Das war eine passive Wahl: Medizin schloss ich aufgrund der Naturwissenschaft aus. Theologie, da fand ich das Zölibat nicht allzu verlockend. Einen Lehrberuf wollte ich nicht, da mein Vater Direktor eines Gymnasiums war und ich zu sehr voreingenommen war. Ich wollte mit Menschen arbeiten und als Rechtsanwalt erschien mir das eine gute Möglichkeit. Nach fünf Semestern Jura-Studium riet mir mein Vater, ein Auslandssemester zu machen. Also ging ich nach Wien und bin dort auf die Spuren von Sigmund Freud gestoßen, wodurch mein Interesse für die Psychoanalyse und Psychologie richtig geweckt wurde und ich die juristischen Vorlesungen zugunsten der psychologischen aufgegeben habe. So durfte ich in Wien Persönlichkeiten wie z.B. Viktor Frankl in klassischen Vorlesungssälen zuhören, konnte mich in jener Klinik bewegen, in der die Psychoanalyse entwickelt wurde. Das hat mich sehr beeindruckt. Als ich nach Deutschland zurückgekommen bin, habe ich Jura noch mit dem ersten Staatsexamen abgeschlossen und mich daran gemacht, ein Zweitstudium aufzunehmen: Psychologie konnte ich wegen des hohen Numerus Clausus nicht machen, weshalb die Sozialwissenschaft übrig blieb. Allerdings bin ich an die Universität Bochum gegangen, die damals als einzige in der Republik die Möglichkeit bot, sich die Fächer selbst zusammenzusuchen. Ich studierte so Psychologie, Sozialpsychologie, Sozialmedizin und klinische Psychologie – das war einfach wundervoll.
Dafür müsste ich einen Zwischenschritt einfügen. An der Uni haben wir uns mit sozialpsychologischen Fragen beschäftigt. Ein Aufhänger war damals das erste Buch des Club of Rome, „Grenzen des Wachstums“. Wir haben uns auf dessen zwei zentrale Fragen konzentriert, nämlich erstens, warum handeln wir Menschen nicht nach dem Wissen, das wir haben? Und zweitens, wie können wir ein Wissen generieren, das wirklich praktisch nutzbar und kein Depotwissen ist, das man archiviert und nach zwanzig Jahren verwundert ausgräbt? Unter Berücksichtigung dieser Gedanken haben wir Konferenzsysteme entwickelt, um mit Großgruppen zu arbeiten, deren Mitglieder einen ganz unterschiedlichen Hintergrund mit verschiedenen Lebensentwürfen und beruflichen Orientierungen hatten: Wie kann man mit 600 Menschen überhaupt arbeiten bzw. so arbeiten, dass alle etwas davon haben und sich damit identifizieren können? Später nannte man ein solches Herangehen „systemisch“. Nachdem ich einige Jahre so gearbeitet hatte, merkte ich, dass ich zusätzlich Interesse an der Mikrokommunikation hatte, sprich an jenen Interventionen in deutlich kleinerem Rahmen wie Einzelsettings. Etwa zur gleichen Zeit habe ich während einer Fortbildung die Methoden einer körperbezogenen humanistischen Psychologie kennengelernt. Das hat mich sofort begeistert und ich wusste, das ist es! Also habe ich eine Therapieausbildung im Bereich Gestaltpsychotherapie gemacht sowie eine in Bioenergetischer Analyse.
Nach dem Studium, Mitte der 70er Jahre, baute ich eine psychotherapeutische Praxis in Bochum auf. Kurz darauf bin ich durch meinen sehr guten Freund und Kollegen Wolfgang Looss auf den Begriff „Coaching“ gestoßen. Wir haben sehr viel darüber gesprochen und uns – natürlich jeder für sich in seinem Praxisfeld – so etwas erarbeitet, was es in diesem Kontext noch nicht gab. Das Erarbeitete habe ich als eine fruchtbare Erweiterung in meine Praxis übernommen und einen Teil meiner Arbeit unter dem Label Coaching angeboten. Später wurde ich eingeladen, im Rahmen von Coaching-Ausbildungen mitzuwirken. In diesem Zusammenhang bin ich auch Staff-Mitglied von TRIAS geworden, einer Organisation, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit Anfang der 80er Jahre Weiterbildung im Bereich Organisationsentwicklung, Supervision und vor allen Dingen Coaching entwickelt hat und anbietet.
Wolfgang meinte damals zu mir, ich müsse in dem Feld, in dem ich unterwegs sei, präsent und sichtbar sein und ich müsse genügend Zeit und Raum zur Verfügung stellen, das also nicht nebenbei machen. Ich war damals vermehrt im Bereich Psychotherapie, insbesondere Körperpsychotherapie tätig, meine Praxis war voll. Also habe ich mich Anfang der 80er nur etwas aus dem therapeutischen Fenster gelehnt und angefangen, abseits der Kassen- und Privatpatienten, im Businessbereich nach Klienten zu suchen. Mein erster Auftrag kam von Bayer, da ging es um „Schnitzelthemen“ wie z.B. Stressmanagement und Gesundheit – das war schon damals ein Thema! Das hat sehr gut funktioniert, der Rest lief per Mundpropaganda. Der „Durchbruch“ war aber sicherlich mein Auftrag vom WDR, Mitte der 80er. Dort gab es in der technischen Direktion große Probleme. Zufälligerweise besuchte der damalige technische Direktor eines meiner Seminare und gewann offenbar den Eindruck, mein damaliger Kollege und ich hätten einen guten Zugang zu Menschen und zum Zwischenmenschlichen in Organisationen, weshalb er uns bat, mal vorbeizuschauen. Wir starteten ein Projekt, in dem wir die dortigen Projektabläufe anhand unserer Methoden, die wir an der Universität Bochum entwickelt hatten, um mit großen Systemen zu arbeiten, untersuchten. Wir hatten es hier mit einem riesigen Bereich zu tun, mit deutlich über tausend Mitarbeitern. Um mit möglichst wenig Aufwand herauszubekommen, was in welchen Bereichen vor sich ging, haben wir Spiegelungsgruppen und ein bestimmtes Konferenzsystem dieser Gruppen entwickelt. Hierdurch konnte die technische Direktion ihren Bereich genau und vertieft verstehen und mit unserer Unterstützung daraus Wissen ableiten und konkrete Handlungen entwickeln. Ich glaube, wir haben einen ganz guten Job gemacht, zumal dieser Auftrag sich als sehr gutes Referenzprojekt erwies. Die Folgeaufträge kamen von nun an verstärkt aus dem Businessbereich, weshalb ich mich auch in diesem Bereich verankert habe.
Ich fürchte, auch hier muss ich etwas ausholen. Coaching ist in meinem Verständnis ein Zusammenspiel zwischen dem „Jobmenschen“, also der Rolle mit deren Funktionen, und dem „Menschmenschen“, also der Person an sich. Hier spielt der Mensch mit seiner Persönlichkeit, seiner Wirkung aber natürlich auch mit seinen Verhaltensmustern eine außerordentliche Rolle. Ein Beispiel: Wenn Sie für eine bestimmte Aufgabe Mitarbeiter suchen und drei Teamleiter mit der gleichen Kompetenz, Erfahrung und Qualifikation haben, wonach wählen Sie dann jemanden aus? Sie schauen, wer von seinen persönlichen Verhaltensmustern eher in der Lage ist, diesen Job zu machen. Hierbei kommen Person und Verhaltensmuster zum Tragen. Jetzt schlage ich die Brücke zur Biogenetischen Analyse: Sie ist ein Reich‘sches Verfahren, ein psychoanalytisches Verfahren, obwohl sie mittlerweile weiterentwickelt wurde und nun eher als ein humanistisch-psychologisches Verfahren zu verstehen ist. Man bezieht einerseits den Körper in die Betrachtung des Menschen ein: Wie ist ein Mensch, wie gestaltet er sein Leben – und das klar unter dem Blick auf den Körper. Andererseits schaut man auf das Gewordensein im Leben: Wie drückt sich das in bestimmten Verhaltens- und Erlebensmustern aus? Jeder hat so etwas, nur kommt es unter Belastung, Stress oder Krankheit oder auch im Zustand des Verliebtseins besonders deutlich zum Tragen. Der Körper spielt natürlich eine ganz besondere Rolle dabei.
Ja, so kann man es ganz platt und populär sagen. Es gab da eine US-Fernsehserie, „Lie to Me“. Ein Psychologe wird immer dann geholt, wenn es darum geht, etwas, was man nicht verstehen kann, besser zu verstehen bzw. zu prüfen, ob die Aussage von Mister Smith stimmt, oder ob er Mister Brown nicht doch gemordet hat. Der Psychologe hat dafür die Menschen in bestimmten Situationen, z.B. wenn er mit ihnen geredet oder sie beobachtet hat, unter Stress gesetzt. So konnte er – und das ist keine Esoterik, sondern schlicht Psychologie – schauen, wie sie reagieren, welche stressbedingten Verhaltensmuster sie zeigen. Mit Hilfe dieses Wissens stellt er nun dem Verdächtigen die für das Verbrechen relevanten Fragen oder konfrontiert ihn irgendwie damit usw. und kann abgleichen, ob ihr Verhalten den entdeckten Mustern entspricht, also ob die Person „authentisch“ reagiert, oder ob es Irritationen und Brüche gibt. Dadurch entdeckt man in der Realität nicht die Wahrheit, aber man erkennt Handlungen, die identisch sind mit der Person ober eben nicht.
Um 2000 sollte Christoph Daum Bundestrainer werden, nur stolperte er über seinen Kokainkonsum. Einige Zeit später hat er seinen Konsum eingeräumt und eine Pressekonferenz in Bonn gegeben, die alle Medien angezogen hat, weil die wissen wollten, ob er immer noch Kokain nimmt. Mit dieser Frage kam auch die Fernsehsendung Monitor auf mich zu. Ich habe natürlich klargestellt, dass ich keine Wahrheitsaussage darüber machen könne, ob er lügt oder nicht, aber ich könne mir das mal ansehen und nach etwas Zeit meine Beobachtungen mitteilen. Meine Beobachtung war: Daum hatte bei der Konferenz ziemlich weitaufgerissene Augen, die typisch sind für Kokainkonsumenten – ich habe während des Studiums einige Zeit in der Drogentherapie gearbeitet. Viele haben deshalb geschlussfolgert, dass er weiterhin Kokain nimmt, obwohl er es abstreitet. In den ersten zehn Minuten der Konferenz bekam ich allerdings den Eindruck, diese weitaufgerissenen Augen dürften eher ein Verhaltensmuster sein, eines, das durch den Stress der Pressekonferenz aktiviert und sehr deutlich sichtbar wird. Als wir kurz davor waren, mit der Produktion der Monitorsendung anzufangen, sprach ich zufällig mit jemandem von der Sportschau, der Christoph Daum seit den 70ern kannte. Er meinte, klar, der habe immer mit den Augen so reagiert, wenn es kritisch wurde.
In diesem Fall kann man also nicht sagen, dass die aufgerissenen Augen Indiz einer Lüge bzw. Hinweis auf Kokainkonsum sind, weil es eben auch ein angeeignetes Verhaltensmuster sein kann. Treffender erschien, dass er in der Pressekonferenz authentisch mit seinem Verhaltensmuster reagierte.
Nun kann man dieses Prinzip auf die Praxis im Coaching oder Unternehmen übertragen: Ist eine Person aufgrund ihrer speziellen Verhaltensmuster für einen bestimmten Job geeignet? Wie wird sie unter Belastung reagieren? Wie kann eine Person mit bestimmten Verhaltensmustern umgehen? Wie kann sie in sich und mit sich stimmig sein bzw. bleiben und sich gleichzeitig auf die jeweilige Situation adäquat einstellen?
Unbedingt. Ich coache Politiker im Wahlkampf, auf Bundes- und Landesebene. Zentrale Punkte sind dabei Verhaltensmuster unter Stress, aber auch die Medieninszenierung der Person, die Notwendigkeit, die politischen Kernaussagen zu vermitteln, sowie die Analyse der Kontrahenten. Das alles kommunikationsstrategisch unter einen Hut zu bekommen, ist oft nicht ganz einfach. Ein gutes Beispiel ist hier ein Wahlkampf, bei dem das Thema Erziehung und Kindergarten eine zentrale Rolle gespielt hat, weshalb man auf die Idee kam, den Spitzenkandidaten auf einem Bobbycar sitzend zu plakatieren. Den nonverbalen Ausdruck des Kandidaten auf dem Plakat konnte jeder unschwer erkennen: Er fühlte sich überhaupt nicht wohl. Vom Verhaltensmuster her war er ein sehr distinguierter, zurückgenommener Experte, eher kein menschennaher Politiker – obwohl er sehr gut mit Menschen umgehen konnte. Nun sieht der Wähler natürlich, dass der Politiker eine negative Emotion ausstrahlt, sich nicht wohlfühlt in seiner Haut, aber er erkennt nicht unbedingt, dass es am Bobbycar liegt, sondern verbindet das Unwohlsein mit der politischen Aussage oder angestrebten Rolle. Eine solche negative Besetzung ist natürlich fatal bei einer Wahl. Denn Menschen sehen Politiker und ziehen ihre eigenen, sehr spezifischen Schlüsse.
So wurde ich einmal bei einer Familienfeier von einer älteren Dame auf Joschka Fischer angesprochen – ich hatte kurz davor in einer Fernsehsendung über ihn gesprochen. Sie meinte, sie hätte ein sehr klares Bild von ihm, weil er immer seine Stirn kraus ziehe und die Augen so weit aufreiße. Dem gehe es doch nicht gut, er brauche eine Brille! Augenaufreißen, gekräuselte Stirn aufgrund von Anstrengung verband sie schlicht mit Augenproblemen. Menschen, sprich Wähler, schauen ganz genau hin! Zwar sind die Ergebnisse der Deutungen nicht unbedingt korrekt, nur ist das irrelevant, weil es um die emotionale Verbindung geht, um das „Andocken“ bei den Menschen – das ist Aufgabe des Politikers im Wahlkampf.
Definitiv, denn meist können Populismus und das Postfaktische auf nichts außer Emotionen aufbauen. Ein gutes, negatives Beispiel hierfür ist Jörg Haider, einer der ersten sehr erfolgreichen Rechtspopulisten Europas, sehr sportlich, braungebrannt, attraktiv. Untersuchungen haben ergeben, dass selbst Wählergruppen in Österreich, die für das rechte Gedankengut überhaupt nicht empfänglich waren, qua Projektion und Identifikation mit ihm, ihn gewählt haben, sich also rein über die emotionale Schiene und nicht aufgrund von politischen Aussagen entschieden haben. Ähnlich ist es bei der Wahl von Trump zum US-Präsidenten gewesen, denn ihn haben auch erstaunlich viele intellektuelle und reiche Amerikaner gewählt. Das alles passt nicht in das klassische Modell rein, beachtet man, wie diese Politiker rumpoltern, ganz offensichtlich lügen und sich ständig widersprechen. Vielleicht werden Politiker durch den Wahlerfolg von Trump endlich wach und merken, dass es auch in der Politik um den Menschen, um den Politiker als Person und Emotionalität geht.
Erstens mache ich eine Analyse der medialen Inszenierung und der Verhaltensmuster des Klienten/Kandidaten und des Kontrahenten. Mit diesen Erkenntnissen setze ich mich mit dem Wahlkampfteam zusammen und wir schauen, welche Schlussfolgerungen wir daraus für die Kommunikationsstrategie ziehen können. Zweitens geht es darum, den Klienten auf die direkte Konfrontation mit dem Kontrahenten vorzubereiten, z.B. im TV-Duell. Hier arbeite ich natürlich mit dem Klienten unter vier Augen, doch werden die Schlussfolgerungen mit dem Wahlkampfteam, dem persönlichen Referenten und der PR-Abteilung eng abgestimmt, denn die müssen für die Umsetzung sorgen und darauf achten, dass z.B. so etwas wie mit dem Bobbycar nicht passiert.
Ich habe einmal einen bis dato sehr unbekannten Politiker im Wahlkampf auf Landesebene unterstützt, es ging um ein TV-Duell. Der Mann war sehr zurückgezogen und zurückgenommen, aber ein Politiker, der sein Handwerk sehr gut beherrscht, weshalb er innerhalb seiner Partei auf große Akzeptanz stieß. Sein Wahlkampfteam sagte ihm, er müsse seinen Kontrahenten endlich „an die Wand nageln“, ihm richtig Dampf machen. Allerdings ahnte ich aufgrund seiner Verhaltensmuster, dass das jemand ist, der genau das nicht kann oder will – unter vier Augen bestätigte er, dass er das auf gar keinen Fall tun werde. Ich erinnerte ihn an die Möglichkeit, seine Kandidatur nun zurückzuziehen, wenn er den von Partei und Team geforderten Job nicht erledigen könne. Das wollte er natürlich nicht, er wollte als Spitzenkandidat gewinnen, ohne ihn an die Wand zu nageln.
Genau. Wie kann man also gewinnen, ohne den Gegner an die Wand zu nageln? Wie kann man den Rollenauftrag und die eigene Lebensauffassung in Einklang bringen? In der Regel mache ich zuerst eine Medienanalyse und schaue mir an, welche öffentlich inszenierten Bilder es von der Person gibt und welche Schlussfolgerungen ich hierüber zu seinen Verhaltensmustern erhalte. Im ausführlichen Vier-Augen-Gespräch erzählt der Klient von sich, seinem Leben, seinen Hobbys usw., woraus ich einen zweiten, anderen Blick auf seine Verhaltensmuster erhalte. Die beiden Verhaltensmuster bzw. Medienbilder und die Person werden nun gegenübergestellt, Differenzen, Brüche usw. aufgezeigt.
Um in diesem Fall dem Einklang zwischen Rollenerwartung und Person näherzukommen, habe ich ein spezifisches Instrument entwickelt: Wir nehmen drei kurze Videosequenzen auf. In der ersten stellt sich der Klient vor die Kamera und erzählt locker, wer und wie er ist. Das klappt in der Regel gut. In der zweiten Sequenz soll er die gleiche Aufgabe erfüllen, aber in deutlich übertriebener Form, also viel aggressiver, angriffslustiger oder überschwänglicher. Das erhöht oftmals den Stressfaktor. In der dritten Sequenz macht er nochmal das Gleiche, nun aber nonverbal. Es ist immer wieder interessant, wie sehr das die Leute unter Stress setzt. Aber so werden die Verhaltensmuster sehr schnell sehr deutlich. Vielleicht erinnern Sie sich an das, was ich über die Fernsehserie „Lie to Me“ gesagt habe. Als nun der Politiker die übertriebene Version anschaute, meinte er, dass es gar nicht so schlecht sei, was er da gemacht habe. Das war nun sein Zugang zur Ebene des Erlebens, auf der er erkannte, dass er etwas wie „jemanden an die Wand nageln“ wirklich tun konnte, ohne hierbei jedoch allzu aggressiv vorgehen zu müssen. Das konnten wir dann durch Rollenspiele vor der Kamera ausbauen.
Sehr wichtig ist, dass das nicht mit einem Kameratraining zu verwechseln ist, das machen andere viel besser als ich. Es geht darum, dass der Klient überlegt und für sich entscheidet, wie er sein Erleben, seine Verhaltensmuster und die von ihm erwartete Rolle zusammenbekommt. Das muss von ihm selbst kommen, sonst passt es nicht.
Ich würde hier eher von Inszenierung von Authentizität sprechen, denn es geht in erster Linie eben darum: Inszenierung. Ein gutes Beispiel hierfür ist Edmund Stoiber, als er 2002 Bundeskanzler werden wollte. Monate vor der Bundestagswahl war er bei Sabine Christiansen in der Sendung am Sonntagabend und hatte sehr oft sein legendäres „äh“ gesagt. Als das TV-Duell anstand, wollten viele Medien und noch mehr Zuschauer mitzählen, wie viele Male er sein „äh“ von sich gibt. Doch zu aller Überraschung kam ihm der Laut, im Vergleich zu seinen üblichen Auftritten, so gut wie nie über die Lippen. Ich bin sicher, ein Trainer hat ihm geholfen, sein „äh“ zu unterdrücken, was bei einem solchen Polit-Profi definitiv möglich ist. Nur hat er so etwas Unverkennbares, etwas sehr Eigenes und auch Schräges verloren. Er war für das Publikum nicht er selbst, seine Inszenierung war nicht authentisch, sein Verhaltensmuster und sein Selbstausdruck haben sich nicht gedeckt. Stoiber sagt „äh“, Stoiber ohne „äh“ irritiert und wird vergessen. Stoiber in seiner Rolle hat es gut gemacht, aber als Mensch hatte er seine persönliche Note verloren, sein persönliches Erkennungsmerkmal.
… die weiterhin eine wichtige Rolle spielen, trotz des „Postfaktischen“. Argumente und Themen können belegen und begründen, aber nicht überzeugen. Sie werden von Menschen verkörpert und vorgetragen, Menschen fechten die Debatten aus – überzeugen tue ich als Mensch.
Das stimmt und ich finde es so interessant, dass ich inzwischen eine kleine ethnologische Untersuchung begonnen habe, die Grundlage für mein kommendes Buch mit dem Arbeitstitel „Ein Körperpsychotherapeut geht nach China und schaut sich chinesische Körper an“ ist. Ich schaue dabei, wie sich Menschen bewegen, wie ihre Stimmlage und Lautstärke ist, wie sie sich nonverbal aufeinander im Alltag beziehen. Es ist ungemein faszinierend, durch chinesische Städte zu spazieren und festzustellen, wie unterschiedlich die Menschen sein können. Die größte Schwierigkeit hierbei ist aber, die Dinge hinter sich zu lassen, die einem vertraut sind, denn nur so schafft man es, einen neuen Kulturkreis kennenzulernen und zu verinnerlichen. Das gleiche Prinzip muss man aber auch anwenden, wenn man z.B. in eine neue Firma kommt und deren Kultur kennenlernen will, wenn man einen Erfahrungsprozess einleiten will. Inzwischen ahne ich zu begreifen, was Sokrates mit dem Satz meinte: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“.
In China gibt es in der Regel einen Raum mit festen Bedingungen und Strukturen, in dem die Leute ihre Erfahrungen machen. Der Erfahrungsprozess betrifft dabei aber nur die Person, er berührt und verändert in der Regel nicht den Raum oder den Rahmen. Hierzulande dagegen können aus dem Erfahrungsprozess unter Umständen Erkenntnisse gezogen werden, die auch verändernd auf Rahmenbedingungen und Strukturen einwirken. In China ist ein solches Vorgehen traditionell nicht gegeben, denn seit vielen Jahrhunderten gilt, dass ein Lehrmeister eine Weisheit oder Erkenntnis vorgibt, an der der Schüler durch Übung wachsen und die übermittelten Werte umsetzen kann – schon bei Konfuzius erkennt man diese Tradition. Man arbeitet aber eben nicht an der Weisheit selbst.
Genau so sieht es traditionell aus: Der Lehrer sagt was, der Student hört zu, schreibt auf und erfüllt das Vermittelte. Die Chinesen haben aber natürlich mitbekommen, dass es im Westen etwas anders läuft und sind sehr neugierig und wissbegierig. Nun arbeite ich im Rahmen von Weiterbildung in Körperpsychotherapie aktiv körperbezogen. Die chinesischen Teilnehmer arbeiten gut mit und schreiben fleißig alles auf. Irgendwann gehen wir aber in einen anderen Bereich des Raumes, wo es weder Stühle noch Tische gibt, sondern wir durcheinander auf dem Boden sitzen. Man könnte jetzt meinen – und ich bin anfangs natürlich auch davon ausgegangen –, dass sich die Dinge nun aufgrund der Gruppendynamik so entwickeln würden, wie ich es aus Deutschland gewohnt war: Einer spricht, der andere wendet sich irgendwo hin, es bilden sich Kleingruppen usw. Aber nichts davon! Die warten still und reglos, bis ich wieder etwas sage. Ihr Verhalten folgt weiterhin dem alten Modell, obwohl die hierarchische Struktur in Form einer neuen Sitzordnung durchbrochen ist. So lief mein erster Workshop in China tatsächlich ab: Die Teilnehmer konnten mir zwar verbal folgen, aber im Punkt des Erlebens und Verhaltens hat ihre „chinesische Seele“ wohl irritiert gesagt: „Was macht der da?“ Diese Veranstaltung habe ich in den Sand gesetzt, weil ich sie so durchgeführt habe, wie ich es in Deutschland getan hätte – und das funktioniert nicht.
Im Laufe der Jahre habe ich natürlich meine Erfahrungen gesammelt und inzwischen gehe ich anders vor. Wenn wir alle auf dem Boden sitzen und ich im Gruppenprozess mit der Dynamik in der Gruppe arbeiten will, dann stehe ich auf, gehe umher. So gehe ich vielleicht zwei Schritte auf jemanden zu, der eine Frage hat, und beantworte sie. Wir reden dann zwei, drei Sätze und ich merke, dass jemand anderes sich bewegt, lächelt oder etwas aufschreibt, also irgendwie reagiert. Also drehe ich mich zu demjenigen um, sehe ihn an, um dann wieder mit der vorigen Person zu reden. Der angeschaute ist unter Umständen ganz erstaunt, dass ich ihn plötzlich angucke, er reagiert auf unsere nonverbale Beziehungsaufnahme. Wenn ich mich dann weiter im Raum bewege und mich jemand anderem zuwende, sodass ich den ursprünglichen Fragesteller nicht mehr im Blick habe, reagiert dieser plötzlich und setzt sich z.B. anders hin, atmet lauter oder ähnliches. So entsteht ganz langsam eine nonverbale Dynamik in der Gruppe, auf die ich reagiere. So packe ich sie allmählich an ihrem Erleben, ohne verbale Aufforderung, ohne die Ebene der Sprache, weil diese Ebene nur im bekannten chinesischen Modell funktioniert: Bei sprachlicher Nachfrage, ob alles passt, halten sie den Mund, denn sie meinen, es gehe ihnen ja gut. Bei nochmaliger Nachfrage sagen sie das gleiche und ich stehe mit leeren Händen da. Über die körperlich hineingebrachte Dynamik bringe ich aber in jeden Bewegung hinein, sie lockern sich, es entsteht ein Klima in der Gruppe, das mir ermöglicht, mit ihnen körperbezogen zu arbeiten.
Ja natürlich. In einem normalen Raum sitze ich schließlich fünf oder sechs Meter entfernt, das ist für die unverfänglich, drückt die respektierte Distanz zwischen Lehrer und Schüler aus. Wenn ich aber plötzlich rumlaufe und einen knappen Meter vor jemandem stehe, dann hat sich die Situation geändert und er kann nicht anders, als zu reagieren. Woraufhin ich das aufnehme und das anspreche: „Ach, du hast dich jetzt anders hingesetzt, was ist denn los?“ Und dann reden die auch. Ich spiele also etwas mit der hergebrachten Struktur, irritiere sie und wechsle sachte die hierarchisierte, strukturierte Beziehungsebene hin zu einer persönlichen Ebene, wobei der Verbleib auf der Beziehungsebene wichtig ist, denn das ist ein Terrain, wo Chinesen traditionell zu Hause sind.
Da gab es mal den Fall eines Joint Ventures zwischen einem deutschen und einem sehr alten, traditionell sehr verankerten chinesischen Unternehmen. Die Deutschen wollten nun im Management eine gemeinsame, übergreifende Fehlerkultur einrichten, doch sind wir auf riesige Widerstände gestoßen, wobei wir die heftige Reaktion der Chinesen so gar nicht verstehen und nachvollziehen konnten. Denn Fehlerkultur, wie wir sie verstehen, setzt voraus, dass man über Fehler spricht und Definitionen und Rahmenbedingungen festlegt: Man kann einen Fehler zweimal, aber nicht dreimal machen. Ein Fehler kann nicht nur passieren, weil ich Mist gebaut habe, sondern weil das System fehleranfällig ist. Für sehr viele Chinesen ist aber der Umstand, einen Fehler zu machen bzw. einräumen zu müssen, vor dem Hintergrund des Legalismus – einer althergebrachten Form der Rechtsprechung, die harsche Strafen für kleinste Fehler vorsieht – absolut verheerend: Fehler sind tabu. Macht ein Mitarbeiter einen, so muss er z.B. tausendmal schreiben, warum er den Fehler gemacht hat und was er tun wird, damit er nicht nochmal passiert. War es ein größerer Fehler, so muss auch dessen Vorgesetzter die gleiche Strafe verrichten. So etwas hat natürlich großen Einfluss auf das Verhalten, weshalb der Aufbau einer westlichen Fehlerkultur im Sinne eines Erfahrungsprozesses sehr langwierig ist und behutsam angegangen werden muss.
Man kann zwar nicht sagen, diese Kultur ist gut und jene ist schlecht. Aber das ist wirklich nicht zielführend. Nur ist ein solches Verhalten bei vielen Chinesen wirklich ganz tief verankert. Ich habe einmal eine chinesische Managerin in Deutschland gecoacht. Sie hat hier studiert, spricht perfekt Deutsch, ist hier verheiratet, hat einen deutschen Pass und lebt hier seit vielen Jahren. Zum Erstgespräch kam sie mit ihrem Chef, einem Deutschen – was natürlich in Ordnung ist und nicht außergewöhnlich, Stichwort Trialog. Während des Gesprächs redete der Chef sehr viel, die Klientin sprach auffallend wenig und verhielt sich geradezu schüchtern. Hätte er sie nicht direkt angesprochen, hätte sie wohl gar nichts gesagt. Sie verfiel in das traditionelle chinesische Verhaltensmuster, trotz ihrer langen beruflichen Sozialisation in Deutschland. Nachher, unter vier Augen, habe ich das angesprochen und sie meinte, ihr sei das vollkommen bewusst, sie könne aber nicht aus ihrer kulturellen Haut schlüpfen oder sich einfach eine zweite Haut zulegen. In einem solchen Coaching-Prozess gilt es, das Eigene im Fremden zu entdecken, es für sich nutzbar zu machen: Es geht nicht darum, eine „Haut“ zugunsten der anderen abzulegen, sondern diese durchlässig zu machen. Haut und Kultur sind etwas lebendiges, sich wandelndes.