vorgestellt. In diesem Zuge werden weitere bekannte Modelle kompakt beschrieben. Zum Abschluss des Buches kommen noch einmal „Bewährte Impulse“ und “Stolperfallen“ mit Vertiefung von bekannten Aspekten.
Fazit: Insgesamt scheint sich agiles Coaching vom systemischen Coaching nur durch die Vertrautheit mit den Begriffen, die in der Softwarebranche zu Agilität entwickelt wurden, zu unterscheiden. Der erfahrene systemische Coach findet sich auch im agilen Coaching wieder. Das Buch enthält ungeheuer viele Aspekte, die interessante Einblicke geben. Positiv hervorzuheben sind außerdem die vielen Beispiele und Praxisbezüge ebenso wie die gelungene Visualisierung der vorgestellten Modelle.